Im Zweifel für die Freiheit!
Der grassierende Sicherheitswahn in Deutschland verlangt nach einem Gegengewicht: einer neuen Freiheitsbewegung.
Der Mensch ist unfrei geboren, und überall werden seine Ketten derzeit noch enger gezogen. Können Sie sich erinnern, dass Politiker in jüngster Zeit „Freiheitspakete“ geschnürt oder „Freiheitsgesetze“ erlassen hätten? Wäre doch angemessen für unsere Hemisphäre, die sich „freie Welt“ nennt. Stattdessen will man die Überwachung auf öffentlichen Plätzen ausweiten, als würden sich todesbereite Amokläufer davon abschrecken lassen. Und man will die ärztliche Schweigepflicht einschränken, als würden Terroristen mit den Worten „Herr Doktor, ich habe Kopfschmerzen, außerdem plane ich ein Attentat“ beim Arzt vorsprechen. Das Ganze ist so durchsichtig und so perfide, die Reaktionen in Presse und Öffentlichkeit sind so lau und devot, dass man das Fürchten kriegt. Aber nicht vor dem unwahrscheinlichen Fall, von einem Amokläufer erwischt zu werden, sondern vor dem sehr wahrscheinlichen, dass die Politik dabei ist, unserer Freiheit den Todesstoß zu versetzen.
Wussten Sie, was das höchste Gut in einer Demokratie ist? Raten Sie! Die Freiheit? – mitnichten. Gleichheit? Solidarität? Rechtstaatlichkeit? Menschenrechte? Daneben getippt! Mitgefühl etwa? Die Liebe gar? Oder was Demokratie eigentlich definiert: Bürger-Mitbestimmung. Alles falsch. Man höre und staune: „Sicherheit ist das höchste Gut einer Demokratie“. So gesagt von Horst Seehofer, anlässlich eines Trauerakts für die Opfer des Anschlags vor dem Münchener Olympia-Einkaufszentrums. Damit liegt der Bayer auf einer Linie mit Ex-Innenminister Friedrich, der Sicherheit 2013 zum „Super-Grundrecht“ erklärt hatte. „Super“ bedeutet nicht nur „prima“, sondern dem Wortsinn nach „über“. „Superman“ ist der Übermensch. Sicherheit wäre demnach das Recht über allen anderen Rechten, der Trumpf, der im Konfliktfall alle anderen Karten sticht. Daher auch Paragraf 1 unseres Grundgesetzes: „Die Sicherheit des Menschen ist unantastbar“? Oder – habe ich das falsch in Erinnerung?
Können Sie sich an den Medienaufschrei erinnern, der Seehofers und Friedrichs Diktum folgte? Es ist ja auch eine Ungeheuerlichkeit, den Wertekatalog einer Demokratie einfach vom Kopf auf die Füße zu stellen! Damit wären die Errungenschaften (Errungenschaften im wahrsten Sinn des Wortes!) von 250 Jahren Aufklärung, Liberalismus, Demokratiebewegung, sozialen und Bürgerrechtsbewegungen mit einem Handstreich vom Tisch gewischt. So was konnten unsere wohl informierten Bürger und deren mediale „Sprachrohre“ natürlich nicht einfach so durchgehen lassen. Da hagelte es Schelte, und die so Vorpreschenden mussten sich für ihren Fauxpas entschuldigen und zurücktreten. War es nicht so?
