Im Zangengriff des Imperiums
Der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko skizziert im Rubikon-Interview, warum ein Krieg der USA gegen Venezuela zum Greifen nahe scheint.
Andrej Hunko, Bundestagsabgeordneter der Partei Die Linke hielt sich vom 16. bis 27 April in Venezuela auf, um sich vor Ort selbst ein Bild von der Lage im Lande zu machen. Während dieser Zeit führte er Gespräche mit Staatspräsident Nicolás Maduro, dem Oppositionsführer Juan Guaido sowie unter anderen mit Vertretern des Internationalen Roten Kreuzes und der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation. Ullrich Mies hat ihn zu seinen Erfahrungen interviewt.
Herr Hunko, Sie waren elf Tage in Venezuela, um sich ein persönliches Bild von der Lage im Land zu machen. Auch haben Sie viele Gespräche mit Funktionsträgern aus Politik, Gesellschaft und NGO’s geführt. Was sind die Kernziele der bolivarischen Revolution und warum hassen die Führungseliten der USA, einiger lateinamerikanischer Nachbarstaaten, aber auch die deutsche Regierung die venezolanische Führung unter Maduro?
Das „politische Erbe“ von Hugo Chávez, die so genannte bolivarische Revolution ist in Venezuela sehr präsent. Auch wenn man sicher darüber streiten kann, wie viel von den ursprünglichen Zielen der Bewegung noch in der Regierungspolitik Ausdruck finden. Was viele aber nicht sehen wollen: Trotz viel Kritik an der Politik Maduros hat die Regierung weiterhin einen beachtlichen Rückhalt in der Bevölkerung. Es wird hierzulande häufig so getan, als stütze sich Maduro allein auf das Militär. Das stimmt nicht. Die Unzufriedenheit mit der schwierigen Situation ist groß und die Zustimmungswerte zur Regierungspolitik sind in den letzten Jahren zurückgegangen. Aber es gibt weiterhin einen beträchtlichen harten Kern des Chavismus – ich schätze mindestens 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung – der trotz alledem die Regierung verteidigt. Solange die Opposition dies nicht anerkennt, wird es keine Lösung des Konfliktes geben.
Diese Unterstützung geht zurück auf eine Bewegung, die im Zuge der historischen Krise Venezuelas nach dem Ende des großen Erdöl-Booms Ende der 1970er Jahre entstanden ist. Die 1980er Jahre waren geprägt von wirtschaftlichem Niedergang und der Verarmung großer Teile der Bevölkerung. Als die Regierung 1989 mit neoliberalen Programmen der Krise begegnete, führte dies zu einem Volksaufstand, der brutal niedergeschlagen wurde. Die 1990er Jahre waren geprägt von einer tiefen politischen Krise, ein wesentlicher Teil der Bevölkerung fühlte sich nicht mehr durch die herrschenden Eliten repräsentiert und war weitgehend vom Wohlstand und auch von demokratischer Teilhabe ausgeschlossen.
Im Mittelpunkt der Politik von Chávez stand die Inklusion dieser zuvor ausgeschlossenen Bevölkerung. Angesichts sprudelnder Einnahmen aus dem wieder verstaatlichten Erdölexport konnte er großzügig Sozialprogramme finanzieren. Kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung waren zentrale Säulen, hinzu kamen partizipative und direktdemokratische Elemente, die den Menschen mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten gaben. Der Staat intervenierte an vielen Stellen in die Wirtschaft, was dem Unternehmertum missfiel.
Die Regierung Chávez war den USA schnell ein Dorn im Auge, was sich in aller Deutlichkeit im Putschversuch 2002 ausdrückte. Seitdem haben die verschiedenen US-Regierungen immer versucht, einen Umsturz zu befördern. Die jüngste Eskalation setzt diese Tradition fort, hat sie mit den offenen Drohungen mit einer Militärintervention aber auf eine neue Stufe gehoben.
Ich denke, die Gründe dafür sind verschieden. Natürlich ist die Kontrolle über die gigantischen Erdölreserven ein wesentlicher Faktor. Venezuela ist auch reich an anderen Ressourcen wie Gold und Gas. Auch Aspekte wie das Verbot von genmanipulierten Pflanzen stehen Profitinteressen global agierender Konzerne entgegen. Hinzu kommen geopolitische Aspekte. So geht es auch um die Zurückdrängung Russlands und Chinas, die intensive wirtschaftliche, politische und im Falle Russlands auch militärische Beziehungen zu Venezuela aufgebaut haben. Die Monroe-Doktrin von Anfang des 19. Jahrhunderts, die Lateinamerika als quasi natürliche Einflusszone der USA definierte, ist in den Köpfen der US-Eliten bis heute präsent. Sicher ist auf jeden Fall, dass Demokratie und Menschrechte zwar ein willkommenes Argument, aber sicher kein Grund für die Interventionspolitik sind.
