Jenseits von oben und unten
Es gab in der Vergangenheit hierarchiefreie Gesellschaften. Vieles spricht dafür, dass sie auch in Zukunft das menschliche Zusammenleben prägen könnten. Teil 1 von 2.
„Der Ober sticht den Unter.“ Dies wird meist als völlig natürlich, ja unvermeidlich wahrgenommen. Jemanden muss es geben, der anschafft — die anderen haben sich unterzuordnen. Aber folgen Hierarchien wirklich einem Naturgesetz oder handelt es sich eher um eine historisch bedingte und somit vorübergehende Phase in der Entwicklung der Weltgesellschaft? Ist die These, dass es überall Macht und Unterwerfung geben müsse, nur eine im Eigeninteresse aufgestellte Behauptung von Mächtigen, die von manipulierten Ohnmächtigen über Jahrhunderte gestützt wurde? Anders gesprochen: Könnten wir das Prinzip Hierarchie auch wieder loswerden? Es ist offensichtlich, dass ein Irrweg, auch wenn man ihn schon sehr lange gegangen ist, einmal ein Ende haben kann. Um überhaupt eine Vorstellung davon zu vermitteln, dass es Alternativen zum Herrschen und Beherrschtwerden gibt, hat der Autor Gesellschaften untersucht, die basisdemokratisch und ohne feste Hierarchien organisiert waren oder sind. Einige davon entstammen prähistorischen Zeiten, andere existieren eher versteckt in außereuropäischen Regionen der Welt. Eine wichtige Rolle dabei spielen Frauen.
Im Zuge der Coronakrise ab Anfang 2020, doch eigentlich schon weitaus früher, zeichnete sich ab, dass die Gesellschaftsform der sogenannten westlichen Gemeinschaft nicht dem entspricht, was immer suggeriert wird. Die Menschen werden und wurden überflutet mit Mantren, Dogmen, Narrativen, Konzepten, die bei tieferer Betrachtung nicht dem Kern der Sache entsprechen. Fast einem Wahn gleich wurde und wird immer wieder der Kampf für Demokratie heraufbeschwört, dass es eine Zeitenwende geben muss, dass die nie explizit definierten sogenannten westlichen Werte die allumfassende unhinterfragbare Doktrin darstellen sollen. Doch wenn man versucht, sich dieser massiven Form der Propaganda, der Tiefenindoktrination, der mentalen Programmierung zu entziehen und sich auf eine Meta-Ebene zu begeben, dann erkennt man, wie tief hierarchisch, wie tief antidemokratisch und wie tief sozial ungerecht unsere Gesellschaftsformen gerade im Westen sind. Das hat der englische Schriftsteller Edwin A. Abbott vortrefflich in seinem Roman „Flatland. A Romance of Many Dimensions“ skizziert (1). Angesichts dieser Zustandsbeschreibung stellen sich mehr als nur eine von vielen zwingenden Fragen.
Wenn unsere Gesellschaftsform nur dem Anschein nach einer Demokratie entspricht, was ist dann deren wahrer Kern? Wenn dieses jetzige System stark auf hierarchischen Prinzipien aufgebaut ist, etwas was sozialwissenschaftlich als patriarchales System bezeichnet wird, gibt es auch Gesellschaftsformen, die hierarchiefrei strukturiert sind? Gab und gibt es solche hierarchiefreien Strukturen in der Menschheitsgeschichte und wäre dies ein Alternativmodell zum jetzigen System? Sind die Prinzipien Demokratie, Gleichwertigkeit, Egalität nicht eher eine Eigenheit hierarchiefreier Systeme? Wenn es solche Systeme ohne Hierarchien auf der ganzen Welt schon früher gab, lassen sich Echos und Nachwirkungen noch heute aufzeigen?
Der Artikel wird diesen Fragen auf den Grund gehen in der Hoffnung, so Anreize zu schaffen, sich neue Konzeptionen des menschlichen Zusammenlebens zu erschließen, in den Bereich des Möglichen zu bringen und vor allem sich diese Konzeptionen als durchaus real und umsetzbar vorstellen zu können.
