Jetzt erst recht!

Mit dem Verbot der Großdemonstration am 29. August in Berlin tritt das Recht auf friedlichen Widerstand in Kraft, meint Jan Schulz-Weiling.

Mit dem Verbot der Demonstrationen um den 29. August legt der Berliner Senat sein verschrobenes Demokratieverständnis offen. Das Grundgesetz ist nicht verhandelbar. So sieht es sicherlich auch der Bundespräsident wie im Geleitwort des Grundgesetzes deutlich wird. Wir kommen trotzdem nach Berlin — und zwar friedlich! Dabei hilft uns vielleicht die unsterbliche Botschaft der Liebe und der bedingungslosen Gewaltfreiheit des schwarzen Bürgerrechtlers Martin Luther King jr.

Eine Pressemitteilung des Berliner Senats vom 26. August 2020 besagt, dass die angemeldeten Demonstrationen und Versammlungen „Berlin invites Europe — Fest für Freiheit und Frieden“ am 29. August 2020 sowie die Dauermahnwache vom 30. August bis 14. September 2020 nebst weiterer Versammlungen abgesagt worden seien. Aktuell wird der Rechtsweg beschritten. In einer Pressemitteilung von Querdenken-711 heißt es:

„Wir gehen juristisch gegen die Entscheidung des Innensenators vor und gehen davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht diesen feindlichen Angriff auf das Grundgesetz zurückweisen wird.“

Weiter heißt es, dass Michael Ballweg schockiert über das Verbot der Versammlungen sei: „Meine Befürchtung im April 2020, dass im Rahmen der Pandemie die Grundrechte nicht nur temporär eingeschränkt werden, hat sich bestätigt.“

Zum Entstehungszeitpunkt des Artikels ist nicht klar, wie die Gerichte urteilen werden. Es erscheint jedoch wahrscheinlich, dass die Richter dieser ideologisch motivierten Willkür widersprechen werden. Das Versammlungsrecht ist keine Gunst, die einem der Staat in bester Gutsherrenmanier großzügig zugesteht, sondern ein verbrieftes Recht. Sollte das Gericht wider Erwarten die Entscheidung des Berliner Senats nicht kippen, muss man sich die Frage stellen, wie weit wir noch von einem eventuell legitimen Gebrauch des Widerstandrechts entfernt wären.

Artikel 20 — Grundgesetz

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

In einer Demokratie ist die Versammlungsfreiheit ein fundamentales Grundrecht und darf nicht ohne weiteres aus einer Laune heraus eingeschränkt werden. Eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ liegt nach Daten des Robert Koch-Instituts nicht vor. Die angeführten Gründe zur Absage der Veranstaltungen sind fadenscheinig, da nachweislich keine der Großdemonstrationen der vergangenen Monate zu gesteigerten Infektionszahlen geführt hat.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schreibt in seinem Geleitwort zum Grundgesetz:

„Im Mittelpunkt unseres demokratischen Staates steht der Mensch. Er ist Bezugspunkt allen staatlichen Handelns in unserem Gemeinwesen. Die Entscheidung, ihn in das Zentrum unserer staatlichen Ordnung und der demokratischen Kultur zu stellen, trifft unser Grundgesetz in einer beachtlichen Klarheit. Nach den leidvollen Erfahrungen der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft, die den Entstehungsprozess unseres Grundgesetzes maßgeblich beeinflussten, ist es jeder einzelne Mensch, der mit seiner Würde und seinem Freiheitsanspruch im Zentrum der staatlichen Ordnung steht. Er ist es, den das Grundgesetz schützt, den es aber auch zu Teilhabe am demokratischen Leben unseres Staates berechtigt und ermutigt. […]

Wer die grundrechtlichen Absicherungen im Rücken hat, der kann sich ohne Furcht und voller Vertrauen engagieren und so die demokratische Ordnung beeinflussen. Unser Grundgesetz baut darauf: ‚Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.‘ […] Das Grundgesetz und seine Auslegung, die es in vielen Jahrzehnten durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erfahren hat, machen es heute zu einer der stabilsten Verfassungen überhaupt. Sorgen wir dafür, dass es so bleibt! Das geht nur im Wege des bürgerschaftlichen Engagements. Jeder Staatsbürger ist ermächtigt, daran teilzuhaben. Aber er muss aus sich selbst die Kraft schöpfen, diese Chance zum Wohle aller auch zu nutzen. Mit der Lektüre des Grundgesetzes fängt dies an. Mit dem Mitwirken geht es weiter.“

Lieber Frank-Walter Steinmeier, wir nehmen Sie beim Wort.

