In eigener Sache
Um aus einer festgefahrenen, materiell orientierten Welt herauszukommen, braucht es mehr Spiritualität.
Was haben wir ans Licht gebracht in den vergangenen Jahren! Wir haben informiert, kritisiert, protestiert und uns nicht unterkriegen lassen. Damit haben wir einen wichtigen Beitrag für die Gemeinschaft geleistet. Es ist unsere Aufgabe, auch weiterhin auf Missstände aufmerksam zu machen. Doch bleiben wir hier nicht stehen. Wir können nicht nur auseinandernehmen, sondern auch aufbauen. Hierzu braucht es mehr als eine lineare Sichtweise, mehr als kluge Köpfe und scharfe Analysen. Es braucht einen umfassenden Geist, der nicht nur erkennt, was da ist, sondern auch das sieht, was potenziell möglich ist. Es braucht Spiritualität, um durch die anstehenden Herausforderungen zu kommen.
„Das 21. Jahrhundert wird spirituell oder es wird nicht.“ So formulierte es der französische Politiker und Philosoph André Malraux. Wer Missstände enthüllt, wer andere über Verdrehungen und Lügen informiert, wer Gefahren aufdeckt und mit dazu beiträgt, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, beweist Mut und leistet eine wichtige Arbeit. Es kann geradezu lebensrettend sein, für bestimmte Themen zu sensibilisieren. Die Empörung ist hierbei ein kraftvoller Motor. Ärger, Entrüstung, Wut können uns in Bewegung setzen. Doch immer wieder nachzulegen, ohne dabei aufzuzeigen, wo die Perspektiven sein können, lässt den Motor durchdrehen und gibt auf Dauer keinen Antrieb mehr.
Die Schleier der Illusionen müssen fallen (1). Die Lügen, Verdrehungen und Verbrechen müssen sichtbar gemacht werden. Doch ich spüre deutlich in mir, wie satt ich bin, wie überfüttert mit Informationen zu Propaganda, Zensur, Rechtsbrüchen, staatlichen Übergriffen, Herrschaftsideologien, Kriegen und Zerstörung. Ich kann es nicht mehr verdauen. Nicht nur mein Kopf, auch mein Körper kann nicht mehr. Ich kann es nicht mehr ertragen, nur die Probleme vor Augen gestellt zu bekommen, ohne Aussicht auf Auswege, ohne mögliche Lösungsansätze, ohne Weg aus dem Elend heraus.
Ziel ist es, möglichst viele Menschen aufzuklären und wachzurütteln, damit diese — wie? — eine Veränderung herbeiführen. Worauf wird hier gesetzt? Was soll passieren? Bevor sich die Politik zur Verantwortung ziehen ließe, käme es zu einem Bürgerkrieg. Die Justiz hat bewiesen, wie beeinflussbar sie ist. Es ist unmöglich, alle Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Es sind zu viele. Revolution? Wo sind die Visionen, für die gekämpft wird, die Werte, die verteidigt werden, die Gemeinschaften, die sich für sie engagieren? Wie soll sie aussehen, die Welt, die wir dem Great Reset entgegenzusetzen haben?
So fließen die Energien weiter in den Protest. Doch fällt uns nichts Besseres ein, als unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf das zu lenken, was wir nicht wollen, anstatt das weiter zu entwickeln, was wir wollen?
Woher soll die Energie kommen, die uns morgens aufstehen lässt, wenn wir Tag für Tag durch Unrat und Schrott waten? Woher soll die Zuversicht kommen, dass eine bessere Welt möglich ist, woher das Vertrauen, dass der Mensch dazu in der Lage ist, nicht nur zu zerstören, sondern auch neues Leben zu erschaffen? Wollen wir das überhaupt? Oder wollen wir in der uns irgendwie auch lieb gewordenen Vorstellung baden, dass der Mensch eben verloren und alles zu spät ist?