Seit dem Tod von Hugo Chávez 2013 sind viele der Errungenschaften verloren gegangen. Einerseits durch den Einbruch des Erdölpreises ab 2014 und durch lange mitgeschleppte strukturelle Probleme der venezolanischen Rentenökonomie. Aber auch die Politik der Regierung Maduro in Reaktion auf diese Entwicklungen hat maßgeblich zur Entfaltung der Krise beigetragen.
Die Rolle des Militärs in Staat und Regierung ist nicht zu unterschätzen. Unabhängig davon haben jedoch die Regierung Maduro und die Streitkräfte des Landes einen anti-imperialistischen Charakter bewahrt und immer die Souveränität des Landes verteidigt. Allein dies dürfte Grund genug für die Scharfmacher in Washington sein, die Regierung stürzen zu wollen.
Die Rolle Deutschlands und der EU sind in der aktuellen Schärfe neu. Zwar wurde immer die Opposition unterstützt. Aber es hat eine neue Qualität, wie jetzt am Rockzipfel der USA ein dermaßen offensichtlich aus den USA gesteuerter Umsturz unterstützt wird, der das Völkerrecht mit Füßen tritt.
Am 23. Januar 2019 erklärte sich der Oppositionsführer der Nationalversammlung Venezuelas, Juan Guaidó, zum neuen Interimspräsidenten. Im März 2013 starb der charismatische Führer Hugo Chávez, sein Nachfolger wurde Nicolás Maduro. Das Land befindet sich seit vielen Jahren in der Krise. Könnten Sie ganz kurz den Zusammenhang herstellen — wie kam es zu dieser Zuspitzung am 23. Januar 2019? Kann man Guaidó und die hinter ihm stehenden Kräfte als Faschisten bezeichnen oder wäre das eine zu schlichte Sicht auf die Realitäten?
Die venezolanische Opposition war immer intern gespalten und von unterschiedlichen Strategien zur Machtübernahme geprägt. Seit dem Tod von Chávez hat Schritt für Schritt der radikalere Flügel an Gewicht gewonnen, der nicht auf Wahlen, sondern einen notfalls gewaltsamen Sturz der Regierung setzt.
Die Regierung Maduro hat seit dem knappen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2013 an Zustimmung verloren. Die wachsende Unzufriedenheit und das Wahlsystem führten dazu, dass die in diesem Fall geeinte Opposition 2015 einen Erfolg bei den Parlamentswahlen verzeichnen konnte. Mit gut 56 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielt das inzwischen aufgelöste Oppositionsbündnis „Tisch der Demokratischen Einheit“, MUD, zwei Drittel der Sitze.
Dieser Erfolg war der Ausgangspunkt, der zur aktuellen Zuspitzung geführt hat. Es wäre zu viel, jetzt alle Schritte der Konfrontation aufzuzählen. Aber es lässt sich festhalten, dass die Regierung, die fast alle staatlichen Institutionen kontrolliert, mit allen Mitteln versucht hat, die neu gewonnene Macht der der Opposition einzuschränken. So wurde mutmaßlicher Stimmenkauf in einem Bundesstaat dazu genutzt, das Mandat einiger Abgeordneter in Zweifel zu ziehen. Dadurch, dass sie dennoch vereidigt wurden, erklärte dann der Oberste Gerichtshof alle Entscheidungen des Parlaments für nichtig. Aber auch die Opposition hat in diesem Konflikt nicht immer nach den Regeln gespielt. Von Beginn an hat sie erklärt, die Mehrheit im Parlament zu nutzen, um die Regierung zu stürzen. Das sieht die Verfassung aber nicht vor, weil Venezuela wie die meisten amerikanischen Staaten ein Präsidialsystem hat.