Die Meta-Ebene unserer Betrachtungsweise — „Flatland“ und „Body Ritual of the Nacirema“
Eine tiefere Betrachtung unserer Gesellschaftsformen erweist sich mitunter als schwierig, da viele Wissenschaftler und Analysten, die dies versuchen, selbst Teil dieses Systems sind und in diesem sozialisiert und indoktriniert wurden. Dennoch gibt es in der Literatur und den Sozialwissenschaften gute Ansätze, Bücher und Romane, deren Autoren den Schritt unternehmen, unser jetziges System von einer Meta-Ebene aus zu betrachten. Als historische Beispiele seien da „Gullivers Reisen“ von Jonathan Swift erwähnt oder der oben genannte Roman „Flatland“ von Edwin A. Abbott. Abbott, der selber auch Mathematiklehrer war, brachte in dem Roman „Flatland“ geometrische Vorstellungen sehr gut zum Ausdruck und verband diese geometrischen Konzeptionen mit einer Kritik am hierarchischen System des Viktorianischen Englands seiner Zeit.
Ein weiterer Versuch einer kritischen Betrachtung unserer Gesellschaft gelang dem Anthropologen Horace Miner mit dem Artikel „Body Ritual of the Nacirema“ von 1956 (2). Darin beschreibt Miner mittels damaliger Techniken der Sozialwissenschaften ein gar merkwürdiges Volk in Nordamerika, das zwischen verschiedenen indigenen Gruppen lebt, das nach bedeutenden Narrativen lebt und das bizarren Ritualen frönt. Wer diesen Text liest, wird sich wundern, welches ungewöhnliche Volk der Anthropologe da beschreibt. Dazu ist es sehr erhellend, den Namen des Volkes rückwärts zu lesen, wie aus Nacirema das Wort American wird! Horace Miner beschreibt also mit Mitteln der Sozialwissenschaften, der Anthropologie, der Ethnologie somit unsere eigene Gesellschaft, die aber durch die Verfremdung und durch Verwendung von Palindromen merkwürdig und teilweise bizarr erscheint. Man stelle sich vor, eine Ethnie der australischen Aborigines oder ein Volksstamm der Khoisan würde uns wissenschaftlich beschreiben. Würden wir uns da auch selbst erkennen, wenn wir so den Spiegel vorgehalten bekommen würden?
In dem Zusammenhang soll auf einen aktuellen Artikel der Neuen Zürcher Zeitung verwiesen werden, der sehr gut untermalt, was Horace Miner in „Body Ritual of the Nacirema“ ausdrücken wollte (3). In dem Artikel vom 30. Juli 2024 wird der Soziologe Khaled Hakami interviewt, der das Jäger- und Sammlervolk der Maniq in Thailand erforschte und die Ergebnisse seiner Forschung somit wiedergab. Erhellend ist schon allein die Einleitung zum Interview, die einen direkten Bezug zu den Nacirema beziehungsweise zu den American herstellt:
„Khaled Hakami erforscht Jäger-und-Sammler-Gesellschaften, auch die Maniq in Thailand. Sie kennen keinen Besitz, keinen Wettstreit, keine Anführer und keine andere Zeit als das Jetzt. Hakami lernte dabei auch: Nicht die Maniq sind seltsam, sondern wir.“
Im Interview stellt Hakami die Maniq als eine Ethnie vor, die ohne Hierarchie, ohne soziale, politische und ökonomische Unterschiede, ohne Gewalt, ohne Anführer, ohne Eigentum und ohne Leistungsgedanken auskommt.