Ich möchte schließen mit einer zeitgenössischen Abwandlung der unsterblichen Worte des Bürgerrechtlers Martin Luther King jr. über die bedingungslose Philosophie der Gewaltfreiheit.

„[…] Gewaltfreiheit ist die mächtigste Waffe, die den unterdrückten Menschen in ihrem Bestreben nach Freiheit und menschlicher Würde zur Verfügung steht. Sie schafft es, den Gegner zu entwaffnen. Sie enttarnt seine moralischen Einwände als das, was sie sind, und schwächt seine Moral. Gleichzeitig nagt sie an seinem Gewissen und er weiß einfach nicht, wie er damit umgehen soll. […] Auf lange Sicht und aus einer historischen Perspektive können zerstörerische Mittel keine konstruktiven Ziele erreichen. So gelangt man zu der wachsenden Erkenntnis, dass es möglich ist, sich einem ungerechten und bösen System entgegenzustellen, ohne dabei Hass und Bitterkeit gegenüber den Verursachern dieses ungerechten und bösen Systems zu entwickeln. Wenn Gewaltfreiheit also wahr und als aufrichtiges Gebot verstanden wird, dann hat die Ethik der Liebe darin einen Platz und zwar einen zentralen. […]

Es ist möglich die Person zu lieben, die etwas Böses tut, während man gleichzeitig die Tat hasst, die die Person begeht. […] So gelangt man an den Punkt, an dem es einem gelingt seinem schlimmsten Unterdrücker ins Gesicht zu sehen und zu sagen: Tu mit uns, was du willst, und wir werden dich dennoch lieben. Wir werden deiner Fähigkeit, Leid zu erzeugen, mit unserer Fähigkeit, Leid zu ertragen, antworten. Wir begegnen deiner physischen Kraft mit Seelenkraft. Wir können nicht ruhigen Gewissens deine ungerechten Gesetze akzeptieren, denn das Nicht-kooperieren mit dem Bösen ist genauso eine moralische Verpflichtung wie das Kooperieren mit dem Guten.“

Bedroh unsere Kinder und zwing sie dazu, Masken zu tragen, und wir werden dich dennoch lieben. Beleidige und diffamiere uns und grenze uns aus, und wir werden dich dennoch lieben. Verbiete unsere friedlichen Versammlungen und verweigere uns Wasser und Würde, und wir werden dich dennoch lieben. Trag uns weg und gängle uns mit Bußgeldbescheiden, und wir werden dich dennoch lieben. Deklariere unsere medizinischen Fakten als Meinungen und sprich uns unsere Urteilsfähigkeit ab, und wir werden dich dennoch lieben. Bring unsere Freunde und Verwandten gegen uns auf und spalte uns von unseren Liebsten, und wir werden dich dennoch lieben.

„Aber sei dir sicher, dass wir dich mit unserer Leidensfähigkeit zermürben werden. Und eines Tages werden wir unsere Freiheit erringen, und zwar nicht nur für uns. Wir werden so sehr an dein Herz und dein Gewissen appellieren, dass wir auch dich in diesem Prozess gewinnen werden. Und unser Sieg wird ein doppelter sein. Dies ist die Bedeutung der gewaltfreien Überzeugung. Dies ist die Bedeutung der gewaltfreien Philosophie.“

Die aufrecht gehenden und mündigen Staatsbürger, die für das Grundgesetz einstehen, sind keine Opfer. Genausowenig wie die schwarzen Bürgerrechtler, die vor über einem halben Jahrhundert mit Martin Luther King jr. auf die Straße gingen. Eine Handlung, die aus Überzeugung heraus, großen Widerständen gegenüber getätigt wird, lässt eine Viktimisierung nicht zu. Auch haben die friedlichen Demonstranten in Deutschland von der „besten Polizei der Welt“, so Kriminalhauptkommissar Michael Fritsch, der die Querdenken-Bewegung unterstützt, keinen Einsatz von Knüppeln zu befürchten.

Der Berliner Innensenator Andreas Geisel gab zum Abschluss der Pressemitteilung noch zu Protokoll, der Staat lasse sich nicht an der Nase herumführen. Dazu bleibt nur zu bemerken: der Souverän in diesem Land auch nicht. Bis den Forderungen der „Querdenker“ nach einer umfangreichen Diskursöffnung und Neubewertung unter Zugrundelegung der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse nachgekommen wird, kann die Stadt Berlin davon ausgehen, viele neue Dauerbesucher auf ihren Grünflächen in der Nähe des Kanzleramts willkommen zu heißen. Notfalls eben wieder mit dem Grundgesetz in der Hand wie im April.


Quellen und Anmerkungen:

https://www.iwu.edu/mlk/page-5.html