„Intellektuelle aller Länder, vereinigt Euch!“

Oder: Was tun, wenn es keine Arbeiterklasse mehr gibt? Eine Provokation.

Arbeiter und Arbeitnehmer sind noch immer oft Opfer von Ausbeutung. Aber sind sie deshalb die besseren Menschen? Taugen sie als Avantgardeeiner zu erschaffenden gerechteren Welt? Speziell die Linke idealisiert traditionell die Arbeiterschaft, was eher der Ideologie als sorgfältiger Beobachtung geschuldet ist. Heute fragen Gebildete genervt: „Warum zerbreche ich mir den Kopf über die Rechte der Armen, damit die dann Rechte wählen und ansonsten nur an ihren Bauch und ans Fernsehprogramm denken?“ Nein, die einzige „Klasse“, die heutzutage noch Anlass zur Hoffnung gibt, sind die Intellektuellen selbst. Sie sollten sich dessen endlich bewusst werden.

Dieser Artikel übertreibt. Das ist so gewollt – er soll Reibung erzeugen. Wie ein eiserner Besen, der nicht nur den Dreck hinaus fegt, sondern Riefen im Boden hinterlässt. Vielleicht verhilft er einigen Menschen zu einem Aha-Erlebnis. Oder stößt eine öffentliche Diskussion an. Dann hätte er seinen Zweck erfüllt …

Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie es sein kann, dass die Situation in den entwickelten westlichen Ländern immer prekärer wird und trotzdem die Linke immer mehr an Einfluss verliert? Wieso Arbeiter und Bauern – wenn sie denn überhaupt wählen gehen – in Scharen Parteien ihre Stimme geben, die ihren eigenen Interessen Hohn sprechen – und das nicht zum ersten Mal in der Geschichte?

Vermutlich gibt es mehrere Gründe dafür, darunter die Medienmacht des bürgerlichen Lagers, der relative allgemeine Wohlstand in Deutschland, aber auch die Linke selbst in Form von autonomen, fundamentalistischen und opportunistischen „Linkstuern“ (1), die so manchen progressiven Geist davon abhalten, dort ihr Kreuzchen zu machen. Seltsamerweise spielt die Klassenfrage im linken Diskurs fast keine Rolle mehr – vielleicht weil sich inzwischen fast 90 Prozent der deutschen Bevölkerung unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit der Illusion hingeben, zur Mittelschicht zu gehören.

Ich möchte mich hier ganz altmodisch genau mit diesem Thema beschäftigen, und zwar mit einem Axiom, das seit Karl Marx in den Köpfen der Linken (damit meine ich die Geistesströmung insgesamt, nicht nur die Partei im Besonderen) herumschwirrt, nämlich dass die Arbeiterklasse der Totengräber des Kapitalismus sein wird.

Was wäre, wenn Marx sich geirrt hätte? Was wäre, wenn die Arbeiterklasse zwar (gerade noch) die am meisten ausgebeutete und deshalb auch wütendste Klasse, aber überhaupt nicht die revolutionärste Klasse ist? Wer hat eigentlich in den letzten 50 Jahren die kollektive Entwicklung vorangebracht? Waren das die Arbeiter? Nicht wirklich! Vermutlich wird die Arbeiterklasse in den westlichen Industriestaaten in den nächsten 20 Jahren durch die Industrielle Revolution 4.0 weitgehend verschwinden. Für wen sollte man dann noch die Revolution machen? Oder wenigstens die sozialen Bedingungen verbessern?

Marx selbst sah sich als Dialektiker. Und viele Dinge konnte er mit der Hegel’schen Dialektik sehr gut erklären. Er erklärte, wie sich seit der Urgesellschaft im Windschatten zweier antagonistischer Klassen jeweils eine neue Klasse entwickelte, die die nächste Ebene der Gesellschaftsentwicklung dominierte. So entwickelten sich im Windschatten des römischen Reiches, geprägt von Sklavenhaltern und Sklaven, die ersten Feudalfürsten. Im Windschatten der feudalen Gesellschaft aus Adel und Leibeigenen entstand das Bürgertum. Im Windschatten des bürgerlichen Kapitalismus entstand — die Arbeiterklasse?

So steht es vielleicht in einigen Lehrbüchern. Doch der Satz ist falsch. Richtig ist: Die Arbeiterklasse war als antagonistische Klasse des Bürgertums zugleich mit diesem entstanden. Doch irgendetwas musste ja entstehen, wenn Hegel sich nicht geirrt hatte. Und da Marx keine andere Klasse finden konnte, erklärte er die Arbeiter auch gleich zur Klasse der Zukunft. Wenn er in den Spiegel geschaut hätte, hätte er den Vertreter einer wirklich neuen Klasse gesehen: den vogelfreien, mittellosen Intellektuellen, der nicht weiß, wovon er im nächsten Monat seine Miete bezahlt. Doch das tat er leider nicht. Stattdessen verstand er sich nur als Einzelwesen und dichtete der Arbeiterklasse ein Zukunftspotential an, das eigentlich sein eigenes war.