In seiner Überlegung am Schluss des Textes, fragt er sich, welche maximale Größe solche hierarchiefreien Gesellschaften haben können und begrenzt sie auf maximal 150 Personen. Er schreibt dazu:
„Diese Art von Gesellschaft — ohne Hierarchie, ohne Eigentum, ohne Anführer, ohne Leistungsgedanken — funktioniert nachweislich nur in Gruppengrößen von höchstens 150 Menschen. Danach ist Schluss, und eine größere Gesellschaft ist nicht mehr in dieser Weise egalitär zu organisieren. Außerdem wäre das Leben dort für uns schwierig, weil wir aufgrund unserer Weird-Erziehung bestimmte Dinge sehr schätzen, die dort fehlen.“
An der Frage, ob hierarchiefreie Gesellschaften nur auf wenige Dutzend Personen beschränkt sein können, scheiden sich die Geister in den Sozialwissenschaften. Gerade in Bezug zur Forschung über Matriarchate, also zu einer hierarchiefreien, basisdemokratischen Gesellschaft, vertreten einige Forscher, unter anderem Marija Gimbutas, Heide Göttner-Abendroth, die Vorstellung, dass hierarchiefreie Gesellschaften der Grundtypus einer Gesellschaft in der Entwicklung der Menschen waren. Und dass nach und nach diese Matriarchate ersetzt, assimiliert und bekämpft wurden durch Strukturen, die stark auf Hierarchie, Ausbeutung, Unterwerfung und Anwendung mannigfaltiger Formen von Gewalt ausgelegt waren. Weiterhin legen Forschungen und Analysen zu Matriarchaten auf der ganzen Welt zu allen Zeitepochen den Schluss nahe, dass auch sehr große Ethnien und Bevölkerungen fähig sind und waren, sich hierarchiefrei und basisdemokratisch zu organisieren.
Sheldon Wolins umgekehrter Totalitarismus und die Re-Feudalisierung unserer Gesellschaft
Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Sheldon S. Wolin veröffentlichte 2008 sein Buch mit dem Titel „Democracy Incorporated: Managed Democracy and the Specter of Inverted Totalitarianism“, welches 2022 auch in Deutsch mit einem Vorwort von Rainer Mausfeld erschien (5, 6, 7). Wolin sah die Demokratie in den USA nur noch als „Markenname für ein Produkt, das zu Hause kontrollierbar und im Ausland vermarktbar ist“. Er fragte sich sogar, ob es sich bei der Verwendung des Begriffs „Demokratie“ lediglich noch um „eine zynische Geste“ handle, „mit der eine zutiefst manipulative Politik getarnt werden soll“ (4).
Der Begriff Demokratie wurde seiner ursprünglichen Bedeutung beraubt und fungiert somit nur noch als eine Art Surrogat, als Demokratiesimulation.
Als wichtiges Wesensmerkmal einer Demokratie kann die verstärkte Teilhabe an Entscheidungsprozessen angesehen werden, die jedoch im umgekehrten Totalitarismus aufgehoben ist. Die fast schon fundamentalistisch anmutende Verwendung des Begriffs Demokratie dient laut Wolin eher dazu, die Demokratie zu entkernen und ihrer ursprünglichen Bedeutung zu entziehen. Daraus ergibt sich zwingend die Frage: Wenn unser System heute keine Demokratie im eigentlichen Sinne darstellt, welches gesellschaftliche Konzept entspricht dann eher unserer heutigen Situation? Die Demokratietheoretikerin Ingeborg Maus sieht in unserem heutigen Zustand eine Form der Re-Feudalisierung, also das Herausbilden und Verfestigen eines auf alten Feudalstrukturen beharrenden Prinzips. In einem Artikel zu ihrem Buch „Über Volkssouveränität — Elemente einer Demokratietheorie“ heißt es dazu wie folgt:
„Sie beschreibt diesen schleichenden Prozess als „Refeudalisierung“: Die formalen Verfahren der Demokratie bleiben leer, weil das Medium, in dem sie sich artikulieren, nämlich das Recht, leer bleibt. Beschlüsse werden, so Maus, nur als „Gesetzesattrappen“ gefasst, die Füllung dieser Attrappen obliegt den anwendenden Instanzen oder, ebenso gravierend, den Betroffenen selbst. Maus gewinnt diese Diagnose aus ihren Untersuchungen zur Entformalisierung des Rechts, einer Tendenz nicht erst des 21. Jahrhunderts, sondern des modernen Kapitalismus.“ (8)
Angesichts derartiger Analysen, die ein verheerendes Bild unserer Gesellschaft zeichnen, wirft dies umso mehr die Fragen auf: Inwieweit gibt beziehungsweise gab es alternative Gesellschaftsformen, die nicht hierarchisch und somit nicht ausbeuterisch geprägt sind beziehungsweise waren? Welche Eigenschaften haben solche hierarchiefreien Gesellschaften? Wie lassen sich diese historisch und aktuell aufzeigen und was hat die Demokratie im ursprünglichen Sinne mit hierarchiefreien Gesellschaften zu tun? Das führt zu dem im vorigen Kapitel erwähnten Begriff, einem Konzept aus den Sozialwissenschaften, was Matriarchat beziehungsweise matriarchale Gesellschaft genannt wird.
