Jenseits der Illusion
Wenn wir erkennen, dass Enttäuschungen vor allem mit unseren eigenen Erwartungen zu tun haben, können sie für uns ein Schlüssel zur Freiheit sein.
Für manche waren es Prominente wie Herbert Grönemeyer, Wolfgang Niedecken oder andere Vorbilder, an die sie einst geglaubt hatten, die sich aber in der Corona-Zeit als angepasst und unaufrichtig erwiesen haben. Für andere waren es vor allem persönliche Beziehungen, die ihre Erwartungen in dieser Belastungsprobe nicht erfüllen konnten. Wenn eine Täuschung endet, ist das nicht immer unmittelbar ein Grund zur Euphorie. Vielleicht haben wir uns inzwischen an die Normalität und Omnipräsenz der Enttäuschung gewöhnt. Seit der Corona-Inszenierung, die noch lange nicht die Krönung war, scheinen alte Verlässlichkeiten in Serie zu bröckeln. Was kommt also nach der Enttäuschung: die Verzweiflung oder die Befreiung vom Irrtum? Das hängt davon ab, ob wir die Ursache der Enttäuschung innerhalb oder außerhalb von uns suchen.
Ein Staat, der immer mehr zur Bedrohung wird, anstatt seine Verantwortlichkeiten dem Volk gegenüber wahrzunehmen, stellt dafür den passenden Rahmen zur Verfügung. Werte werden auf den Kopf gestellt, das bisher Normale gewaltsam durch die Ausnahme ersetzt. Unsere gefeierten Berufsrebellen schweigen oder werden in eine Richtung laut, die allem zu widersprechen scheint, wofür sie einst standen. Die Helden, die sich durch das Medium der Kunst gegen das Primat des Establishments und der Knechtschaft durch die Mächtigen zur Wehr setzten, verwandelten sich in deren willfährige Sprachrohre.
Wolfgang Niedecken, populärer Frontmann der Kölner Gruppe BAP, war für mich lange Zeit einer dieser Helden. In seinem Song „Widderlich“ findet man folgende Zeilen:
„Wer nur Hass sät, der weiß, dass Gewalt draus entsteht. (…) in einem Ellenbogen-Land, wo man Sündenböcke schon mal verbrannt. Während ihr ohne Skrupel Grundrechte verkrüppelt, zersägt und in Talkshows auf ‚dufte‘ macht, damit das gar auffällt...“
Ja, Texte wie dieser waren es, die mich schon früh zum BAP-Fan machten. Niedecken war für mich ein intellektueller Poet. Bis der Ernstfall eintrat und er sich — im Gegensatz zu seinem eigenen Idol Bob Dylan — in die Reihen derjenigen Moralisten einreihte, für die es nur ein einziges „Richtig“ gab.
Zu einem Bild von sich mit einer Maske schreibt er 2020 auf Facebook:
„Hört mal, ihr Aluhüte, Verschwörungstheoretiker und Corona-Leugner! Damit das unmissverständlich klar ist: Ich lasse es nicht zu, dass ihr mit eurer Propaganda unsere Seite zumüllt. Schreibt auf euren Seiten, was ihr wollt, aber respektiert bitte, dass ihr bei uns nicht willkommen seid.”
Eine deutliche Aussage — und Niedecken geht noch weiter:
„Achtet mal lieber darauf, mit welchem Nazi-Pack ihr euch gemein macht. Okay!?“ (1).
Ich war auch Grönemeyer-Fan. Und auch Fan der „Toten Hosen“. Auch bei diesen Künstlern zeigte sich — wie bei vielen anderen —, dass ihre Systemkritik nur so lange währte, solange sie nicht wirklich aneckten, sondern nur ihre zulässige, guthonorierte gesellschaftliche Rolle genehmer Opposition spielen konnten.
Enttäuschungsinflation
Die Aufzählung der großen und kleinen Enttäuschungen könnte lang werden. Eine Politik, die mehr spaltet als vereint, dabei immer unkompetenter handelt, und die Frage, wessen Interessen sie eigentlich durchsetzt, Angst macht; eine Welt, die immer hysterischer wird, immer friedloser, in der die Bedrohungen anscheinend keinen realen Boden mehr zu haben brauchen.
Wenn Politik sich mehr und mehr als Autokratie entpuppt, wenn Meinung vorsortiert und vordefiniert wird und ins politische oder soziale Abseits führen kann, wenn Grundsicherheiten wie finanzielle Stabilität und Energieversorgung nicht mehr selbstverständlich sind, und ich hilflos beobachten muss, wie Menschen in Not in ausweglose Zustände gebracht werden und mein Land dadurch immer weiter destabilisiert wird, ja woher soll ich da noch meine Zuversicht nehmen? Wie lange soll ich meine Enttäuschung noch in Realsatire transformieren?
