Israel jenseits des Völkerrechts?

Zur Frage, ob Israel ein Apartheid-System errichtet hat — ein Bericht über Antisemitismus-Vorwürfe, Rassendiskriminierung und der Einhaltung von Völkerrechtskonventionen im heutigen Israel

Mit den Vereinten Nationen und dem Völkerrecht hat Israel seine Probleme. In wahrer Wildwest-Manier setzt das Land sich über Regeln und Resolutionen hinweg, die UNO und Sicherheitsrat beschlossen haben, um Konflikte und Kriege zu vermeiden oder zu beenden. Ob provozierende Luftangriffe im benachbarten Syrien oder ungebremster Siedlungsbau auf palästinensischem Boden — Israel schreibt sein eigenes Gesetz. Zuletzt zeigte sich das bei einem von der UN-Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien“ (ESCWA) veröffentlichten Bericht über „Das israelische Verhalten gegenüber dem palästinensischen Volk und die Frage der Apartheid“.

Die „einzige wirkliche Demokratie im Mittleren Osten“ ist aufgebracht. Auslöser der Empörung ist ein Bericht der „UN-Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien“ (ESCWA) über „Das israelische Verhalten gegenüber dem palästinensischen Volk und die Frage der Apartheid“ („Israeli Practices towards the Palestinian People and the Question of Apartheid“).

Der Bericht sei „ein Versuch, die einzige wirkliche Demokratie im Mittleren Osten zu beschmutzen und falsch darzustellen“, schimpfte Danny Danon, der israelische Botschafter bei den Vereinten Nationen. Er stelle eine „falsche Analogie“ her, das sei „abscheulich“ und eine „zum Himmel schreiende Lüge.“

Auf Antrag ihrer 18 Mitgliedsstaaten (Ägypten, Bahrain, Irak, Jemen, Jordanien, Katar, Kuwait, Libanon, Libyen, Marokko, Mauretanien, Oman, Palästinensische Autonomiegebiete, Saudi-Arabien, Sudan, Syrien, Tunesien, Vereinigte Arabische Emirate) Anfang Juni 2015, hatte die UN-Organisation ESCWA den Bericht bei zwei renommierten Wissenschaftlern für Völkerrecht und Politik in Auftrag gegeben. Professor Richard Falk lehrte u.a. an der Princeton University (USA) und war von 2008 bis 2014 UN-Sonderberichterstatter über die Lage der Menschenrechte in den seit 1967 besetzten Palästinensischen Gebieten. Professorin Virginia Tilley von der Southern Illinois University (USA) arbeitete zwischen 2006 und 2011 in Südafrika. In dieser Zeit betreute sie u.a. ein zweijähriges Forschungsprojekt über Apartheid in den besetzten Palästinensischen Gebieten. Beide Autoren sind versierte Kenner der Thematik und haben ihr Wissen in zahlreichen Büchern und Veröffentlichungen unter Beweis gestellt. Bessere Autoren für die ESCWA-Studie wären kaum zu finden und entsprechend differenziert und umfangreich ist das Material, das auf 75 Seiten das Verhalten Israels gegenüber den Palästinensern untersucht und erläutert.

Im Vorwort würdigten die Autoren die „Sensibilität“ der Fragestellung, ob Israel ein Apartheid System errichtet habe, mit dem die Palästinenser unterdrückt und bevormundet werden. Sprecher der israelischen Regierung und viele ihrer Unterstützer würden es schon als neuen Antisemitismus bezeichnen, wenn man das Thema nur zur Sprache brächte. 2016 habe entsprechende Lobbyarbeit Israels dafür gesorgt, dass in der europäischen und in der US-amerikanischen Gesetzgebung gegen Antisemitismus auch Kritik an Israel aufgenommen wurde. Der Vorwurf, dass Israel ein Apartheid-Staat sei, werde in Ausführungen zu diesen Gesetzen als Versuch gekennzeichnet, „das Bild Israels zu zerstören und es als einen Paria-Staat zu isolieren“, schreiben Falk und Tilley.

Beide weisen die Anschuldigung des Antisemitismus entschieden zurück. Die Frage, ob Israel einen Apartheidstaat errichtet habe, basiere auf dem internationalen Menschenrecht, das Rassendiskriminierung, also auch Antisemitismus verbiete. Kein Staat sei immun gegenüber der „Internationalen Konvention zur Abschaffung aller Formen von Rassendiskriminierung“.