Super-Politiker und ihr "Super-Grundrecht"
Nein, da ist wohl leider meine Fantasie mit mir durchgegangen. In Wahrheit provozierten die ungeheuerlichen Aussagen der beiden Politiker so gut wie kein öffentliches Echo. Man hat sie durch gewunken – „wissen wir eh“. Gero von Randows Artikel in der „Zeit“ vom 4. August ist es zu verdanken, dass bei dem Thema überhaupt mal jemand eingehakt hat – in einem Magazin, das viel gelesen wird. Von Randow fand Seehofers Wort über die Sicherheit bedenklich und fragte scheinbar naiv: „Ach so? Nicht die Freiheit?“ Sicherheit also vor Freiheit? Sicherheit vor Würde? Geraten zwei Grundwerte in Konflikt, „sticht“ das gewichtigere. Die USA handhaben es schon längst so. Siehe Folterfotos von Abu Ghraib. Die Logik, die hinter dem Diktum vom „Supergrundrecht“ steht, ist ungefähr folgende: Der höchste Wert ist noch immer das menschliche Leben, denn ohne am Leben zu sein, kann niemand seine Menschenwürde in Anspruch nehmen. Um das menschliche Leben zu schützen, muss der Staat also Maßnahmen ergreifen, muss die Bevölkerung flächendeckend ausspionieren, an allen Ecken und Enden martialisch bewaffnete Soldaten hinstellen, Menschen grundlos auf der Straße kontrollieren, Demonstrationen verbieten, Grundrechte schleifen und notfalls auch mal zur Folter greifen, um einem Gefährder sein Bomben-Versteck zu entlocken.
In der Kurzfassung besagt dieses Logik: „Wir sichern die Menschenwürde am besten, indem wir die Menschenwürde verletzen.“
Aber abgesehen von den absoluten Hardlinern – warum gab es so wenig Entrüstung bei den halbwegs vernünftigen Teilen der „politischen Klasse“ und bei den Bürgern? Kapierendie einfach nicht, was da läuft? Sind ihnen Freiheit und Würde egal? Oder ducken sie sich tatsächlich schon – wie Konstantin Weckers Lied „Empört euch“ suggeriert – präventiv vor einer möglichen kommenden Diktatur? Denn genau darum geht es: um eine mögliche Diktatur, die das Anfangsstadium ihrer Etablierung längst überschritten hat. Die Zwangsherrschaft ist psychologisch ebenso wie organisatorisch (z.B. durch einen hochgerüsteten Überwachungsapparat) in ganz Europa bestens vorbereitet.
Faschismus im Stadium der Potenzialität
Der einzige Weg, um sich in einer Diktatur wohl zu fühlen und nicht dauernd wahlweise bei der Obrigkeit oder bei seinem eigenen Gewissen anzuecken, ist nun mal: sich der Diktatur anzuschließen, zu ihrem Mitläufer oder Büttel zu werden, den Zwingherren anzuhimmeln und seine Weltsicht mit Copy und Paste in den eigenen Kopf zu verpflanzen. Viele Türkinnen und Türken machen es derzeit vor – Menschen, die sich nicht entblöden, auf deutschen Plätzen pro Erdogan, also faktisch pro Todesstrafe, Folter, Journalistenverhaftungen und Justizwillkür zu demonstrieren, während ihr Idol das Demonstrationsrecht im eigenen Land mit Füßen tritt. Im Gegensatz zu der von Polizisten massiv behinderten Occupy-Demonstration 2012, bei der Frankfurter Ordnungshüter Konstantin Wecker sogar das Singen verboten haben, hatten die Behörden gegen die Pro-Diktatur-Demos nichts einzuwenden? Wenn man die schon installierte offene Diktator derart gewähren lässt, wundert es eigentlich niemanden mehr, dass der Faschismus im Stadium seiner „Potenzialität“ (Pegida u.ä.) auf unseren Straßen wüten darf wie er will. Schämt sich denn niemand mehr?
Mit Besonnenheit könne man die Sicherheit der Bürger nicht garantieren, sagte Seehofer auch. „Zwischentöne sind Krampf im Klassenkampf“, sang – auch dies eine fragwürdige Aussage – Franz Josef Degenhardt. Besonnenheit ist Krampf im Klassenkampf von oben, meint wohl Seehofer. Von solchen Politikern können wir Bürger nicht Mut, nicht Gelassenheit und Augenmaß lernen – nur Feigheit, die staatlicherseits eine erwünschte Tugend ist, weil man über Verängstigte leichter verfügen kann.
Wir sind ein Europa der Feiglinge geworden, die unmündigen Kindern gleich bei Papa Staat unterkriechen und dafür ihre eigene Entmündigungserklärung bereitwillig unterschreiben.