Könnte es also sein, dass im Windschatten des Kapitalismus die Intellektuellen (einschließlich der Künstler) als neue Klasse heranreiften, und dass Marx dies noch nicht sehen konnte, weil zu seiner Zeit Studieren ein Privileg der Herrschenden war und eine Existenz wie die seine als mittelloser, linker Intellektueller eine seltene, einzelne Ausnahme?

Wenn Sie in die Geschichte schauen: alle wichtigen linken Impulsgeber – und damit meine ich nicht Charismatiker oder Machtneurotiker wie Mao oder Stalin – waren Intellektuelle – keine Arbeiter! Von Marx selbst über Liebknecht, Luxemburg, Gramsci, die Frankfurter Schule bis hin zu Noam Chomsky.

Sie waren es auch, die die Arbeiterklasse in Arbeiterbildungsvereinen mit den linken Ideen vertraut gemacht haben. Könnte es also sein, dass Marx sich geirrt hatte, als er behauptete, die Arbeiterklasse sei die „neue“ Klasse und von Natur aus revolutionär, progressiv, solidarisch, internationalistisch, etcetera pp.?

Damit würde ein fundamentales, bis heute kaum hinterfragtes Axiom der gesamten linken Bewegung in Frage gestellt, was Auswirkungen sowohl auf die Betrachtung der Vergangenheit als auch auf die Planung der Zukunft hätte. Zuallererst würde es bedeuten, dass das Narrativ von der „historische Mission der Arbeiterklasse“ nicht stimmt.

Möglicherweise begehrt die Arbeiterklasse nur auf, wenn der Druck so groß wird, dass es wirklich nicht mehr anders geht. Da sie in weiten Teilen zu ungebildet ist, um die sozioökonomischen Prozesse wirklich zu durchschauen, ist sie – wie die Geschichte mehrfach gezeigt hat – überaus verführbar und wird bei jeder Wahl von bürgerlichen Parteien und Medien aufs Neue vorgeführt.

Ansonsten ist sie zu großen Teilen schon froh, wenn sie ein wenig Sicherheit in Form von Brot und Spielen hat. Darüber hinaus wird sie aufgrund von Rationalisierung und Automatisierung immer überflüssiger und wandelt sich zunehmend vom Proletariat ins Prekariat, dem damit auch noch jedes Selbstbewusstsein verloren geht.

Doch wenn wir uns die Intellektuellen anschauen, ergibt sich ein deutlich anderes Bild: Die Anzahl der Hochschulabsolventen wird immer größer, so dass man kaum mehr von Einzelnen oder einer begrenzten Schicht sprechen kann, sondern inzwischen von einer eigenen Klasse sprechen muss, die sich als „Kulturell-Kreative“ in der Soziologie auch statistisch abbilden lässt.

Zusätzlich wächst die durchschnittliche Intelligenz durch die zunehmend komplexer werdenden Anforderungen der (digitalisierten) Umwelt. Das Kapital profitiert von dieser immer größer werdenden Zahl der Intellektuellen, die oft ähnlich wie Marx unter extrem prekären Bedingungen leben: Vom Freelancer, der sich von Auftrag zu Auftrag hangelt, zum Startup, dessen Ideen von den Konzernen geschluckt werden, bis zu den Universitätsangestellten, die jedes Semester um die Verlängerung ihrer unterbezahlten Jobs kämpfen müssen.

Diese Intellektuellen sind es, die mit ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen und ihrer Kreativität die heutigen wirtschaftlichen Erfolge der großen Konzerne überhaupt erst möglich machen. Die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft führt aber dazu, dass immer mehr von ihnen aus der Mittelschicht herausfallen in eben jene unsicheren Verhältnisse, die früher das Leben der Arbeiterklasse kennzeichneten.

Und diese Intellektuellen haben genau die Bewusstheit, die Marx seiner Arbeiterklasse zuschrieb: Im Wesentlichen sind sie es, die sich in Bürgerinitiativen organisieren, in der Friedensbewegung, gegen die Vernichtung der ökologischen Grundlagen, gegen soziale Ungerechtigkeit, die für die Gleichberechtigung der Geschlechter, Randgruppen und Völker kämpfen, weil vor allem sie den geistigen Weitblick haben.