Patriarchat versus Matriarchat — hierarchisch versus hierarchiefrei
Wie bei vielen Dingen aus den Sozialwissenschaften ranken sich Mythen um diese Begriffe, es existieren Vorurteile und viele Menschen lehnen gänzlich ab, sich damit überhaupt auseinandersetzen zu müssen. Einer dieser Begriffe und Konzepte ist die Vorstellung eines Matriarchats als Gesellschaftsform.
Die Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth gibt eindrücklich zu bedenken, dass das Matriarchat nicht spiegelbildlich zum Patriarchat gesehen werden kann. Ein Matriarchat bedeutet somit nicht, dass nun die Frauen Herrschaft über alle ausüben können.
Im Folgenden sollen einige Passagen helfen, sich ein objektives Bild über matriarchale Strukturen zu schaffen:
„Matriarchate sind nicht die spiegelbildliche Umkehrung von Patriarchaten, indem dort Frauen über Männer herrschen — wie es das gängige Vorurteil will. Matriarchate sind stattdessen mutter-zentrierte Gesellschaften, und sie bauen auf mütterlichen Werten auf: Pflegen, Nähren, Fürsorge, Friedenssicherung, das heißt Mütterlichkeit im weitesten Sinne. Diese Werte gelten für alle, für Mütter und Nicht-Mütter, für Frauen und Männer gleichermaßen.
In matriarchalen Gesellschaften meint „Gleichheit“ nicht das Gleichmachen von Unterschieden. Natürliche Unterschiede, die zwischen den Geschlechtern und Generationen bestehen, werden respektiert und geehrt, aber sie werden nicht benutzt, um Hierarchien zu schaffen (egalitäre Gesellschaft).
Das kann auf allen Ebenen der Gesellschaft beobachtet werden:
Auf der ökonomischen Ebene haben Matriarchate Subsistenzwirtschaft mit lokaler oder regionaler Unabhängigkeit. Land und Häuser sind Eigentum des Clans im Sinne von Nutzungsrecht; Privatbesitz und territoriale Ansprüche sind unbekannt. Die Frauen haben die wesentlichen Lebensgüter in den Händen: Felder, Häuser, Nahrungsmittel. Die Sippenmutter verwaltet die Güter und verteilt sie gleichmäßig an die Clanmitglieder.
Das Ideal ist Verteilung und nicht Akkumulation. Vorteile und Nachteile beim Erwerb von Gütern werden bei den zahlreichen Festen ausgeglichen. So laden wohlhabende Clans bei einem Fest das ganze Dorf/Stadtviertel ein, und beim nächsten Fest ist ein anderer wohlhabender Clan an der Reihe. Durch diese Ökonomie des Schenkens sind die Güter in lebhaftem Kreislauf und werden nicht einseitig gehortet. Das geschieht in perfekter Gegenseitigkeit und gleicht die Ökonomie aus: Matriarchate als ökonomische Ausgleichsgesellschaften.
Auf der politischen Ebene fallen Entscheidungen nur durch Konsens, das heißt einstimmig. Die Konsensfindung beginnt als Beratung in den einzelnen Clanhäusern und wird je nach Bedarf auf der Dorfebene oder regionalen Ebene weitergeführt.