Zu Menschen, zu denen ich eine enge Bindung zu haben glaubte, existiert nach der Corona- Spaltungs-Pandemie eine tiefe Kluft, die mit Worten und Gesten kaum überbrückbar zu sein scheint. Kann eine Herzverbindung nicht mehr aushalten? Oder war sie nie echt?
Ich hatte mich getäuscht. Oder habe ich mich täuschen lassen? Wurde ich getäuscht? Oder haben sich solche Menschen in sich selbst getäuscht?
Was ist noch gewichtig in einer Welt, die mit dem eigenen Überleben kämpft? Kann ich mein eigenes, privates Dasein noch als bedeutsam empfinden?
Die andere Seite der Enttäuschung
Es ist natürlich nicht immer einfach, Enttäuschung als das Ende einer Täuschung zu erkennen und sie entsprechend sachlich zu beurteilen und konstruktiv zu behandeln.
Das gelingt erst, wenn die eigene seelische Reifung wirklich den Grad des echten Erwachsen-Seins erreicht hat. Meist stecken wir in dieser Beziehung noch vielfach buchstäblich in den Kinderschuhen. „Vater Staat“ ist oft an Stelle elterlicher Autorität getreten, von der wir uns nicht ausreichend emanzipiert haben. Vom Vater enttäuscht zu sein gehört zu den belastendsten Traumata, die wir erfahren können. Das Kind muss den Vater im absoluten Sinne für verlässlich und integer wissen, ihn als den Inbegriff von Schutz erleben, um im Leben Vertrauen lernen zu können. Das Kind kann die Werte des Vaters nicht hinterfragen; erst in der Pubertät tut es das, um sich zu geistiger Autonomie hin zu entwickeln. Geschieht das in gesundem Maße, entwickelt sich eine neue Achtung der väterlichen Position.
Verläuft dieser Prozess aber weniger ideal, verbleiben wir entweder in stiller Opposition, und damit im ständigen Autoritätskonflikt, oder wir werden unkritisch.
Beides führt unweigerlich zu immer neuen Enttäuschungen. Im ersten Falle neigen wir zu Aktionismus, der nicht an die Wurzel geht, im letzteren investieren wir unsere Energie in der Aufrechterhaltung unserer Weltsicht.
Das sind Vorgänge, die über lange Zeit unbemerkt bleiben: Wir gehen Beziehungen zu Menschen ein, von denen wir unbewusst die Bestätigung, Anerkennung und Liebe erhoffen, die wir in frühen Lebensphasen nicht bekommen haben und uns demzufolge selbst nicht geben können. Wir gründen Familien, in welchen wir hoffen, diejenige heile Welt erschaffen zu können, die uns fehlt. Wir folgen ehrgeizig beruflichen Laufbahnen, um uns selbst den eigenen Wert und die eigene Daseinsberechtigung zu beweisen.
Doch immer wieder erfahren wir Enttäuschung: Kaum eine Erfahrung vermag unsere innere Leere zu füllen, die eigentlich zutiefst nach Harmonie dürstet.
Das führt zu Resignation verschiedenster Ausprägung: Wir halten die Welt oder die Natur des Menschen grundsätzlich für nicht wirklich liebesfähig Wir gehen voller Vorbehalte durchs Leben, wir verstecken uns hinter gespielter Stärke und beziehen unser Selbstbewusstsein nur durch unsere Leistungen. Wir zementieren unsere vorwurfsvolle Lebenseinstellung und projizieren sie auf die jeweils favorisierten Schuldigen. Oder wir betäuben uns mit dem Etikett der Entspannung. Nichts davon dient wirklich unserer Befreiung und unserem Glück.
Heilsamer Umgang mit Enttäuschung
Die erste natürliche Reaktion auf Enttäuschung ist Trauer. Das ist allerdings ein Gefühl, was wir gerne vermeiden. Trauer ganz zuzulassen beherbergt eine immense Kraft, aber meist lassen wir es gar nicht so weit kommen. Zu schnell wird Trauer in Wut umgewandelt, die leichter auszuhalten ist. In der Wut erlebe ich noch eine gewisse Stärke. Dabei wird übersehen, dass Wut meist einfach maskierte Hilflosigkeit ist — ein Gefühl, welches noch schwerer auszuhalten ist als Trauer.
Dieser Teufelskreis zersetzt echte Authentizität, denn ich bin vollständig im Griff meiner Kompensationsprogramme. Das könnte zum Teil auch erklären, wieso wir gerade derartig spaltende und undemokratische Entwicklungen in europäischen Ländern beobachten. Nur der wirklich authentische Mensch ist voll handlungsfähig, und nur ein solcher Mensch ist zu echter Objektivität fähig, denn er hat nichts zu befürchten. Seine Position und Haltung sind nicht zu erschüttern. Er steht in vollem Kontakt zu seinem Wesenskern und damit zu seiner Intuition, denn er verschwendet keine Energie darauf, sein persönliches „Wahr und Richtig“ zu verteidigen. Jede Gesellschaft ist Ausdruck des Zustandes ihrer involvierten Individuen; keine andere Kraft formt die dortigen „Sachzwänge“.