Sie sind es, die mehrere Sprachen sprechen, oft länger im Ausland waren, dort Freunde haben, mit denen sie ständig über das Internet in Verbindung stehen, und daher viel internationalistischer sind, als die Arbeiterklasse es je wird sein können. Und sie sind es auch, die die Mühe auf sich nehmen, um sich in den alternativen Medien zu informieren, wo es viel mehr um Fakten und Diskussion von Standpunkten, als um neoliberale Propaganda geht, mit der die Medienkonzerne die restlichen Bevölkerungsanteile einlullen.

Vielleicht wäre es also langsam an der Zeit, die heilige Kuh von der „historischen Mission der Arbeiterklasse“ ganz offiziell und öffentlich zu schlachten und lieber von der „historischen Mission der Intellektuellen“ zu sprechen. Vermutlich ahnen es schon viele, doch wurde es meines Wissens bisher nicht deutlich ausgesprochen (sonst hätte ich mir diesen Artikel gespart!).

Ein Revidieren dieser Grundannahme hätte große Konsequenzen für die linke Bewegung und würde den Übergang von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft viel deutlicher begründen. Das könnte beispielsweise dazu führen, dass die Linke (damit meine ich jetzt die Partei, damit sie auch für die linke Geistesströmung wieder interessant wird) Ihr Parteiprogramm neu schreibt und sich vielleicht umbenennt in PDI (Partei der Intelligenz) - immerhin hat sie neben den Grünen prozentual die meisten Hochschulabsolventen in ihren Reihen.

Das könnte weiterhin dazu führen, dass ein kluger Theoretiker ein neues Manifest „Kommunismus 2.0“ schreibt, das die aktuellen gesellschaftlichen und ökologischen Entwicklungen berücksichtigt und damit Karl Marx´ ursprüngliche Idee einer gerechten Gesellschaft rehabilitiert – egal wie diese dann heißt. Das könnte auch dazu führen, dass die intellektuelle Linke endlich aufhört, sich auf der einen Seite zum Diener der Arbeiterklasse zu degradieren und gleichzeitig diese retten zu wollen – und wegen genau dieser Bevormundung bei vielen Arbeitern nicht sehr beliebt ist. Wenn sie stattdessen anfinge, primär ihre eigenen Interessen zu vertreten, hätte sie vermutlich auch deutlich mehr Anziehungs- und Schlagkraft.

Die Bourgeoisie zeigt täglich, welche Kraft der Egoismus entwickelt – wieso sollte die Linke auf die Macht des Eigennutzes verzichten? Immerhin ging auch Marx davon aus, dass der gesellschaftliche Wandel aus den Eigeninteressen der kommenden revolutionären Klasse erwachsen würde – nur dass es jetzt eine andere wäre, als er ursprünglich annahm. Das würde die Linke nicht davon entbinden, mit anderen unterdrückten Klassen und Schichten Bündnisse einzugehen und diese gleich mit zu befreien – so, wie die bürgerliche Revolution auch die Bauern aus der Leibeigenschaft geholt hat – aber eben nebenbei, und nicht als Kern und Legitimation ihrer Existenz.

Bis heute verstehen sich die meisten progressiven Intellektuellen als Begleiter und als Kommentatoren der Gesellschaft – nicht aber als inzwischen wichtigste Produktivkraft und Subjekt der Weltgeschichte. Und ihre pluralistische, egalitäre Weltsicht verhindert es, sich über andere zu stellen und ihren eigenen Platz zu beanspruchen.

Dabei wäre es an der Zeit, Klartext zu sprechen: „Wir sind die Kreativsten und die Klügsten! Und wir haben die Nase voll davon, dass der Klügere immer nachgibt – und deshalb das Geld und die Machtneurotiker die Welt regieren! Kapitalismus und der „proletarische Sozialismus“ haben es beide nicht hinbekommen, sondern treiben den Planeten an den Rand des Untergangs! Uns reicht es, dass wir entweder von der Gier oder von der Dummheit beherrscht werden! Jetzt übernehmen wir mal die Macht – einfach weil die derzeitige prekäre Situation der Welt nur mit Intelligenz zu lösen ist!“

Stattdessen verheddern sie sich – falls sie nicht mit dem System kollaborieren – aufgrund ihrer deutlich höheren intellektuellen Differenzierungsfähigkeit in theoretischen Details und zersplittern sich in Kleinstparteien und -organisationen mit unterschiedlichsten Schwerpunkten, die doch alle nur dasselbe wollen: Eine bessere Welt! Dabei existiert mit dem Internet ein Werkzeug der weltweiten Organisation, von dem Marx nur träumen konnte, so dass es eigentlich ein Leichtes sein müsste, eine „Intellektuelle Internationale“ aufzubauen und die Kräfte zu bündeln.

