In die Reue kommen

Ehrliches Bedauern kann Gräben überwinden und tiefe Verbindungen schaffen.

„Non, je ne regrette rien“ — ich bedaure nichts, singt die französische Sängerin Edith Piaf in einem ihrer unvergessenen Chansons. Gemeint sind hier die Erfahrungen eines Lebens, von denen sie keine, auch nicht die schweren, missen möchte. Was geschehen ist, ist geschehen. Wir können es nicht ändern. Uns bleibt, es anzunehmen. Doch was tun wir, wenn wir bereuen, was wir einmal getan haben, wenn uns erst im Nachhinein bewusst wird, dass wir einen Fehler gemacht haben und vielleicht einen anderen Menschen gewollt oder ungewollt schwer verletzt haben? Warten wir bis zu unserem Totenbett oder handeln wir vorher?

Reue ist das Bedauern oder die Zerknirschung über etwas Getanes oder Unterlassenes. Der Begriff kommt aus dem althochdeutschen (h)riuwa: Leid, Trauer, Schmerz, Unglück, Klage (1). Es ist der seelische Schmerz, der das Gefühl der Beschämung oder Schuld und den Wunsch nach Wiedergutmachung beinhaltet. Reue tritt ein nach Entscheidungen oder bei der Schädigung anderer Menschen, nach Unachtsamkeiten und Ungeschicklichkeiten, nach Fehlern und Irrtümern.

Vielen ist die Reue vor allem aus der Religion bekannt. Für den Büßenden steht sie in Verbindung mit dem Vorsatz, fortan nicht mehr zu sündigen. Nach der Ursünde, dem Griff Evas nach der verbotenen Frucht und der darauffolgenden Vertreibung aus dem Paradies, haftet Christen die Sünde an, Jesus ans Kreuz geheftet und damit indirekt Gott ermordet zu haben. Um sich von ihren Sünden zu reinigen, blieb vielen Gläubigen nur noch die Selbstgeißelung und Selbstzerstörung.

So sind heute Reue, Buße und Sünde nicht nur aus der Mode gekommen, sondern haben auch einen schlechten Beigeschmack. Mancher mag an Folterwerkzeug und düstere Prozessionen denken, an Scheiterhaufen und gaffende Mengen. Da ist es nur allzu verständlich, wie Edith Piaf nichts zu bereuen und das unangenehme Gefühl weit von sich zu schieben, möglichst bis ans Ende unseres Lebens, bis es nicht mehr anders geht und wir einem ehrlichen Rückblick auf das eigene Leben nicht mehr ausweichen können.

Vielen fällt es schwer, sich für eine begangene Tat zu entschuldigen und mit den Menschen, denen sie Unrecht getan haben, Frieden zu schließen. Klein beizugeben erscheint vielen als eine Demütigung, eine unzumutbare Selbsterniedrigung, die den Geschädigten triumphieren lässt.

Wer will sich das antun? Und so beharren viele auf ihrer Position und lassen sich nicht anmerken, dass sie vielleicht Zweifel an der Richtigkeit ihres Handelns haben.

Festgefahren

Angesichts der Enthüllungen zu den Ereignissen der vergangenen Jahre fällt es mir schwer zu glauben, dass so viele Menschen weiterhin an den alten Narrativen festhalten, weil sie von deren Richtigkeit überzeugt sind. Ich kann mir vorstellen, dass viel mehr Menschen zweifeln, als es sichtbar ist. Fast erscheint es mir wie ein hilfloses Wiegenlied, wenn jemand mantrahaft wiederholt, dass die große gedruckte Zeitung, die er liest, ja nicht zum Mainstream gehöre, und sich weigert, sich daneben auch über unabhängige Kanäle zu informieren, um sich eine wirklich eigene Meinung zu bilden.

Hand aufs Herz: Niemand, der ernst genommen werden will, trägt seine Scheuklappen zur Schau und outet sich damit freiwillig als borniert. Kein einigermaßen gebildeter Mensch glaubt plötzlich nur noch an „die“ Wissenschaft. Jemand, der eigenständig denkt, bezeichnet nicht von einem Tag auf den anderen alle diejenigen, die nicht seiner Meinung sind, als Verschwörungstheoretiker, Rechtsextreme, Antidemokraten, Antisemiten und Staatsfeinde, und am besten alles zusammen.