So schaukelte sich die Konfrontation weiter hoch. 2017 gab es extrem gewalttätige Proteste, denen Polizei und Nationalgarde teilweise ebenso gewalttätig begegneten. Nachdem in mehreren Monaten über hundert Menschen aus beiden politischen Lagern getötet worden waren, leitete die Regierung die Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung, ANC, ein. Die Opposition boykottierte sie und so ist die Versammlung, die laut Verfassung über allen anderen Gewalten des Staates steht, ausschließlich mit Regierungsanhängern besetzt. Auch wenn die Wahl der ANC meiner Meinung nach zweifelhaft war, hatte sie zumindest den Effekt, dass die Gewalt abrupt beendet wurde.
Ende 2017 gab es Verhandlungen zwischen Opposition und Regierung über den Umgang mit der Krise und die Ausrichtung der Präsidentschaftswahlen, die im Dezember 2018 hätten stattfinden sollen. Die Opposition hatte vorgezogene Wahlen gefordert. Als die Verhandlungen kurz vor einem Ergebnis standen, ließ die Opposition sie platzen. Die Regierung zog die Wahlen dann dennoch vor, vermutlich um den Streit in der Opposition auszunutzen. Außerdem wurde die Opposition mit verwaltungstechnischen Schikanen belegt. Schließlich boykottierte der Großteil der Opposition die Wahl, wodurch Maduro problemlos gewinnen konnte. Das Ergebnis wurde dann aber von der Opposition, vielen rechtsregierten Ländern Lateinamerikas, den USA und der EU nicht anerkannt.
Als dann am 10. Januar Maduro seine neue Amtszeit antrat, schlug der radikale Flügel der Opposition in enger Absprache mit der US-Regierung zu. Durch eine ziemlich abenteuerliche Interpretation der Verfassung argumentierten sie, es gäbe keinen Präsidenten, weshalb der Parlamentspräsident das Amt vorübergehend übernehmen müsse.
Guaidó war gerade erst in diese Funktion gewählt worden. Seine Partei hatte bei den Wahlen 2015 lediglich 14 der 167 Sitze bekommen, aber durch eine Absprache der vier größten Oppositionsparteien rotierte der Parlamentsvorsitz jährlich. Im vierten Jahr war die kleinste und radikalste Partei an der Reihe, die Partei „Volkswille“, Voluntad Popular, des inhaftierten Rechtsaußen-Politikers Leopoldo López.
Ich denke nicht, dass man Guaidó und seine Partei als faschistisch bezeichnen kann. Es gibt bei ihnen und unter der Anhängerschaft zwar sicherlich auch Faschisten und Rassismus sowie „Klassismus“ gegenüber der sozialen Basis des Chavismus sind sehr präsent. Aber eine faschistische Bewegung sieht anders aus. Zumal die durchaus breite Zustimmung zu Guaidó Anfang des Jahres weniger auf die Verankerung seiner Partei zurückzuführen ist, als auf die Unzufriedenheit über die sich verschlechternde Lebenssituation in Venezuela.
Mein Eindruck ist, dass schon seit dem Platzenlassen der Verhandlungen Anfang 2018 an diesem Szenario gearbeitet wurde. Anstatt an den Präsidentschaftswahlen im Mai teilzunehmen, sollte die Regierung delegitimiert und dann mit Hilfe internationalen Drucks gestürzt werden. Aber wie so oft hat die Rechte und haben die USA die Kräfteverhältnisse im Land völlig falsch eingeschätzt.
Die Sanktionspraxis gegen Venezuela setzt ja bereits im März 2015 unter Obama ein. Das Land wird zur „außergewöhnlichen Bedrohung für die nationale Sicherheit und Außenpolitik der Vereinigten Staaten“ erklärt. Der politischen Führung Venezuelas werden „Menschenrechtsverletzungen“ vorgeworfen. 2016, 2017, 2018 werden die Sanktionen gegen Venezuela noch weiter verschärft, immer mehr Personen der Regierung werden direkt einbezogen. 2019 werden unter anderem die Vermögenswerte der Ölgesellschaft eingefroren. Wie und wodurch kann das Land die militärische Supermacht USA „bedrohen“, ist eine solche Aussage nicht grotesk? Haben wir es mit einer gigantischen Desinformations-Kampagne zu tun — und wenn ja, wer steuert diese?
Natürlich ist es absurd, Venezuela als Gefahr für die nationale Sicherheit der USA darzustellen. Mit dem Dekret von Präsident Obama wurde die Sanktionspolitik gegen Venezuela verschärft. Es gab zwar schon Sanktionen gegen einzelne Politiker und Militärs, die nach Ansicht der USA in Terrorismus und Drogenhandel verstrickt sind, aber ab 2015 sind die Sanktionen deutlich ausgeweitet worden. Die gravierendsten Sanktionen wurden aber im August 2017 und im Januar 2019 erlassen.