Es liegt mir fern, einen großen Geist wie Karl Marx wirklich zu kritisieren: Vor der Weitsicht, die er vor 200 Jahren hatte, kann ich nur demütig den Kopf senken. Und es ist sehr einfach, im Nachhinein den Neunmalklugen zu spielen. Trotzdem wäre es interessant, sich einmal vorzustellen, wie die Weltgeschichte ausgesehen hätte, wenn Marx dieser Irrtum nicht unterlaufen wäre und ihn die nachfolgenden linken Denker nicht ständig reproduziert hätten, aus Angst, ihren Vordenker zu beschädigen oder aus Angst vor der eigenen Chuzpe.

Wenn Karl Marx die Intelligenzija als aufsteigende, kommende Klasse erkannt hätte, wäre die Produktivkraft Intelligenz in den linken Bewegungen der Welt als der höchste Wert gewürdigt worden, höher als die Arbeitskraft der Arbeiterklasse. Dann wäre es vermutlich nicht so leicht möglich gewesen, dass die am meisten unterdrückten, aber auch am wenigsten bewussten Gruppen der Menschheit den Kommunismus als Rechtfertigung für die Liquidierung ihrer eigenen geistigen Eliten benutzt hätten.

Vielleicht hätte es trotzdem Umstürze mit Auswüchsen wie dem Archipel Gulag in Russland, die Kulturrevolution in China und Pol Pot gegeben, aber vermutlich dann nicht im Namen der Marx’schen Ideen. Möglicherweise hätte es aber auch einige völlig anders geartete Revolutionen und Länder gegeben, die tatsächlich den Namen „Sozialismus“ im guten Sinne verdient hätten: Wo hätte die DDR gestanden, wenn sie kein „Arbeiter- und Bauernstaat“ gewesen wäre, geprägt von der Engstirnigkeit von Tischlern und Dachdeckern (2), sondern ein Intellektuellenstaat, geprägt von der geistigen Freiheit eines Ernst Bloch oder Robert Havemann? Und der größte Treppenwitz der Geschichte, die linke Studentenbewegung, die das Paradox schon im Namen trägt: Was wäre geschehen, wenn die jungen Intellektuellen die Arbeiter in die Universitäten geholt hätten, anstatt sich selbst ans Fließband zu stellen? Dann könnte sich heute auch kein militanter Autonomer mehr auf Marx berufen. Es gibt intelligentere Formen des „antifaschistischen Widerstands“ als Steinewerfen.

Die Vergangenheit ist gewesen, daran lässt sich nichts mehr ändern. Aber wir können für die Zukunft daraus lernen, zum Beispiel uns als Intellektuelle selbst als die Klasse zu begreifen, auf die Marx gewartet hat, anstatt noch länger zu versuchen, die Arbeiter zu politischem Handeln zu aktivieren. Diese Selbstermächtigung würde vermutlich eine enorme Kraft freisetzen, um an der Verbesserung unserer eigenen Lebensumstände zu arbeiten. Da das dazugehörige Welt- und Menschenbild sehr viel humanistischer, internationalistischer und ökologischer ist als das der Bourgeoisie, werden garantiert die Arbeiterklasse, andere Völker und auch die Erde selbst davon profitieren.

PS: Mir ist sehr bewusst, dass Intellektuelle, Bürgertum, Arbeiter und Bauern keine homogenen Gruppen sind. Auch wenn es gewisse gemeinsame Interessen gibt, sind doch Privilegien, Intelligenz und Bewusstheit sehr ungleich verteilt. Und ganz sicher gibt es auch unter den Bürgerlichen, Arbeitern und Bauern hochintelligente und politisch aktive Menschen – so, wie es auch unter den Intellektuellen genügend Menschen gibt, die politisch desinteressiert sind. Deshalb ist dieser Artikel bewusst sehr holzschnittartig, um Tendenzen aufzuzeigen. Falls sich irgendein Leser dadurch diskreditiert fühlt, bitte ich hiermit ausdrücklich um Entschuldigung.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Verschiedene Gruppen, die sich selbst als „links“ verstehen, sind oft extrem unterschiedlich und manchmal durch unüberbrückbare Gegensätze charakterisiert, obwohl sie doch alle gleichermaßen linkes Gedankengut zur eigenen Identitätsfindung und Rechtfertigung ihres Handelns benutzen. Diese Unterschiedlichkeit sorgt bei linken Theoretikern eher für Verwunderung und wird gerne mit lokalen Besonderheiten erklärt. Ich neige eher dazu, das mit Unterschieden in den Bewusstseinsstrukturen zu erklären, wie sie von Don E. Beck und Christopher C. Cowan in ihrer Spiral Dynamics-Theorie beschrieben werden. Darauf näher einzugehen würde den Rahmen des Artikels sprengen, weshalb es hier nur angedeutet wird.

(2) Eine Anspielung auf die Berufe von Walter Ulbricht und Erich Honecker.