Was also tun? Der erste Schritt wäre Innehalten. Ich muss mich gar nicht grundsätzlich infrage stellen, sondern lediglich meine Enttäuschungen anschauen, ihnen erlauben, sich ganz zu zeigen.
Ja, vielleicht scheint sich in mir eine Lawine des Frustes aufzubauen, nie Gesagtes will wütend sichtbar werden, Uraltes, scheinbar Nebensächliches in den Ausdruck kommen. Und dann? Dann kommt eine Phase der Sachlichkeit, der nüchternen Bestandsaufnahme: Warum stehe ich, wo ich stehe? Wollte ich mich „hier“ wiederfinden? Oder es bäumt sich etwas in mir auf: Das „sollte“ anders sein! Das „muss“ doch anders sein! Das mag sogar stimmen. Nur ist es eben nicht möglich, weil unser Weg bis hierher von Kompensationsprogrammen der Trauervermeidung kreiert wurde.
Da hilft Nachsicht mit sich selbst. Wir wollten immer das Beste, wir wollten immer Liebe und wir wollten lieben. Niemals haben wir uns falsch entschieden, weil jede Entscheidung zu dem Zeitpunkt, an dem sie getroffen wurde, die jeweils Beste war. Erst in der Bewusstwerdung kann ich mich aus dem Teufelskreis befreien.
Den inneren Dialog lenken
Was denke ich, wenn ich über mich selbst nachdenke? Welche Ereignisse tauchen in der Erinnerung auf? Sind es diejenigen, die mich mit Selbstachtung und Wertschätzung erfüllen? Oder sind es vielmehr die, in welchen ich mich hart be- oder sogar verurteile, die mir peinlich sind oder in denen ich mich schwach und unzureichend gefühlt habe?
Dieser Umgang mit mir selbst ist es, der die Grundlage meiner Erwartungen an das Leben steuert. Unsere stille Hoffnung, dass es nun endlich so wird, wie es „sein sollte“, ist die Grundlage jeder Enttäuschung — und unserer Unfähigkeit, mit der Wirklichkeit umzugehen. Unsere gesamte Gefühlswelt speist sich aus den Urteilen über uns selbst.
Kein Mensch ist allerdings dazu verpflichtet, derjenige zu bleiben, der er gestern war. Unser Selbstverständnis beruht zum allergrößten Teil aus der Summe unserer Erfahrungen beziehungsweise deren Interpretation. Darin liegt unsere Unfreiheit — zumindest, bis es uns gelingt, uns selbstbewusst und absichtsvoll zu aktualisieren.
Enttäuschungen können also ein Schlüssel zur Freiheit sein. Das kann aber erst funktionieren, wenn wir aufhören, deren Ursache außerhalb von uns selbst zu verorten, und wenn wir die Enttäuschung in ihrer ganzen Dimension zulassen.
Dann brauchen wir keine weiteren (Schein-)Lösungen in Form von noch mehr Kontrolle.
Krisen und die mit ihnen verbundenen Enttäuschungen sind die Sichtbarwerdung nicht funktionierender Konzepte. Jedes Konzept hat seine Ursache im kreativen Geist der Menschen, und wenn wir lernen, Krisen und Enttäuschungen als integralen Bestandteil unserer schöpferischen Natur anzuerkennen und zudem einen förderlichen und umfassenden Umgang mit ihrer emotionalen Komponente erreichen, wird ein Klima der Versöhnlichkeit entstehen. Dann wird nicht mehr das konzeptionelle Ideal einer bestimmten Vorstellung im Mittelpunkt stehen, sondern wir könnten erleben, dass alles ein dynamischer Erkenntnisprozess ist, in dem wir Wirklichkeit einerseits gestalten und andererseits in allen Aspekten erfahren. Dabei geht es weniger um die Gegensätzlichkeit von „wünschenswert und zu vermeiden“ als um die Erfahrung der Wirklichkeit in ihrer Ganzheit. Bewertungen teilen die Wirklichkeit auf und erzeugen eine andauernde Spannung. Sind die zugrunde liegenden Werte zudem durch „Vernunft“ — also moralische Normen — festgelegt, ist ein Kampf gegen die Wirklichkeit unausweichlich.
Eine Welt der Ideale ist eine Fiktion — sei es eine Welt, wie sie sich Klaus Schwab vorstellt, oder ein Paradies, wie es die Zeugen Jehovas ersehnen. Wir Menschen sind nicht das Ergebnis eines erdachten Ideals, wir sind freie, schöpferische Wesen, die hier sind, um das Leben in all seinen Möglichkeiten zu erfahren.
Welche Erfahrungen wir machen — kollektiv wie individuell — bestimmt der Grad unserer Bewusstheit. Erich Fromm formulierte es so:
„Ein Mensch wird in dem Maße frei, in welchem er zur Bewusstheit kommt.“