Viele zucken ja schon ängstlich zusammen, wenn sie ohne Helm und Knieschützer Rad fahren oder bei gleißender Mittagssonne ohne Licht Auto fahren sollen. Oder wenn sie ihr Smartphone zu Hause vergessen haben, so dass SMS-Partner sie wegen nicht pünktlich erfolgter Antwort schimpfen könnten. Gegen Risiken gibt’s Versicherungen und gegen gelegentlich müde aufflammende Wut Beruhigungstabletten. Wie kann man von einem solchen Volk erwarten, mal gegen Lehrer, Chefs oder Polizisten aufzumucken – geschweigen denn gegen die staatlichen Gewaltmonopolisten?
Eine Kultur der Feigheit
Ist das Wort „Feigheit“, das ich hier benutze, etwa zu hart? Wie soll man es sonst nennen, wenn jemand vor Nichtigkeiten Angst hat oder vor wirklichen Gefahren, die jedoch nur mit äußerst geringer Wahrscheinlichkeit Realität werden (z.B. von einem Terroristen erschossen zu werden)? Von Karl Valentin gibt es einen Sketch, in dem sich die Hauptfigur in einem Bergwerk unter der Erde einmieten will. Warum? Aus Angst, dass ihm ein Meteor auf den Kopf fällt. „Die Sicherheit geht in so einem Fall über die Seltenheit“, erklärt Valentin. „Und das soll dann alles gewesen sein – ein Leben ganz ohne den Wind? Versorgt und verplant und ohne Idee, was wir wollen und wer wir sind.“ So beschreibt Konstantin Wecker den „befriedeten“ Sicherheitsmenschen, der es sich in Abhängigkeiten und Entfremdung bequem gemacht hat.
Die Staatsmacht hat uns alle eine zutiefst unmoralisches Angebot unterbreitet (und die meisten von uns sind zu ihrer Schande bereit, es anzunehmen): „Kommt, wir werfen eure Feigheit und unsere Herrschsucht zusammen und basteln daraus eine schöne, gemütliche Diktatur. Die paar linken Gutmenschen und Freiheits-Nostalgiker, die dagegen sind, können wir ja ignorieren und wenn nötig niederknüppeln.“ Unterwürfigkeit fühlt sich offenbar für die meisten besser an, als wir noch freiheitsliebenden, kritischen Zeitgenossen glauben. Die Verantwortung „oben“ abzugeben, die Richtung dem Obrigkeits-Navi überlassen und das Hirn am Eingang zur Veranstaltung „gelenkte Demokratie“ abzugeben – das erspart die Mühen des Selberdenkens. Erich Fromm hat den Mechanismus lustvoller Unterwerfung in seinem Buch „Die Furcht vor der Freiheit“ in aller Breite und Tiefe wunderbar dargestellt.
Freiheit – das entbehrliche Sahnehäubchen
Wahrscheinlich wird die Freiheit nicht so sehr am Hass ihrer Gegner zugrunde gehen, als an mangelnder Liebe seitens der Bürger. Freiheit, Menschenrechte, Gewaltenteilung – schöne Dreingaben, Sahnehäubchen auf dem Kuchen des umhegten und verplanten Bürgerfriedens. Man genießt sie gern, solange sie da sind – aber direkt schlimm wäre es auch nicht, wenn sie einmal abhandenkämen, oder? Vor dem Schlimmsten (Folter und so) werden wir uns schon zu bewahren wissen, indem wir rechtzeitig mit den Wölfen heulen. Und die wenigen, die es dann doch betrifft – na, die werden’s schon verdient haben. „Diktatur – ja bitte“ scheint ein Großteil des Wahlvolks seinen Zwingherren schon durch seine völlig passive Grundhaltung signalisieren zu wollen.
