Jenseits der Klischees

Ostdeutschland wird oft nur durch die Brille von Vorurteilen und Stereotypen betrachtet.

Ostdeutschland oder „Dunkeldeutschland“, wie der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck es prominent nannte, ist eine in Westdeutschland unverstandene Region der Bundesrepublik. Das Gebiet der ehemaligen DDR sei, so lautet häufig der Vorwurf, auch nach 35 Jahren noch nicht wirklich in der hiesigen Demokratie angekommen. Mehr noch werden die Ostdeutschen zu einer Gefahr für dieses „Erfolgsmodell“ erklärt — weil sie sich einfach immer wieder verwählen und ihr Hakenkreuz bei der falschen Partei setzen. Doch was steckt hinter diesen langweiligen, arroganten Klischees? Wie war die DDR, und wie ist Ostdeutschland heute wirklich? Ein Podcast begibt sich auf die Suche nach den Geschichten der dortigen Menschen. Ein Beitrag zum Ost-und-West-Spezial.

Wer an die DDR denkt, der hat, zumindest wenn er im Westen geboren und aufgewachsen ist, vor allem graue Bilder von Mauern, Plattenbauten, Armut und Schmutz im Sinn. Der DDR-Bürger war ein notorisch unzufriedener Mensch, immer schon fast auf dem Weg in das gelobte Westdeutschland. Wenn, ja wenn nicht Mauer und Stasi gewesen wären, um ihn in seiner kleinen Republik gefangen zu halten, die selbstverständlich nur die zweite Diktatur auf deutschem Boden darstellt.

Der Ossi ist daher auch heute, Jahre später, noch nicht an die Demokratie gewöhnt. In seiner Sehnsucht nach Autoritarismus, einer starken Hand, die ihm zeigt, wo es langgeht, wählt er lieber die rechtsextreme AfD, um sich wieder in einer neuen Diktatur heimisch fühlen zu können. Denn der Ossi, so weiß man, ist in der Demokratie nie richtig angekommen, er hat nicht verstanden, dass Demokratie bedeutet, dass manche Parteien einfach nicht gewählt werden dürfen.

So in etwa geht die widersprüchliche Geschichte, in welcher der Ossi einerseits das gelobte Land der westlichen Demokratie erreichen will, mit diesem andererseits unzufrieden ist und es so schnell wie möglich wieder in eine heimelige, ostdeutsche Diktatur zu verwandeln trachtet. Der Ossi — ein Mensch voller Widersprüchlichkeiten, der noch nicht den Weg vom Sächsischen ins Hochdeutsche gefunden hat, offen ausländerfeindlich ist und ein virulentes Naziproblem hat. Abgehängt, mit der Komplexität der modernen Welt überfordert, sehnt er sich zurück in seine bequeme Diktatur, in welcher die Verhältnisse noch so schön einfach waren.

Wohin man auch blickt, die Erzählungen über die DDR und das heutige Ostdeutschland begnügen sich mit zu Klischees verkommenen Vorurteilen. Das an sich ist nicht das Problem — nichts geht über ein gutes Klischee. Das Problem entsteht, wenn das Klischee mit der Wirklichkeit verwechselt wird und man zu glauben beginnt, dass der Ostdeutsche tatsächlich so sei wie dargestellt. Leider sieht die mediale und politische Debatte aktuell tatsächlich so aus. So wird der Ossi zum neuen Hassobjekt, zur Gefahr für die Demokratie, weil er notorischer AfD-Wähler ist, Russlandfreund und Putinversteher noch dazu, und damit seine Ablehnung unseres Erfolgsmodells Demokratie zum Ausdruck bringt. Dass es im neuen deutschen „Faeschismus“ mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht mehr so weit her ist, spielt dabei keine Rolle. Angesichts des Erstarkens der AfD in Ostdeutschland wird sogar für eine erneute Teilung Deutschlands plädiert.

All das zeugt davon, dass eine Wiedervereinigung, wie sie jedes Jahr erneut gefeiert wird, tatsächlich nie wirklich stattgefunden hat. Aus den zwei deutschen Staaten wurde zwar formal ein geeintes Land, aber die beiden Hälften haben noch nicht den Weg zueinander gefunden.