Die Stärkung des Völkerrechts werde „allen Gruppen nutzen, die in der Geschichte Diskriminierung, Vorherrschaft und Verfolgung ausgesetzt gewesen seien, auch den Juden.“

Das aber wollte man in Israel nicht hören. Kaum war der Bericht am Sitz der ESCWA (Beirut) der Öffentlichkeit vorgestellt worden, aktivierte Tel Aviv seine internationale Unterstützungs-Lobby und hatte Erfolg. Die ESCWA-Vorsitzende Rima Khalaf wurde vom UN-Generalsekretär Antonio Gutierrez angewiesen, den Bericht von der Webseite zu löschen. Es gehe „nicht um den Inhalt“ des Berichts erklärte dazu dessen Sprecher Stephane Dujarric. Es gehe „um den Ablauf“. Der Bericht spiegele „nicht die Ansichten des Generalsekretärs wieder“, so Dujarric. Er könne „nicht akzeptieren, dass ein Untergeneralsekretär oder irgendein hochrangiger UN-Beamter, der ihm untersteht, die Veröffentlichung eines Berichts mit dem Namen und Logo der Vereinten Nationen autorisiert“ ohne es mit dem Generalsekretär oder zuständigen Abteilungen abgesprochen zu haben.

Gut, „dass der Generalsekretär sich von dem Bericht distanziert hat“, kommentierte die US-amerikanische Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Nikki Haley. Das allein reiche aber noch nicht, er müsse dafür sorgen, „dass der Bericht vollständig zurückgezogen wird.“ Der Sprecher des israelischen Außenministeriums, Emmanuel Nahshon, verglich den ESCWA-Bericht mit der früheren (SS-Zeitung) “Der Stürmer” zur Zeit des deutschen Nationalsozialismus.

ESCWA-Direktorin Rima Khalaf weigerte sich, die Veröffentlichung des Berichts zu stoppen. Sie weise den Druck, der auf sie ausgeübt werde, zurück, erklärte sie auf einer Pressekonferenz. Sie stehe zu ihrer Einschätzung, dass „Israel das Verbrechen von Apartheid begeht“ sagte sie und trat zurück. Bei der Vorstellung des Berichts zwei Tage zuvor hatte Khalaf darauf verwiesen, dass mit diesem Bericht zum ersten Mal seitens der UNO der Vorwurf der Apartheid gegen Israel erhoben werde. Doch nur ein internationales Tribunal könnte eine solche Einstufung autorisieren.

Der Bericht war zu dem Ergebnis gekommen, dass die wichtigste Methode der Apartheid, die Israel anwende, die „strategische Zersplitterung des palästinensischen Volkes“ sei. Die Menschen werden demzufolge in vier Gruppen eingeteilt und durch „besondere Gesetze, Politik und Praxis unterdrückt.“ Genannt werden

  1. palästinensische Bürger Israels,
  2. Palästinenser in Ost-Jerusalem,
  3. Palästinenser im Westjordanland und im Gaza-Streifen und
  4. die palästinensischen Flüchtlinge und diejenigen, die im Exil leben. Alle würden unterschiedlichen Regeln und Gesetzen unterworfen.

Tatsächlich gibt es eine Fülle von Maßnahmen, die dokumentieren, wie Israel seine Herrschaft und Diskriminierung gegen die Palästinenser umsetzt. Hauszerstörungen, Enteignungen, Ausbürgerungen, Verweigerung von Bildung, Gesundheitsversorgung und Eigentum, soziale und wirtschaftliche Ausgrenzung, die Blockade des Gazastreifens, willkürliche Festnahmen, Administrativhaft. Seit 1948 verweigert Israel den Palästinensern das Recht auf Rückkehr und die Rückgabe des 1967 besetzten Landes. Im Gegenteil, das Westjordanland wurde in verschiedene Kategorien aufgeteilt, was der israelischen Besatzungsarmee weitgehende Befugnisse zugesteht.

Die völkerrechtswidrige Ansiedlung einer halben Million jüdischer Siedler im Westjordanland und Ostjerusalem wird, wenn sie nicht gestoppt wird, die Bildung eines palästinensischen Staates mit der Hauptstadt Ostjerusalem unmöglich machen.