Wie ich schon zuvor erwähnt hatte, werden gern Menschenrechtsverletzungen und demokratische Mängel bemüht, um Einmischungen in die inneren Angelegenheiten anderer Länder zu rechtfertigen. Das ist nicht neu, aber sehr durchschaubar. Das bedeutet aber nicht, dass es keine Menschenrechtsverletzungen in Venezuela gäbe. Die gibt es ohne Zweifel und man muss sie verurteilen und strafrechtlich aufarbeiten. Man sollte aber schon sehr genau hinschauen, um was es geht. Denn Menschenrechtsverletzungen kommen leider in allen Ländern Lateinamerikas vor. Die Frage ist immer, inwieweit sie systematisch geschehen, welches Ausmaß sie haben und wie sie aufgearbeitet werden.
Und man darf den Kontext nicht ausblenden. Wenn ich in den hiesigen Medien beispielsweise zu den Protesten in Venezuela lese, dann bekomme ich manchmal das Gefühl, als dürften für die Opposition keine Gesetze gelten. Die Proteste waren teilweise extrem gewalttätig. Bei der Protestwelle 2014 wurden an verschiedenen Stellen Drähte über Straßen gespannt, um Motorradfahrer zu verletzen oder gar zu töten, was auch passierte. Es ist dort geradezu normal, dass bei Demonstrationen Molotow-Cocktails geworfen werden, teilweise wurden auch Schusswaffen benutzt. Mindestens einmal wurde ein Mensch bei lebendigem Leibe verbrannt, weil die Demonstranten der Meinung waren, er sei Regierungsanhänger. Von Seiten der Polizei und der Nationalgarde ist es beim Umgang mit diesen — und auch mit friedlichen — Protesten immer wieder zu überzogener Gewalt gekommen, die ich auch verurteile und die verfolgt werden muss. Aber so zu tun, als würden die Sicherheitskräfte immer grundlos brutal gegen friedliche Demonstranten losgehen, stimmt einfach nicht.
Wenn man von Menschenrechten redet, dann sollte man auch nicht von den Folgen der Sanktionen schweigen. Seit 2017 muss Venezuela deswegen mit massiven Einschränkungen im internationalen Zahlungsverkehr zurechtkommen. Lebensmittel und Medikamente können teilweise nicht importiert werden, weil die Zahlungen blockiert werden. Mehrere Milliarden US-Dollar öffentlicher Gelder Venezuelas sind auf internationalen Banken eingefroren. Kürzlich haben die beiden renommierten Ökonomen Mark Weisbrot und Jeffrey Sachs die Folgen allein dieser Sanktionen untersucht. Ihr Ergebnis: Dadurch sind bis Ende 2018 mindestens 40.000 Menschen ums Leben gekommen. Und in dieser ohnehin schwierigen Situation hat die US-Regierung dann im Januar ein Öl-Embargo verhängt. Venezuela ist fast vollständig vom Verkauf des Erdöls abhängig. Durch die Sanktionen werden nicht allein die Exporte in die USA verboten, die etwa ein Drittel ausgemacht haben. Die USA verfolgen auch andere Staaten und Unternehmen, die stattdessen das venezolanische Öl kaufen wollen. Das ist einfach nur kriminell. Und völkerrechtswidrig ohnehin. Das hat auch schon mehrfach der UN-Sonderberichterstatter über die negativen Folgen einseitiger Zwangsmaßnahmen, Idriss Jazairy, kritisiert.
Bemerkenswert war ja auch, dass nach der Selbsterklärung, die USA würden von Venezuela „bedroht“, das EU-Parlament, mehrere südamerikanische Regierungen und auch die Merkel-Regierung ihre Unterstützung für Guaidó bekundeten. War das eine koordinierte Aktion als Vorbereitung für den Regime-Change? Wer konkret steuert diesen Prozess gegen Maduro? Können Sie spezifische Figuren und Netzwerke benennen, die den gewählten Präsidenten aus dem Amt heben wollen? Sind die Merkel-Regierung und die EU eher Akteur oder Getriebener in der Entwicklung?