Sie bleiben zwei verschiedene Völker, mit unterschiedlichen Erfahrungen und unterschiedlicher Geschichte. Ein Grund dafür ist auch, dass der Westen, der den Osten mit der sogenannten „Wiedervereinigung“ schlicht annektiert und dann ausgeplündert hat, die Erfahrungen der Ostdeutschen nicht wahrzunehmen gewillt ist. „Ihr seid doch jetzt bei uns, im gelobten Westen, nun seid gefälligst dankbar, dass wir euch von eurer Diktatur erlöst und euch die Segnungen des Konsumkapitalismus gebracht haben.“ So ungefähr lässt sich die Einstellung der Wessis gegenüber den Ossis beschreiben. Die Ossis selber haben dabei kein Wort mitzureden, ihnen wird weder Gehör geschenkt noch haben sie eine irgendwie geartete Gestaltungsmacht.

Die meisten politischen Posten, egal ob in West oder Ost, sind von Wessis besetzt, dasselbe gilt für die öffentlich-rechtlichen Medien. Die Perspektive des Ostens, die Erfahrungen der ehemaligen DDR-Bürger, die sich teilweise bis heute von denen der Westdeutschen unterscheiden, werden weder zur Kenntnis genommen noch finden sie Berücksichtigung.

Der Siegeszug des westdeutschen Kapitalismus pflügt die gewachsene DDR-Kultur um und zerstört sie — ohne Rücksicht auf die Menschen. Wenn diese dann ihren Protest, ihren Widerspruch äußern, wird dieser im Westen lächerlich gemacht, allenfalls als Bedrohung für das eigene Wohlbefinden wahrgenommen. Diese Unzufriedenheit, die man dem Ossi attestiert, der Protest, der sich dort artikuliert, bezieht sich jedoch nicht nur auf die Erfahrungen in der DDR, sondern auch auf die sogenannte „Wende“, in der die eigene Perspektive ständig unterdrückt wurde.

Dabei — und auch das muss man immer wieder betonen — gibt es nicht „den“ Ossi. Wie hier im Westen haben sich die Erfahrungen in der DDR und im heutigen Ostdeutschland stark voneinander unterschieden. Die Menschen sind auch dort ebenso einzigartig wie hier im Westen, und so ist jede einzelne Wahrnehmung, jede einzelne Perspektive für sich genommen ebenso einzigartig. Daher gibt es auch nicht „die“ Geschichte der DDR oder Ostdeutschlands.

Es gibt so viele Geschichten, wie es DDR-Bürger gab und „Ossis“ gibt. Erst alle Geschichten zusammengenommen können ein realistisches Bild von Ostdeutschland vermitteln und so das Verständnis zwischen West und Ost fördern.

Nur auf diese Weise ist der Vollzug einer tatsächlichen Wiedervereinigung überhaupt erst möglich. Denn gegenseitiges Verständnis führt zu einer Berücksichtigung der anderen Perspektive — und damit zu einer Integration der „anderen“ Stimme, der gegenteiligen Auffassung. Der Podcast „Radio Desinformation“ auf Youtube und Odysee ist angetreten, um diesen Vorgang zu fördern. In der Reihe „Ostdeutschland verstehen“ kommen Ostdeutsche und ehemalige DDR-Bürger zu Wort, um ihre ganz eigene Geschichte vom Osten und der DDR zu erzählen. So gelangt der Zuhörer gedanklich über die Klischees von Mauer, Stasi und Mangelwirtschaft hinaus, und das eigene Bild von dieser Region gewinnt an Tiefe und Komplexität.

Letztendlich wird man feststellen können, dass der DDR-Bürger und Ostdeutsche ein Mensch wie jeder andere ist, der sich in seiner individuellen Lebenssituation eingerichtet hat — und auf Kränkungen und Arroganz entsprechend reagiert.


„Ostdeutschland verstehen“ mit Radio Desinformation