Eine lange Reihe von Empfehlungen, wie dem Apartheid-System in Israel entgegengewirkt werden kann und soll, schließt den Bericht ab. Allgemein wird empfohlen, den Bericht zu akzeptieren und auf dessen Basis juristische Schritte einzuleiten, um die Apartheid gegen die Palästinenser zu beenden. Die Vereinten Nationen und deren Mitgliedsstaaten müssten das „unmenschliche Handeln“ beenden, ESCWA solle eine zentrale Rolle bei der internationalen Zusammenarbeit übernehmen, um die israelische Apartheid zu stoppen. Dabei müsse mit palästinensischen Institutionen und der Zivilgesellschaft kooperiert werden. Die israelische Politik müsse unter Beobachtung gestellt werden, um Menschenrechtsverletzungen zu ahnden.

Die Umsetzung dieser Empfehlungen würde tatsächlich bedeuten, dass gegen Israel politische und wirtschaftliche Sanktionen verhängt werden könnten, wie seinerzeit gegen das Apartheid-System in Südafrika. Der damalige internationale Druck brachte den Apartheidstaat zu Fall, ähnliches dürfte Israel drohen. Es ist also kein Wunder, dass die israelische Regierung und deren Verbündete alle Register zogen, um den Bericht zu stoppen. Dass der UN-Generalsekretär so unmittelbar auf den Druck reagierte und diesen an die ESCWA weitergab, wirft ein fahles Licht auf die UNO. Seit der Gründung des Staates Israel (1948) wurden verschiedene Resolutionen bei den Vereinten Nationen verabschiedet, die das israelische Vorgehen gegen die Palästinenser verurteilen. Sie fordern die Rückgabe des besetzten Landes und das Recht auf Rückkehr ein, bezeichnen den Siedlungsbau als völkerrechtswidrig und fordern dessen Ende. Israel sieht sich an keine der Resolutionen gebunden. Und in der Praxis ließen UNO und Mitgliedsstaaten jeden (Völker-)Rechtsbruch israelischer Regierungen geschehen.

Das gleiche gilt für europäische Staaten, die geradezu unterwürfig nicht nur dem Druck des expandierenden israelischen Militarismus nachgeben, sondern diesen auch mit Geld und Waffenlieferungen ermöglichen. In Deutschland wird Kritik an der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern als „antisemitisch“ eingestuft und sanktioniert. Journalisten, Wissenschaftler und Politiker verlieren ihre Posten, Arbeit, Lehraufträge und werden öffentlich denunziert. Selbst solche, die jüdischer Herkunft sind, wie der renommierte Professor für medizinische Psychologie, Rolf Verleger bleiben von der Hetze nicht verschont. Doch der Sohn zweier Überlebender von Auschwitz (Vater) und Deportation (Mutter) lässt sich nicht einschüchtern und gründete 2016 mit dem Vorsitzenden der Palästinensischen Gemeinde Hannover ein Bündnis zur Beendigung der israelischen Besatzung.

Dass keine Kritik ungesühnt bleibt, dafür sorgt — nicht nur in Deutschland — ein breites Netz von „Freunden Israels“, eine Lobby die in den Medien und in Politik, in Gewerkschaften, an Universitäten und Stiftungen darüber wachen, was über Israel berichtet wird. Die Geschichte von Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948, die Nakba, kann beispielsweise nur mit Hindernissen in der deutschen Öffentlichkeit dargestellt werden. Immer wieder trifft es die Nakba-Ausstellung, die 2008 vom Verein Flüchtlingskinder im Libanon zum 60. Jahrestag der Nakba erstellt worden war.

Unterstützung für die Ausstellung hatte es unter anderem vom Evangelischen Entwicklungsdienst (EED) geben, sie wurde in Deutschland, Österreich, in der Schweiz, Frankreich, Luxemburg, England und auch im Europaparlament gezeigt. Vom dazugehörigen Ausstellungskatalog gibt es eine französische, englische und italienische Fassung. Doch immer wieder muss das Zeigen der Ausstellung juristisch erstritten werden, weil sie angeblich „nicht wissenschaftlich“ sei, wie es jetzt bei der Göttinger Universität heißt, die bereits zwei Mal die Ausstellungseröffnung verschoben hat. Dann sprang eine private Veranstaltungseinrichtung ein, die die Ausstellung zeigte. Eine Mitarbeiterin der Universität, die an der Ausstellung mitgearbeitet hatte, fand — so ein Bericht in der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen Zeitung — an ihrer Bürotür einen Aufkleber, vermutlich von anonymen Ausstellungsgegnern: „Halt Dein dummes Kotmaul, du Antisemitenschmutz …“.

Die Vernichtung der palästinensischen Lebensgrundlagen und der Landraub durch Israel gehen weiter.

