Inflation ohne Ende
Während die Verbraucher unter den Preiserhöhungen stöhnen, bemühen sich Wirtschaftswissenschaftler, das Problem argumentativ zu relativieren.
„Wenn die Bürger unsere Fehler gar nicht verstehen, werden sie uns ihretwegen auch keine Vorwürfe machen.“ So kalkulieren wohl einige Politiker. Zur Erklärung der hohen Inflation, die immer mehr Menschen zunehmend an die Substanz geht, greifen sie daher mehr und mehr auf verbale Taschenspielertricks zurück. Die Allzweckwaffe Zinserhöhung scheint nicht die gewünschte Wirkung zu zeigen. Nun hat man die Kerninflation als Verursacher entdeckt. Welchen Nutzen hat das für die Verbraucher oder zumindest für die Erkenntnis der Realität? Offenbar scheint der Begriff ein statistischer Kniff zu sein, um den Verbrauchern zu vermitteln: „Es ist alles gar nicht so schlimm. Ihr bildet euch das nur ein.“ Zur Kerninflation nämlich werden steigende Lebensmittel- und Energiepreise gar nicht gezählt. Gehören diese somit zur „Randinflation“ und sind weniger schmerzhaft? Während Äpfel, Brot und Öl bald unerschwinglich werden, können sich Bürgerinnen und Bürger damit beruhigen, dass die Zahlen gar nicht mehr so katastrophal aussehen, wie sie es schon einmal waren.
Wiederentdeckung der Kerninflation
Der Begriff ist nicht neu. Er stammt aus den 1970er Jahren. Nun hat vermutlich irgendein Wirtschaftswissenschaftler die Kerninflation aus den Archiven ausgegraben und sie wieder ins Gespräch gebracht. Jedenfalls wurde der Begriff von der Fachwelt dankbar aufgenommen und seit Monaten wird sie als die neue Erkenntnis für den Umgang mit Zinsen und Inflation herumgereicht.
Aber Inhalt und Sinn können dem Publikum nicht vermittelt werden. Die einzige Erläuterung ist, dass es sich dabei um die Inflation langlebiger Güter handelt ohne die stark schwankenden Preise für Energie und Lebensmittel. Letztere aber sind gerade jene Güter, deren Aufschläge den Menschen in den letzten Monaten das Leben schwer gemacht haben. Was bringt es, diese auszuklammern?
Unübersehbar ist, dass die Werte der Kerninflation wesentlich niedriger sind als die des Verbraucherpreisindexes, der die allgemeinen Preissteigerungen gegenüber dem Vorjahresmonat abbildet. Während sich die Kerninflation von Januar bis April 2023 um die 5,7 Prozent (1) bewegte, lag der offizielle Wert für den Verbraucherindex bei fast 9 Prozent (2). Je nach Berechnungsgrundlagen werden auch noch höhere Werte genannt.
Die Preise für Lebensmittel jedoch stiegen weit deutlicher, im März 2023 um satte 22,3 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat. Damit hat sich ihr Preisauftrieb sogar gegenüber den Vormonaten Februar 2023 um plus 21,8 Prozent und Januar 2023 um plus 20,2 Prozent noch weiter verstärkt und liegt mittlerweile dreimal so hoch wie die Gesamtteuerung. Diese Zahlen sind beunruhigend. Deshalb stellt sich natürlich die Frage, ob es sich bei der Betonung der Kerninflation um eine Beruhigungspille handelt oder ob sie tatsächlich Bedeutung hat für die Bekämpfung dieser Preisentwicklung.
Hirnakrobatik
Jedenfalls scheint die Chefin Christine Lagarde der Europäischen Zentralbank (EZB) der Kerninflation eine hohe Bedeutung beizumessen. Denn nach der EZB-Ratssitzung vom März dieses Jahres erklärte sie, dass man über weitere Zinserhöhungen datenabhängig entscheiden werde. Damit waren sowohl die Inflationsprognosen gemeint, was nachvollziehbar ist, aber auch „die Entwicklung der Kerninflation“ (3). Aber kaum jemand konnte mit dem Begriff etwas anfangen, außer dass damit der Preisanstieg langlebiger Güter gemeint ist.
Dennoch war das unbekannte Wesen Kerninflation in der Folge häufiger Erklärungsansatz für das bescheidene Ergebnis der kräftigen Zinsanhebungen. Es dauerte dann immerhin bis zum 13. Mai 2023, bis die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die unter den Mainstream-Medien neben dem Handelsblatt über die höchste Kompetenz in Wirtschaftsfragen verfügt, das Thema einer genaueren Untersuchung unterzog. Die Fragestellung lautet: Ist Kerninflation bedeutend oder nur eine „unscheinbare Messgröße der Statistiknerds“ (4)?