Gero von Randow (in der „Zeit“) hat sich wirklich das Verdienst erworben, die Gefahr glasklar benannt zu haben. Naja mit der Zeit-typischen Ausnahme, dass er den Neoliberalismus als eine der Ursachen für illiberale Tendenzen in der Politik „natürlich“ nicht zu benennen wagt. Aber es tut gut, an exponierter Stelle zu lesen, was er über den Demokratieschwund, den Verlust an Freiheit und Menschlichkeit in Deutschland, in Europa und in wichtigen außereuropäischen Staaten (Russland, Türkei und USA) zu sagen hat. Es sei der (falsche) Eindruck entstanden, „die Demokratie sei sowieso da, wie Luft und Wasser, und zur Wahl stünden immer bloß Parteien, Präsidenten und Koalitionen – aber nie die Demokratie selbst. Das hat sich jetzt geändert.“ Der Autor nennt als Beispiele zunächst Ungarn, Polen und ein Frankreich, das – ähnlich wie die Türkei in einem Dauer-Ausnahmezustand lebt – ungerügt von seinen noch im „Normalzustand“ lebenden Nachbarstaaten.
Sind wir nicht drastisch genug gewarnt worden?
Ein Trend zur „illiberalen Demokratie“ sei festzustellen. Ein auf Wahlen basierendes parlamentarisches System auf der einen und Bürgerfreiheit und Menschenrechte auf der anderen Seite seien nicht mehr automatisch aneinander gekoppelt. Eine Regierung könne Opposition, Gerichte und Medien so stark bedrängen, dass ein Denken und Handeln außerhalb der von den Machthabern vorgegebenen Bahnen immer schwieriger werde. „Bis eine Atmosphäre entstanden ist, in der die Wahl für sie gesichert ist – also nicht mehr frei.“ Nackte Gewalt bleibt dann als Ultima Ratio, falls die Manipulation nicht mehr im erwünschten Ausmaß funktioniert. Die Drohung damit ist längst präsent, bevor sich Gewalt manifestieren muss. Die Bürger spüren dies zumindest unterschwellig, „denn Autoritärsein umfasst die Möglichkeit, die Unterworfenen zu überwältigen“. Nach Meinung von Randows beraubt Illiberalität Demokratie jedoch ihres Sinns. In Nachfolge des österreichischen Rechtswissenschaftlers Hans Kelsen (gest. 1973) betrachtet der „Zeit“-Autor Liberalität nicht als „Zugabe“ oder „Sahnehäubchen“, sondern als „Existenzgrund“ der Demokratie.
Warum ist Freiheit bei uns kein Thema mehr? Warum andauernd diese – Entschuldigen Sie den Ausdruck! – Scheißsicherheit, mit der man uns seit Jahrzehnten klein, ängstlich und fügsam hält? Sollte uns die dichte Aufeinanderfolge faschistischer, „realsozialistischer“ und neoliberal-gelenktdemokratischer Unrechtsregime im 20. und 21. Jahrhundert nicht mit der Nase darauf stoßen, wie wichtig Freiheit war und weiter bleibt? Wie oft muss die Freiheit noch in den Staub getreten werden, bevor wir leidenschaftlich (nicht nur defensiv und halbherzig) ihre Partei ergreifen?
Wie viele Färbungen ideologischer Art, wie viele Gesichter und Masken muss Unfreiheit noch annehmen, bevor wir begreifen, dass Despotismus verachtenswert ist und dass Staatlichkeit – ja jegliche Art von Macht und Autorität – unserer wachsamen Kontrolle bedarf?
Brauchen wir wirklich noch faschistische Regierungschefs in Österreich und Frankreich am Ruder und einen deutschen (zur Zeit wahrscheinlicher: einen bayerischen) Erdogan, der mit Ausnahmezuständen, Antiterror-Sondergesetzen, Demonstrationsverbot und Massenverhaftungen vermeintlicher Terror-Sympathisanten durchregiert? Müssen wir das alles wirklich noch mal ganz real, unter unglaublichen Opfern und Qualen durchexerzieren, bevor wir „ex negativo“ begreifen, was wir an Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung und Menschenwürde hatten? Waren wir – waren speziell wir Deutschen – denn noch nicht drastisch genug gewarnt worden?