Wenn Menschen, die auf ihren Verstand und ihren Intellekt stolz sind, plötzlich als Verfechter einer Einheitsmeinung daherkommen und auch dann nicht davon ablassen, wenn ihr Irrtum längst offensichtlich geworden ist, dann hat das vielleicht auch damit zu tun, dass wir es nicht gelernt haben, mit Irrtümern und Fehlentscheidungen umzugehen.

Wie ein Schlachtruf erklingt das „Ich-bereue-nichts“ der Hartnäckigen, die es nicht schaffen, ins Bedauern zu kommen und ihre Haltung zu ändern.

Der erste Stein

Es war falsch, Milliarden Menschen einzusperren. Es war falsch, die Schulen zu schließen und damit unzählige Kinder zu traumatisieren. Es war falsch, Millionen alte und kranke Menschen alleine sterben zu lassen und entbindende Frauen unter Masken förmlich zu ersticken. Es war falsch, alle Orte zu schließen, an denen Menschen zusammenkommen, und Spaziergänger von Parkbänken zu scheuchen. Doch ich habe damit nichts zu tun. Es ist, als hätten sich die Bestimmungen, Verordnungen und Verbote quasi verselbstständigt — und existierten ohne Bezug zu den Menschen, die sie befolgt und befürwortet haben.

Doch wir haben etwas damit zu tun. Wir alle. Wo wir auch stehen: Das Geschehene betrifft uns alle. Und ob wir es wollen oder nicht: Wir alle haben irgendwann Fehler gemacht. Auch wenn es unbeabsichtigt war: Wer könnte von sich behaupten, noch niemandem Schaden zugefügt zu haben?

Wir alle waren einmal ungerecht, feige, hochmütig, selbstgerecht, borniert. Wir alle haben verletzt. Niemand ist davor gefeit, sich zu irren. Niemand ist über alle Zweifel erhaben. Niemand kann von sich behaupten, wirklich den Überblick zu haben und alle Zusammenhänge zu durchschauen.

Damit haben wir eine Basis, auf der wir uns erneut begegnen können. Wie in dem Filmklassiker „Gilda“, in dem am Ende beide Protagonisten einsehen, dass sie gemein zueinander waren und keiner dem anderen moralisch überlegen ist, können wir zusammenkommen und gemeinsam die Reue erlernen. Nicht, indem wir uns selber oder unser Gegenüber erniedrigen, sondern indem wir uns weich und offen füreinander machen — und damit letztlich groß.

Ich sehe dich

Hierfür ist es nie zu spät. Jetzt sehe ich, was ich getan habe. Jetzt erkenne ich die Auswirkungen meines Handelns. Es tut mir leid. Doch hier gibt es kein Büßerhemdchen, keine scharfen Ketten, keine Gaffer, die sich über die Sünden anderer das Maul zerreißen, keine Schauprozesse für Sündenböcke und schwarze Schafe. Wir müssen nicht auf Knien zu Kreuze kriechen und anderen die Füße küssen. Diese Geschichten liegen hinter uns. Es reicht, wenn wir einander ehrlich in die Augen schauen: Ich sehe deinen Schmerz.

Wem das gelingt, der leistet einen wirklichen Beitrag für den Frieden und hilft mit, eine Basis für neue und solide Verbindungen zu schaffen. Wir begegnen uns als echte Weggefährten, erfüllt von dem Gefühl, gemeinsam eine höhere Stufe erreicht zu haben. Die Differenzen, die wir erlebt haben, sind überwunden und haben uns einander nähergebracht. Die Erfahrung hat uns einander nähergebracht. Ein neues Vertrauen ist daraus erwachsen, gemeinsam etwas geschafft zu haben, an dem wir hätten zerbrechen können. Partnerschaften können entstehen, die nicht so schnell wieder auseinandergebracht werden können.

Das wünsche ich mir. Ich wünsche mir, dass es uns gelingt, von unseren hohen Rössern abzusteigen, unsere Bedürftigkeit zu überwinden, unsere Projektionen und Ängste und all das, was uns daran hindert, uns füreinander zu öffnen. Auf die Frage, wer damit anfängt, sagte mir einmal jemand: „Der Mensch, der danach Sehnsucht verspürt.“