Jean Zieglers Kampf gegen die kannibalische Weltordnung
Im ARD-Kulturmagazin ttt (Titel Thesen Temperamente mit Max Moor vom 20.3.2017) wurde anläßlich seines neuen Buches „Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen“ ein Feature über Jean Ziegler gesendet.
Der Beitrag war nur kurz, dafür aber ausgesprochen gehässig und spürbar verächtlich. Dass Jean Ziegler ein „liebenswerter Mensch“ sei, wurde nur deshalb ein paar Mal eingestreut, um das Eigentliche, seine Naivität und Blauäugigkeit um so kontrastreicher hervorzuheben.
Die bürgerliche Klasse nimmt diesem Mann bis heute sehr übel, dass er die erfolgreiche Revolution auf Kuba 1959 begrüßte und sie auch dann noch verteidigte, als die neue Regierung die „freie Presse“ zensierte, die sich mit Macht und noch mehr Geld über die gelungene Revolution hermachte.
Was diese freie Presse Jahrzehnte lang nicht bemerkt hatte, nämlich die mörderische kubanische Diktatur Batistas, sah sie plötzlich, ab 1959 mit seiner Flucht herannahen: Eine „Diktatur“, die die Mehrheit der KubanerInnen mit Folgendem drangsalierten: mit einer Landreform, mit der Enteignung von räuberischem US-Vermögen, der Verstaatlichung ausländischer Ölraffinerien, mit dem Aufbau eines kostenlosen Gesundheits- und Bildungssystems…
Was naiv und blauäugig daran ist, das Ende einer vom Westen hofierten, ja unterstützten Diktatur zu begrüßen, ist schleierhaft. Vor allem dann, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es der Mehrheit der Kubaner seit der Revolution besser geht als je zuvor. Dass Revolutionen mit einem (militärischen) Sieg noch lange nicht abgeschlossen sind, spricht nicht gegen sie. Sonst dürften die blutigen bürgerlichen Revolutionen von 1776 (USA) und 1789 (Frankreich), die erfolgreich – aber auch nicht sofort, sondern erst als der kommunistische Ostblock nachhalf - den christlichen Absolutismus und Kolonialismus überwanden, nicht bis heute öffentlich gefeiert und in Schulbüchern gewürdigt werden.
Die Erkenntnis, dass Revolutionen kein Zustand, sondern von Massen wütender, gekränkter, gedemütigter Menschen eingeleitete und von ungezählten offenen und heimlichen Feinden sabotierte historische Prozesse, also immer zugleich Konterrevolutionen sind, sollte sich doch auch beim öffentlich-rechtlichen Ersten Deutschen Fernsehen herumgesprochen haben.
Als Jean Ziegler am 16.3.2017, pessimistisch moderiert von Ex-Grünen-Politiker und Rechtsanwalt Rupert von Plottnitz, im Frankfurter Literaturhaus sein neues Buch vorstellte, hätte die Presse Gelegenheit gehabt, ihn persönlich anzusprechen, ihn zu Wort kommen zu lassen, anstatt sich ihn zurecht zu legen. Jean Ziegler fragte gar neugierig, ob Pressevertreter anwesend seien. Sie waren in freier Erwägung abwesend. Ich war der einzige Journalist im Raum.
Lässt man als Teilnehmer dieser Veranstaltung mit über 150 BesucherInnen noch einmal Revue passieren, kann man sich über die Häme des ARD-Kulturmagazins nur wundern.
Jean Ziegler war nie ein bewaffneter Untergrundkämpfer. Er versteht sich nicht als Revolutionär. Er glaubt an sie und (ver-)zweifelt an den bürgerlichen Institutionen.
Mit liebenswürdiger Selbstironie und Zustimmung zitierte er seinen Sohn, der ihn als „spießigen Kleinbürger“ bezeichnete. Woher also diese spießbürgerliche Gehässigkeit? Weil er eigentlich „einer von ihnen ist“? Ja! Allerdings einer, der den mörderischen Zweiten Weltkrieg, das Wüten der Faschismen, die 55 Millionen Toten noch immer nicht vergessen hat. Und auch nicht die nach 1945 vom Bürgertum selbst postulierten Lehren, die sich in den Menschenrechtserklärungen niederschlugen und zur Gründung der Vereinten Nationen führten.