Erdogan als Vorläufer
„Eigentlich hatte sich niemand mehr so recht vorstellen können, dass das Kämpfen noch mal nötig werden könnte“, schreibt der „Zeit“-Autor. Die liberalen Kräfte scheinen erschlafft und fühlen sich zu sicher. So könnte es den irritierend selbstbewusst auftretenden Despoten und Freiheitsfeinden gelingen, uns in die Defensive zu treiben und – wie es teilweise schon geschieht – am Nasenring durch die Manege zu führen. Bevor wir Zartbesaiteten angesichts der sich überstürzenden Berichte über Menschenrechtsverletzungen aus unserer Schockstarre erwachen, befinden sich anderswo die werdenden Diktaturen längst im fortgeschrittenen Stadium ihrer Etablierung. Von den Rändern her greift der Despotismus nach der Mitte des Kontinents, gebärdet sich unflätig, aggressiv und frech, gründet Filialen und Brückenköpfe der Diktatur in die Herzen unserer Großstädte, bis die Krankheit der Immunschwäche gegen Unfreiheit ansteckend wird. Bis wir – dem Mechanismus der Gewöhnung folgend – gelernt haben, die Intoleranz achselzuckend zu tolerieren.
Die Kanzlerin (und die Mehrzahl der europäischen Politiker) betreibt Appeasement, lässt sowohl die türkischen als auch die ungarischen und polnischen Polit-Klingonen gewähren. Besorgtbürgerliche Rassisten dürfen indes in unseren Städten ohnehin schalten und walten wie sie wollen, souffliert von Unions-Politikern, die dieselben Inhalte lediglich vornehmer ausdrücken. Trauen die sich nicht, sich offen für ihre „christlichen“, „sozialen“ oder „demokratischen“ Überzeugung einzusetzen?
Oder sind ihnen diktatorische Maßnahmen klammheimlich gar nicht so unsympathisch, weil sie ohnehin planen, dergleichen in absehbarer Zeit gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen?
Erdogan als Vorläufer. Schleichend wird die Bevölkerung in Deutschland auf diese Weise daran gewöhnt, dass bisher Undenkbares in der „Freien Welt“ möglich ist. George W. Bush und Guantanamo. Netanjahu und die institutionalisierte Demütigung der palästinensischen Bevölkerung. Berlusconi und die nicht mehr nur versteckte Allianz zwischen Machthaberei und gnadenloser Volksverdummung – all dies, wohlbemerkt, im Lager unserer „Freunde“.
Klammheimliche Kumpanei mit den Despoten
Es korrumpiert den Geist in einem Land nicht so sehr, wenn irgendwo auf der Welt ein faschistischer Idiot sein Unwesen treibt und die eigene Regierung dagegen zunächst nichts tun kann – solange sie die Nichtswürdigkeit des Despoten aber – wie im Fall Nordkoreas – klar benennt. Es korrumpiert und pervertiert jedoch alle erlernten Wertmaßstäbe, wenn uns Verächter der Würde und der Freiheit von unseren Volksvertretern windelweich als unsere „Freunde“ und „Partner“ verkauft werden. Menschen, die ohnehin „die Politik“ verachten, werden damit noch weiter in eine apolitische Trotzhaltung hinein getrieben; solchen, die noch an den guten Kern mancher Politiker glauben möchten, zieht die Kumpanei mit den Despoten buchstäblich den Boden unter den Füßen weg. Warum hat man gegen Polen und Ungarn noch kein Verfahren wegen Ausschlusses aus der EU eröffnet? Warum wagen es Politiker wie Juncker noch nicht mal jetzt, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu beenden? Wo bleiben Stimmen, die den Ausschluss des Landes aus der NATO fordern, eines Verteidigungsbündnisses, das einmal speziell dafür gegründet worden ist, um die unfreie Welt auf Distanz zu halten? Wo bleiben zumindest klare Worte der Verurteilung von Folter, Justizwillkür und „Säuberungen“?