Bei einer Entscheidung, die das ganze Dorf angeht, treffen sich gewählte Sprecher der einzelnen Clanhäuser (Delegierte) im Dorfrat. Sie fällen keine Entscheidungen, sondern tauschen nur miteinander aus, was in den einzelnen Clanhäusern beschlossen wurde. Sie gehen als diese Informationsträger so lange zwischen Clanrat und Dorfrat hin und her, bis alle Clanhäuser den Konsens gefunden haben.
Dasselbe gilt auch auf regionaler Ebene: Hier werden die Entscheidungen der Clanhäuser aller Dörfer und Städte von gewählten Sprechern im regionalen Rat koordiniert, bis die Region Einstimmigkeit zu einem Problem gefunden hat. Dieses System von Räten funktioniert daher „basisdemokratisch“ und zeigt Matriarchate als egalitäre Konsensgesellschaften.“ (9)(12)(13)(14)
Anhand dieser Passagen fallen einem sofort Dinge auf, die man schmerzlich in unserer heutigen Zeit vermisst. Ein wesentlicher Punkt hierbei ist aus ökonomischer Sicht das Prinzip des Schenkens und somit eine ökonomische Ausgleichsgesellschaft und die wichtigen sozialen Prinzipien der Pflege, Fürsorge und Friedenssicherung. In dem Zusammenhang muss hier auf die großen Probleme rund um die Care-Arbeit verwiesen werden. Frauen und auch Männer leisten enorme wichtige Arbeit hinsichtlich der Erziehung von Kindern, in der Pflege von Angehörigen oder in anderen ehrenamtlichen Tätigkeiten. Diese sehr wichtigen Arbeiten werden heute vielfach als selbstverständlich angenommen, werden aber in der Gesellschaft soweit es geht unsichtbar gemacht und unsichtbar gehalten.
Da diese Arbeit einer Art Schenkeökonomie entspricht — Mütter aber auch alleinerziehende Väter leisten bei ihren Kindern viele Jahre dieser unentgeltlichen Arbeit — wird diesen wichtigen Tätigkeiten der Gegenwert entzogen und zu jenen Personen transferiert und akkumuliert, die diese Tätigkeiten nicht ausüben. Es führt weiterhin zu dem Konzept der Lohnarbeit, die ein hierarchisches Prinzip kapitalistischer Strukturen ist. Dazu sei auf ein Interview von Rainer Mausfeld zum Thema Grundeinkommen und Lohnarbeit verwiesen. Hier eine transkribierte, leicht gekürzte Passage daraus:
„Der Kapitalismus überführt aber Arbeit in Lohnarbeit und Lohnarbeit heißt gerade Dienst am fremden Eigentum. Ich arbeite für das Eigentum eines Anderen. Das heißt aber, ich unterwerfe mich den Bedingungen des Kapitals für die Kapitalakkumulation. Das erzeugt Angst, weil jetzt plötzlich meine Existenz, ob ich mich morgen noch ernähren kann, davon abhängt, ob ich Lohnarbeit ergattere. Lohnarbeit ist also etwas völlig Unmenschliches, etwas was strukturell schon massiv Angst erzeugt. Kapitalismus produziert Angst, Angst gehört zum Kapitalismus als sozusagen inneres Wesen. Also ist die Frage: können wir uns von Lohnarbeit befreien? Es heißt ja nicht, sich von Arbeit zu befreien, denn wir müssen uns klarmachen, dass der vermutlich überwiegende Teil der in unserer Gesellschaft geleisteten Arbeit keine Lohnarbeit ist. Frauen, die zuhause sind, machen keine Lohnarbeit, leisten aber einen ganz wesentlichen Beitrag zu unserer Gesellschaft. Leute, die ehrenamtlich bei der Feuerwehr arbeiten, ehrenamtlich Angehörige pflegen.