Der Grat ist schmal zwischen der Weigerung, sich anzuschauen, was ist, und dem, was uns in die Tiefe zieht. Wer so tut, als gäbe es kein Problem, und glaubt, alles sei doch einigermaßen in Ordnung, verschlimmert die Sache. Wer sein Augenmerk nur auf das Problem richtet, auch. Wer Krebs hat und so tut, als sei da nichts, der riskiert sein Leben. Wer angstvoll und ohnmächtig nur auf seine Krankheit starrt, auch. Also muss es etwas dazwischen geben, eine Mitte, aus der heraus wir ins Gleichgewicht finden.
Die goldene Mitte
Sicher tut es gut, mit Schmackes seinem Protest freien Lauf zu lassen. Es schmeichelt dem Ego, sich selbst für aufgeweckt zu halten, während andere noch schlafen. Es ist befreiend, seine Gefühle zu äußern. Doch wer im Protest steckenbleibt, der füttert die Gegenseite und macht letztlich das größer, was er nicht will. So konnten „die Eliten“ in den vergangenen Jahren immer fetter werden, gemästet von der Ignoranz der einen und der Empörung der anderen, während der Rest der Menschheit leer ausgeht.
„Den Herrschenden“ ist es egal, wer sie füttert. Sie ziehen alle Aufmerksamkeit — und mit ihnen alle Energien — an sich. Uns fehlt dann diese Energie.
Wir können sie nicht für Dinge verwenden, die uns von Nutzen sein könnten, wie zum Beispiel Nachbarschaftstreffen zu organisieren, um endlich wieder miteinander ins Gespräch zu kommen, gemeinsame Gärten anzulegen und Wohnprojekte zu bilden, um uns vor der auf uns zurollenden Enteignungswelle zu schützen, Tauschbörsen einzurichten, Fahrgemeinschaften und Selbsthilfegruppen, mit denen wir uns der Kontrolle und Überwachung entziehen.
Kritik ist wichtig. Doch ständiges Anklagen fördert die Ohnmacht. Während „die Globalisten“, „die Technokraten“, „die da“ immer mächtiger werden, verhalten wir uns wie Kleinkinder, die zu Mama oder Papa laufen und den bösen Nachbarjungen verpetzen. Ein Erwachsener verhält sich anders. Er übernimmt die Verantwortung für die Situation und wartet nicht darauf, dass sich entweder die ändern, die er kritisiert, oder dass er möglichst viele Leute zusammenbekommt, die mit ihm protestieren. Ein erwachsener und verantwortungsbewusster Mensch macht sich nicht von anderen abhängig.
Enthüllungsjournalismus einmal anders
Als ich 2018 damals noch im Rubikon zusammen mit Elisa Gratias die Redaktion Aufwind mitbegründet habe, ging es um die Frage, wie wir inmitten all der schlechten Nachrichten nicht den Mut verlieren und handlungsfähig bleiben. Die Antworten suchten wir in psychologischen, philosophischen und spirituellen Sichtweisen. Uns selbst brachten wir als Subjekte ein. Wir wollten nicht „von oben herab“ die uns am Herzen liegenden Inhalte behandeln, sondern auch unsere eigenen Erfahrungen und Gefühle mit einbeziehen, keine guten Ratschläge geben, sondern mit unserem eigenen Leben andere inspirieren.
So richtig ernst wurden wir am Anfang nicht genommen. Himbeertee und Räucherstäbchen gegen die Übel dieser Welt? Es waren die „harten Themen“, die das Rennen machten. In der Coronazeit verbesserte sich unser Ansehen. Viele suchten bei uns nach Hoffnung, Zuversicht und Trost. Heute werden unsere Themen auch von anderen Redaktionen aufgenommen. Auch die Spiritualität, die bei uns von Anfang an mit dabei war, bekommt ihren Platz.
Spiritualität bedeutet nicht, dass alle im Schneidersitz meditieren oder regelmäßig zur Beichte müssen. Spiritualität ist nicht Religion. Der Begriff kommt von spiritus — Geist, oder spiro — ich atme.
Auch wenn wir Schwierigkeiten mit einer sinnlich nicht fassbaren und rational nicht erklärbaren transzendenten Wirklichkeit haben: Atmen tun wir alle.