Werden es die überlebenden Folter- und Gefängnis-Opfer nicht als Verhöhnung empfinden, wenn sie – falls sie jemals freikommen – erfahren müssen, dass die „freie Welt“ auf ihre Leiden keine andere Antwort hatte als kraftlos vorgetragene „Besorgnis“.
Der „Zeit“-Autor legt der Kanzlerin folgende (von ihm gewünschte, jedoch nicht reale) Rede in den Mund: „Die Zeit ist gekommen, in der man die Demokratie verteidigen muss. Gegen drei Gefährdungen: die Repression in Europas Nachbarschaft, die autoritären Versuchungen europäischer Regierungen, die völkischen Umtriebe im eigenen Land.“ Aber die Kanzlerin und ihre Mentalitätsgenossen im In- und Ausland hüten sich, etwas derartig Klares und Anständiges zu sagen. Auch im Volk ist der Kotau vor den immer arroganter auftretenden Despoten schon vollzogen. Man dürfe die Menschrechtsmaßstäbe Mitteleuropas doch nicht an die ganze Welt anlegen, heißt es da. Das sehe man in der Türkei nun mal anders, winden sich Menschrechts-Defätisten und immerhin sei der Präsident dort demokratisch gewählt. Und ein Riesenreich wie Russland könne ohnehin nicht anders als mit harter Hand regiert werden, usw. Als würden Folter, würden Entwürdigung und Freiheitsberaubung in miesen Gefängnissen einem Menschen nur deshalb weniger wehtun, weil dergleichen in ihrem Land angeblich „zur Kultur“ gehört! Folter ist keine kulturelle Besonderheit wie die Vorliebe der Italiener für Spaghetti. Sie kann überall auftreten, wo Täter skrupellos und Mitläufer lau genug sind – wie wir gesehen haben auch auf dem Schlachtschiff der „Freien Welt“, in den USA. Der Gefolterte, der Entrechtete und Gedemütigte leidet überall gleich, der Getötete, dessen Körper man zerbrochen und achtlos in eine Grube geworfen hat, ist überall gleichermaßen tot. Seine Angehörigen trauern überall ähnlich, und die den Hals zuschnürende Angst vor einem totalitären Unrechtsregime fühlt sich überall gleich furchtbar an.
Mangelnde Solidarität mit den Opfern
Zu einem derartigen „Respekt vor den Kulturen“ von mir ein klares „Nein“. Wenn wir das Konzept des Naturrechts (des jedem Menschen natürlicherweise zukommenden Rechts auf Leben, Freiheit und Würde) preisgeben und einem Relativismus der Werte Raum geben, singen wir das Lied der Täter und verlassen, ja verhöhnen die Opfer in ihrem Schmerz. Wir können nicht jedes in die Diktatur abgleitende Land nach unserem Belieben „umdrehen“, können nicht – so wünschenswert es wäre – jeden Kerker und Folterkeller öffnen, die Gequälten befreien, sie pflegen und heilen, können nicht jeden Täter zur Rechenschaft ziehen. Aber wir können unser Bestes tun, um die Ausbreitung des grassierenden Wahn-Virus zu verhindern, eine Weltherrschaft selbstgewisser, grausamer Dummheit zu verhindern, wie sie mit Namen wie Trump gerade am Horizont der Geschichte aufdämmert.
Das Mindeste, was wir jedoch tun können, selbst wenn es auch in Deutschland mal dunkler wird, ist dies: unser eigenes Herz warm und mitfühlend zu halten, unseren Geist klar und unser Gewissen unkorrumpierbar. Ein klares Nein zur Faschisierung! Abscheu den Despoten und ihren gehirngewaschenen Anhängern! Ein deutliches „Mit uns nicht“ jenen deutschen Politikern, die die Pläne für eine Entdemokratisierung Deutschlands unter dem Vorwand der Terrorismus-Bekämpfung schon jetzt in ihren Schubladen haben. Ihr könnt vielleicht viele für einige Zeit klein und dumm halten, niemals aber alle für immer. Der Zeitgeist muss sich drehen und in eine kraftvolle Bewegung münden. Ihr Schlachtruf muss sein: Im Zweifel für die Freiheit!