Das heißt, es gibt einen Riesenanteil, der ganz essentiell ist für den Erfolg unserer Gesellschaft, der nicht zählt. Er ist ja keine Lohnarbeit, und dann sagt man, das andere ist ja auch keine Arbeit, die tun ja nix. Wer keine Lohnarbeit hat, das ist ja auch eine witzige Sprachmanipulation, man nennt dann die, die keinen Lohn erhalten, nennt man Arbeitslose. Die sind nicht arbeitslos, die sind einkommenslos. (...) Arbeit wird nur ernstgenommen, wenn sie Lohnarbeit ist. Wenn jemand ehrenamtlich Kranke pflegt, dann ist es keine Arbeit, und der soziale Status in der Gesellschaft hängt von der Qualität der Lohnarbeit ab, nicht wie jemand sich engagiert und zum Wohle der Gemeinschaft beiträgt durch alle möglichen Arten von Arbeit. Der eine ist Sekretärin, der andere ist Friedhofsgärtner und der dritte ist irgendwo Abteilungsleiter bei Aldi. Wir haben eine Wertungshierarchie, Lohnarbeit ist vom Wesen her extrem hierarchisch und der Wert, den jemand hat als Mensch in dieser Gesellschaft, das ist auch pervers, hängt davon ab, wie seine Lohnarbeit bewertet wird und wenn er keine Lohnarbeit hat, ist er arbeitslos und damit nach Macron Nichts! Das ist ein völlig unmenschliches System und ein völlig unmenschliches System der Bewertung von Arbeit.“ (10)
Gerade in den letzten Passagen im Fall der Lohnarbeit zeigt Rainer Mausfeld sehr gut auf, wie stark hierarchisch unsere Gesellschaft geprägt ist und dass diese Hierarchien für die meisten kaum sichtbar und somit tief verwurzelt sind.
Alleine das Kapitel der Care-Arbeit, der ehrenamtlichen Tätigkeiten, also Arbeit ohne Lohn oder Entgelt, zeigt mehr als deutlich auf, dass wesentliche Teile der Arbeiten zum Wohl der Gemeinschaft unsichtbar sind, bewusst klein gehalten werden und dass der eigentliche Gegenwert dieser Arbeiten abgeschöpft und somit von unten nach oben transferiert wird.
Denn hier muss man sich zwingend folgende Frage stellen: Wie stände es um unsere Gesellschaft, wenn es diese Care-Arbeit, diese ehrenamtlichen Tätigkeiten, die Pflegearbeit und viele andere wichtige Arbeiten nicht gäbe? Diese Arbeiten, die hier gerade zusammengefasst wurden, entsprechen in der matriarchalen Forschung dem, was man dort Schenkeökonomie nennt! Und daraus schlussfolgernd schließen sich weitere wichtige Fragen an: Warum werden derartige Arbeiten und Tätigkeiten in unserer patriarchal-hierarchischen Gesellschaft, unserem angeblich so aufgeklärten und demokratischen System so geringgeschätzt, teilweise herabgewürdigt, unsichtbar gemacht, Tätigkeiten wie das Erziehen von Kindern durch Mütter, alleinerziehende Frauen und Männer?
Zudem stellt sich die Frage: Wie ist in unserem hierarchisch-patriarchalen System so etwas überhaupt möglich? Konterkariert dies nicht den Gedanken von Solidarität, Gemeinschaftssinn, Geschlechtersymmetrie und somit auch den Gedanken einer demokratischen Struktur extrem und stellt somit unser System infrage? Wenn derartige Phänomene unserem auf Hierarchie und somit auf asymmetrischer Abschöpfung von Gemeinwohlarbeit, einem auf Ausbeutung basierenden System innewohnen, wie sieht dann die Situation in hierarchiefreien Gesellschaften aus?
Gab es historisch je solche Formen von Strukturen, die man in den Sozialwissenschaften als Matriarchat bezeichnet? Wenn es diese Gesellschaften historisch gab und auch gibt, kommen diese Struktur auf allen Kontinenten vor? Und warum verschwanden solche hierarchiefreien, basisdemokratischen Strukturen immer wieder? Etwa durch das Vordringen und die Assimilation hierarchischer, patriarchaler Gesellschaften? Wenn dem so ist, lassen sich Elemente und Echos alter untergegangener matriarchaler Strukturen auch heute noch in unserer Kultur ausmachen?