Es ist nicht nur hilfreich, angesichts einer schlechten Nachricht tief durchzuatmen. Der Atem weist darauf hin, dass es eine Verbindung gibt zwischen innen und außen. Da wir das, was wir einatmen, mit unseren fünf Sinnen nicht erfassen können, ist Atmen gewissermaßen eine übersinnliche, spirituelle Erfahrung. Sie hat nichts mit einer Flucht in irgendwelche Traumwelten zu tun, sondern im Gegenteil damit, sich in der Realität des Hier und Jetzt zu verankern, ohne dabei zu glauben, es gäbe nur den Boden unter unseren Füßen.
Spiritualität bedeutet das gleichzeitige Annehmen der eigenen Begrenzung und das Öffnen für etwas Unfassbares, Unkontrollierbares. Das erfordert Mut. Der Beiname Mut-Redaktion machte ihm alle Ehre. Es braucht Mut, an sich selbst zu arbeiten und die Lösungen für die eigenen Probleme nicht von anderen zu erwarten. Es braucht Mut, über Persönliches zu schreiben und die Angst vor Verurteilung zu überwinden. Es braucht Mut, in einer materiell und linear orientierten Welt von einem multidimensionalen Kosmos zu reden und von einer göttlichen Quelle. Es braucht Mut, inmitten all der Kriege und Zerstörungen von Liebe zu schreiben, von Vertrauen und Zuversicht. Es braucht Mut, sich nicht zu fragen, was es bringt, sondern es einfach zu tun, weil es getan werden will.
Spielwiese
Das brauchen wir jetzt: ins Handeln kommen. Es geht an die Praxis, nicht nur darum, was wir denken, sondern wie wir uns verhalten und unsere Gedanken umsetzen. Ganz konkret. Können wir das? Können wir Frieden? Können wir innerlich zu-frieden sein, auch wenn draußen die Welt zusammenbricht, oder können wir nur meckern?
Wie verhalten wir uns den Menschen gegenüber, denen wir jeden Tag begegnen? Wie halten wir es mit der Verbindlichkeit, mit der Freundschaft, der Toleranz? Lassen wir auch die ausreden, die nicht mit uns einer Meinung sind, oder bewegen wir uns nur in unseren eigenen Echokammern? Lassen wir uns auch dann auf Unbequemes ein, wenn es an unser Eingemachtes geht, unsere eigenen Muster und Strukturen? Haben wir den Mut, uns berühren, verunsichern, erweichen zu lassen? Haben wir nur Verstand oder haben wir auch Herz? Können wir uns wirklich auf andere einlassen und uns auch in unserer Schwäche zeigen, oder können wir nur fachsimpeln und Lektionen erteilen?
Jetzt ist Gelegenheit, sich auf unsicheres Terrain zu begeben. Toben wir uns aus! Probieren wir aus. Wie ist es, nach draußen zu gehen und Menschen anzulächeln, die uns begegnen?
Wie fühlt es sich an, in anderen nicht den Gegner zu sehen, sondern potenzielle Verbündete? Spinnen wir Fäden, die die Menschen miteinander verbinden, weben wir mit an dem großen multidimensionalen Netz, in dem alles miteinander verbunden ist und alles sich gegenseitig beeinflusst.
Werden wir wirksam. Geben wir Impulse. Pflegen wir die Hoffnung, das Vertrauen, die Zuversicht, begießen wir sie wie zarte Pflanzen. Das können wir ab jetzt sofort tun. Lernen wir zu erkennen, dass das Leben sich nicht auf einer Linie abspielt, sondern dass wir ein weites Feld zur Verfügung haben, auf dem wir uns ausprobieren können. Lösen wir uns davon, zusammengekrümmt und beschränkt durchs Leben zu gehen, und breiten wir uns energetisch aus.
Werden wir spirituell. Lassen wir das einengende und erniedrigende Weltbild hinter uns, das sich aus der Vorstellung ergibt, es gäbe nur die Materie. Wachsen wir aus der Kleinheit heraus und werden wir groß. Seien wir, was wir eigentlich sind: verkörperter Geist. Entdecken wir unsere Fähigkeiten und nutzen wir sie. Und laden wir unseren Nachbarn zum Tee ein. Es muss ja kein Himbeertee sein.