Der Eindruck der Unscheinbarkeit konnte in dem Beitrag nicht ausgeräumt werden, geschweige denn, dass die von der FAZ befragten Expertinnen der EZB die Bedeutung dieser Messgröße überhaupt darlegen konnten. Weder Lagarde noch Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel oder Annette Frühling als erklärte Preisexpertin der Deutschen Bundesbank konnten Licht ins Halbdunkel der wirtschaftswissenschaftlichen Begriffswelt bringen.
Wenn auch die Gesamtinflation sich abgeschwächt habe, so sei der „zugrunde liegende Preisdruck“ (4) aber immer noch stark, bekennt Lagarde. „Gemeint ist damit die Kerninflation, plus ein paar weitere Messgrößen“ (5). Verantwortlich dafür sieht die Preisexpertin Frühling Industriegüter und Dienstleistungen, wozu sie so unterschiedliche Gruppen zählt wie „etwa die Preise in Restaurants, für Bekleidung, für Pauschalreisen und Kraftwagen“ (6). Auf diese glaubt sie, könne die Notenbank größeren Einfluss haben, erläutert diese Behauptung jedoch nicht.
Gleichzeitig aber schränkt die erklärte Preisexpertin ihre Aussage über die Bedeutung der Industriegüter insofern auch wieder ein, als dass diese nur für ein Drittel der Kerninflation verantwortlich seien. Den Löwenanteil machten die Dienstleistungen aus, wozu Frühling besonders die Lohnkosten zählt.
Das versucht Frühling damit zu erklären, dass „hohe Lohnabschlüsse als Folge der Inflation ihrerseits die Inflation zu treiben beginnen“ (7), um dann gleich wieder einzuschränken:
„Bis jetzt allerdings sieht man davon in den Zahlen für die Entwicklung der Preise einzelner Dienstleistungen in der Verbraucherpreisstatistik noch nicht ganz viel; aber vielleicht ist das auch einfach nur zu früh“ (8).
Anhand der wenig aussagekräftigen Informationen der Expertinnen ergibt die Kerninflation-Theorie kein in sich schlüssiges Bild. Noch weniger scheint sie in der Lage, einen Erklärungsansatz geschweige denn eine Lösung zu bieten für den ungeminderten Preisauftrieb in der Wirklichkeit der meisten Menschen. Es stellt sich die Frage, wie bei so viel Unklarheit so hohe Erwartungen an die Wirkungen einer gebändigten Kerninflation erhoben werden können.
Oder geht es einfach nur um den hilflosen Versuch einer Erklärung, warum die Erwartungen, die nach der Theorie hätten eingetreten sein müssen, sich in der Wirklichkeit nicht erfüllt haben? Denn trotz der Zinserhöhungen, die den Wandel hätten bringen sollen, sind die als Inflation ausgegebenen Preiserhöhungen in der Wirklichkeit nicht den Theorien gefolgt.
Notenbank im Elfenbeinturm
Sinn der höheren Zinsen soll die Bekämpfung der Inflation sein, darum geht es. Aber der Begriff Inflation wird mittlerweile selbst inflationär verwendet. Die einen bezeichnen damit Preisanstiege allgemein (9), andere wieder verwenden ihn für die „Entwertung“ des Geldes. Dazwischen gibt es viele Schattierungen der Anwendung des Begriffs. Als Ursache wird in der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft das Wachstum der Geldmengen angesehen. Wie üblich für diese Zunft machte man das Offensichtliche zur Erklärung.
Offensichtlich aber ist den Wirtschaftswissenschaftlern und Notenbankvertretern entgangen, dass in der Zeit der massiven Ausweitung der Geldmengen zwischen 2008 und 2021 die Inflationsrate kaum gestiegen ist. Vielmehr fiel sie, und die Notenbanken, besonders die Bank von Japan, gaben sich größte Mühe, durch die Erhöhung der Geldmengen für Inflation zu sorgen. Aber entgegen der Theorien der Wirtschaftswissenschaft blieb diese aus, egal wie sehr die Notenbanken ihre Bilanzen aufblähten.
Mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine explodierten im Westen die Preise. Was aber als Zusammenhang darstellt wurde, ist ein Trugschluss, denn die Preise besonders für die Energie (10, 11) waren schon 2021 durch den EU-Beschluss zur Bepreisung des Kohlendioxid stark angestiegen. Das wird immer wieder vergessen oder bewusst ausgeklammert, soll aber hier nicht weiter diskutiert werden (9).
Die explodierenden Preise sorgten für Unruhe in der Bevölkerung. Politik und Notenbanken gerieten unter Druck. Die Notenbanken behandelten das Phänomen der als Inflation bezeichneten Preissteigerungen als ein Ergebnis hoher Nachfrage. So war Lagarde beim Frühjahrstreffen des Internationalen Währungsfonds in Washington am 14. April 2023 überzeugt, dass „der verzögerte Preisdruck (Kerninflation, Anmerkung d. Verf.) nachlässt und die straffere Geldpolitik zunehmend die Nachfrage dämpft“ (12). Preissteigerungen also als Ergebnis von Nachfrage?