Jean Ziegler nimmt den 1941 vom US- Präsidenten Roosevelt und dem britischen Premier Churchill zu Papier gebrachten Entwurf zu einer Atlantikcharta ernst, die später Vorlage der Charta der Vereinten Nationen wurde. Verübelt wird ihm, dass er diese bürgerlichen Ideale dem Bürgertum unter die Nase reibt, ihm Verrat an den damals gewonnenen eigenen Erkenntnissen zum Vorwurf macht, und, dass er den Beutejägern den Krieg erklärte, an seinen ihm beigebrachten Niederlagen nicht verzweifelt, sondern den Kampf, die Welt zum Besseren hin zu verändern, nicht aufgibt, bis heute nicht.
Diese Haltung ist nicht naiv, sie ist provokativ, ja revolutionär. Sie hält dem ach so aufgeklärten Bürgertum den Spiegel vor Augen, zeigt ihm die Realitäten der kannibalischen Weltordnung, wie er die bürgerliche Weltwirtschaftsordnung nennt, und macht ihnen bewusst, dass sie sich in dieser Ordnung längst gemütlich eingerichtet haben, Menschen verhungern lassen, und im Wissen, dass die heutigen Produktivkräfte alle Menschen 1,5 Mal ernähren können, Mörder sind.
„Nie wieder auf der Seite der Henker stehen“, schwor Jean Ziegler sich, als er als junger UNO-Assistent, kurz nach der Ermordung Lumumbas in einem komfortablen Hotel im Kongo untergebracht war und in der Abenddämmerung aus einem Fenster mit ansehen mußte, wie Essenreste über den Stacheldrahtzaun geworfen wurden. Essensreste, auf die die Hungernden gewartet hatten, auf die aber, als sie sie aufsammeln wollten, mit Gewehrkolben eingeschlagen wurde.
Wie lächerlich der Vorwurf der Naivität und des blauäugigen Idealismus ist, zeigt auch ein anderes Beispiel. Sehr eindrücklich beschrieb Ziegler an diesem Abend seine Zerrissenheit, als UN-Beauftragter einer Institution zu dienen, die ein ums andere Mal ihren eigenen Auftrag, ihre eigene Bestimmung hintergeht, Hunger und Kriege aus dieser Welt zu verbannen und Menschenrechte, für Ziegler der Horizont der Geschichte, wirksam zu verteidigen.
Er kritisiert dieses UN-Versagen scharf und exzellent und besteht bis heute darauf, dass es dennoch richtig ist, die durch das Vetorecht der Atommächte begrenzten Möglichkeiten dieser Institution zu nutzen, um wenigstens die geringe Unterstützung zu erkämpfen, die die Ärmsten der Armen zum Überleben brauchen.
Als Rupert von Plottnitz Ziegler auf den Widerspruch zwischen seinen Idealen und der von ihm selbst realistisch kritisierten Wirklichkeit - auch der der UNO - hinweist, antwortet Ziegler mit Sartre, seinem Freund und Förderer, der in seinem 1948 uraufgeführten Theaterstück „Die schmutzigen Hände“ gezeigt habe, dass man nur saubere Hände behalte, wenn man dem Elend tatenlos zusehe.
Im Herzen der Bestie
April 1964. Che Guevara kam als Chef der kubanischen Delegation zur Zuckerkonferenz der UNO. Es sind die letzten Stunden seines 12-tägigen Aufenthalts in der Schweiz. Jean Ziegler, später UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, war Chaufeur während seines Aufenthaltes in Genf.
Es ist der letzte Tag und Jean Ziegler ergreift die Gelegenheit, nachdem er ihn zu seinem Hotel gefahren hatte. Che Guevara steht am Fenster seines Zimmers und blickt in die Nacht. Von dort hat man einen prachtvollen Blick auf den Genfer See, auf die Lichtreklamen der Banken und Juweliergeschäfte.
„Comandante?“
Che reagiert nicht.
„Comandante? Ich möchte mit euch gehen.“
Che lächelt ironisch und antwortet in hartem Spanisch:
„Siehst du, da unten?“
„Ja, das ist Genf.“
„Das ist das Gehirn des Monsters, da bist du geboren, da musst du kämpfen.“
Jean Ziegler ist diesem Rat auf hervorragende und beeindruckende Weise gefolgt.