In einem Meinungsstück in der israelischen Tageszeitung Haaretz beschreibt der in Israel geborene Autor Yair Svorai am 12. März 2017 präzise, wie seit der Balfour Erklärung 1917 — als die britische Regierung der zionistischen Nationalbewegung versprach, eine „jüdische Heimstatt in Palästina“ zu unterstützen — die Palästinenser systematisch aus ihrer Heimat vertrieben wurden:

„Die Ausbreitung der jüdischen Siedlungen folgt seit 100 Jahren einem festen Muster- die Palästinenser werden durch Juden ersetzt“, schreibt Svorai, der seit 45 Jahren in den USA lebt.

Er verweist auf ein kürzlich verabschiedetes Gesetz in Israel, wonach palästinensisches Land zugunsten jüdischer Siedler beschlagnahmt werden darf. Er zitiert den (britischen) Journalisten Jonathan Cook, der in der Zeitung The National schrieb: „In der Praxis gab es nie eine ernsthafte Grenze für den Raub palästinensischen Bodens. Nur jetzt kann diese Plünderung von der israelischen Regierung ausdrücklich gesetzlich unterstützt werden.“ Die Nakba (Vertreibung) geht entschlossen weiter.

Der 22. März gilt als Weltwassertag. Aus diesem Anlass weist die Hilfsorganisation Oxfam darauf hin, dass die Gesundheit von rund zwei Millionen Menschen im Gaza-Streifen bedroht sei, weil der Wiederaufbau nach dem Krieg gegen den Gaza-Streifen 2014 (Codename: Operation Starker Fels) nicht funktioniere. Damals wurde die Wasser- und Sanitärversorgung des Gazastreifens durch israelische Angriffe weitgehend zerstört. Weil aber Israel („die einzige wirkliche Demokratie im Mittleren Osten“) eine Blockade gegen das Gebiet verhängt hat, könnten notwendige Baumaterialien nicht eingeführt werden. Vereinbarte UN-Regeln für den Wiederaufbau im Gazastreifen würden nicht umgesetzt, heißt es in dem Bericht “Treading Water. The worsening water crisis and the Gaza Reconstruction Mechanism”.

Demnach warten noch „2.950 der Güter für den Aufbau einer Wasser- und Abwasserinfrastruktur … auf eine Genehmigung“, die israelische Absperrung zu passieren. Nur „16 Prozent“ der genehmigten Güter für die Wasser- und Hygieneversorgung hätten ihr Ziel erreicht. Der bürokratische Prüfprozess für die von der israelischen Regierung als „Dual-Use“ Güter (solche, die sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke verwendet werden können) eingestuften Produkte dauere „von 61 bis 100 Tagen“, so Oxfam. Dann würde die Einfuhr entweder genehmigt oder abgelehnt. Etwa 70 Prozent aller Güter, die für die Reparatur der Wasser- und Abwasserversorgung gebraucht würden fielen in diese Kategorie. „Sauberes Trinkwasser ist in Gaza Mangelware“, so Oxfam. Die hygienischen Verhältnisse seien „vielerorts katastrophal“.

Der oben zitierte Autor Yair Svorai gibt am Ende seines Textes der Haaretz-Autorin Amira Hass das Wort, einer Journalistin, die seit Jahren über die Besatzungspolitik Israels schreibt. Es sei „schwer einzugestehen, dass die zionistische Ideologie und ihr Produkt — Israel — ein stehlendes, rassistisches, arrogantes Monster geschaffen hat, das Wasser und Land und Geschichte raubt, das mit der Ausrede der Sicherheit Blut an den Händen hat, das seit Jahrzehnten absichtlich die gefährliche Bantustan Realität von heute geplant hat, auf beiden Seiten der Grünen Linie.“ Vielleicht sei es schwer das einzugestehen, so Svorai, aber „absolut notwendig, es zu erkennen.“


Begriffsklärung:

Bantustan: Die weiße Apartheid-Ideologie in Südafrika fasste die Homelands allgemein unter dem Begriff Bantustan zusammen. Mit der Schaffung von Homelands erhielt die Segregation, Isolierung und Aufsplitterung der schwarzen Bevölkerung eine räumlich-administrative Struktur. (Wikipedia)

Grüne Linie: 1948 Waffenstillstandslinie zwischen Israel und den arabischen Nachbarländern. Seit dem 6-Tage-Krieg die Demarkationslinie zwischen Israel und den von Israel 1967 besetzten Gebieten auf den Golanhöhen, im Westjordanland, Gazastreifen und Sinai-Halbinsel.