Dass Lagarde diese Einschätzung selbst „mit erheblicher Unsicherheit behaftet“ (13) sieht, führt sie zurück auf „ein historisch kräftiges Wachstum der Löhne“ (14). Die Notenbank-Expertinnen von Lagarde bis Frühling scheinen sich einig, dass hierin die Ursache für die Hartnäckigkeit der Inflation liegt. Das ist aber nichts anderes als der alte Wein namens Lohn-Preis-Spirale im neuen Schlauch der Kerninflation.
Vermutlich aber wissen die Expertinnen nicht, wie das Leben der normalen Menschen aussieht. Von hoher Nachfrage als Preistreiber kann da keine Rede sein. Die Menschen schränken sich aufgrund der Aufschläge gerade für die Dinge des täglichen Bedarfs wie Lebensmittel und Energie immer mehr ein. Der Einzelhandel klagt über zurückgehende Umsätze, weil Kunden nur noch das wirklich Lebensnotwendige kaufen und das sogar immer öfter als Discount-Ware. Allein in Deutschland ist mittlerweile ein Fünftel der Menschen von Armut bedroht, und die Tafeln wissen nicht mehr, wie sie des Ansturms an Bedürftigen Herr werden sollen.
Zielen mit verbundenen Augen
Anscheinend leben die Expertinnen der EZB in einer anderen Welt, in der hohe Preise einzig das Ergebnis hoher Nachfrage zu sein scheinen, und diese bekämpft man am besten mit hohen Zinsen. So lehren es die Wirtschaftswissenschaften. Dass hohe Preise aber auch mit Verknappung zu tun haben können, wie beispielsweise mit den Sanktionen gegenüber russischem Gas, Öl und all den anderen Produkten, die der Westen bisher günstig aus Russland bezogen hatte, scheint vielen sogenannten Wirtschaftsexperten nicht in den Sinn zu kommen.
Das würde aber bedeuten, dass man die aktuelle Politik des Westens gegenüber Russland und der anstehenden Ausweitung der Sanktionen auf Drittstaaten wie China kritisieren müsste. Es ist unklar, ob die Expertinnen der EZB dieses Risiko nicht eingehen wollen oder ob sie durch ihre Wirtschaftstheorien so verblendet sind, dass sie die Wirklichkeit nicht erkennen.
Wenn aber steigende Preise nicht aus hoher Nachfrage sondern aus der Verknappung herrühren, werden Zinssteigerungen daran wenig ändern. So kommen Volkswirte der EZB laut einer eigenen Untersuchung bereits zu der Erkenntnis, dass die Zinserhöhungen „wahrscheinlich im kommenden Jahr ihre größte Wirkung auf die Preise entfalten. … Die dämpfende Wirkung in den Jahren 2023 bis 2025 werde voraussichtlich im Schnitt bei rund zwei Prozentpunkten liegen, wobei die Ergebnisse von drei Modellrechnungen stark differierten.“ (15).
Welchen Sinn haben Prognosen mit so hoher Ungenauigkeit und welche praktischen Handlungsmöglichkeiten sollen sich daraus eröffnen? Auf welcher theoretischen Basis werden sie erstellt? Offensichtlich wird die Wirklichkeit nicht als Grundlage genommen. Da wundert es nicht, dass die daraus folgenden Maßnahmen so treffsicher wie Schrotmunition sind.
Die Wirklichkeit jedoch besteht darin, dass die derzeitigen Preissteigerungen nicht Ergebnis hoher Nachfrage sind sondern Ergebnis politischer Entscheidungen, die getrieben sind von missionarischem Eifer. Diese Entscheidungen sind die Bepreisung des Kohlendioxid seit 2021 und die Sanktionen gegen Russland. Ob die Beobachtung der Kerninflation gegen Realitätsverweigerung etwas ausrichten kann?
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.mehrwertsteuerrechner.de/inflation/kerninflation/
(2) inflationsrate-in-deutschland-veraenderung-des-verbraucherpreisindexes-zum-vorjahresmonat/
(3) FAZ vom 13. Mai 2023: Phänomen Kerninflation
(4) ebenda
(5) ebend
(6) ebenda
(7) ebenda
(8) ebenda
(9) Siehe dazu Rüdiger Rauls: Inflation und Hochwasser
(10) Preis für Heizöl 2021 bis heute
(11) Preis für Flüssiggas 2015 bis Anfang 2022
(12) FAZ vom 15. April 2023: Lagarde zur Kerninflation
(13) ebenda
(14) ebenda
(15) FAZ vom 16. Mai 2023: Zinserhöhungen wirken erst 2024