Es ist immer schwierig, genau zu durchschauen, welche konkreten Akteure für welchen Handlungen verantwortlich sind. Ich persönlich kenne aber keinem Umsturzversuch, der dermaßen offensichtlich von außen geplant und gesteuert wurde. Es dauerte nur wenige Minuten nach der Selbsternennung Guaidós, bis US-Präsident Trump diesen per Twitter als Präsident Venezuelas anerkannte. Auch danach war völlig offensichtlich, dass alle Schritte in enger Absprache mit der US-Administration gemacht wurden. Und wenn man sich anschaut, wer dort aktuell für die Venezuela-Politik zuständig ist, dann wundert einen nichts mehr. Elliot Abrams, der Koordinator der Venezuela-Politik, ist ein verurteilter Kriegsverbrecher, der persönlich an der Vertuschung eines Massakers von US-gestützten Truppen an über 900 Menschen in El Salvador im Jahr 1981 beteiligt war. Der nationale Sicherheitsberater John Bolton gehört seit Jahrzehnten zu extremen Flügel des außenpolitischen Establishments der USA und lechzt geradezu nach dem nächsten Krieg im Interesse von US-Unternehmen. Außenminister Mike Pompeo flapste erst kürzlich darüber, wie er als CIA-Direktor log, betrog und stahl. Auch Vizepräsident Mike Pence lässt keinen Zweifel daran, dass die USA entscheiden wollen, wer Venezuela regiert.
Die Bundesregierung und die anderen EU-Mitgliedsstaaten wirken da eher wie Getriebene. Aber das macht die Sache natürlich nicht besser. Sie haben sich mit ihrer Venezuela-Politik völlig vergaloppiert und den Konflikt unnötig mit befeuert. Vielleicht wollte die Bundesregierung angesichts diverser Differenzen mit der US-Regierung auch einfach mal ein Zugeständnis machen und sie in dieser Frage bedingungslos unterstützen.
Es wird ja von westlicher Seite immer wieder behauptet das Leid des venezolanischen Volkes sei das Ergebnis der Misswirtschaft von Chavez und seines Nachfolgers Maduro. Wie sieht die Realität aktuell aus, auch angesichts der Tatsache, dass die USA sowie die EU keine Gelegenheit unterlassen, das Land zu drangsalieren, mit Sanktionen zu überziehen, Blockaden einzuführen etc.?
Die Sanktionen haben die Krise in Venezuela ohne Zweifel massiv verschärft. Das dürfte ja auch das Ziel sein, die ökonomische Erdrosselung, damit die Menschen sich gegen die Regierung wenden. Das trifft auf die Zeit seit August 2017 zu und dürfte sich dieses Jahr enorm verschlimmern, wenn es nicht zu einer Lösung der politischen Krise und damit zum Ende der Sanktionen kommt.
Aber man muss auch anerkennen, dass die Lage vor den schlimmsten Sanktionen, also vor August 2017 schon schwierig war. Daran hat die Regierung Maduro einen maßgeblichen Anteil. Es gibt strukturelle Probleme wie die Abhängigkeit vom Erdöl, die unter Chávez nicht gelöst, sondern eher noch forciert wurde. Aber es war vor allem die Wirtschafts- und Währungspolitik der Regierung Maduro im Kontext des Ölpreisverfalls ab 2014, die zu großen makroökonomischen Ungleichgewichten geführt haben. Das sollte man nicht kleinreden, auch wenn es dann durch die Sanktionen verschärft wurde.
Das Problem ist jetzt, dass eine wirtschaftliche Erholung kaum möglich ist, solange die Sanktionspolitik besteht. Das macht eine politische Lösung des Konfliktes umso dringlicher.
Maduro betont die Unrechtmäßigkeit der Sanktionen und der Beschlagnahmungen venezolanischen Vermögens durch internationale Banken auf Druck der USA, dies verschlimmere die Lage im Land. Hunderttausende sollen das Land bereits verlassen haben. Wie schätzen Sie die innere Lage Venezuelas aufgrund der Versorgungslage ein? Sie haben ja auch Vertreter humanitärer Organisationen getroffen. Was haben die gesagt? Liefern diese eine faire Analyse zur Lage des Landes? Wer ist aus Ihrer Sicht in erster Linie für die aktuelle Situation verantwortlich?
Was Lebensmittel anbelangt, so stellte es sich zuletzt eher so dar, dass diese nicht knapp sind, aber teuer. Die Hyperinflation frisst die Gehälter der Menschen auf, die in der Landeswährung Bolívar verdienen. Deshalb können sich viele Menschen nicht ausreichend Lebensmittel kaufen, auch wenn diese in den Supermärkten vorhanden sind. Deshalb sind im Zuge der Krise die staatlich subventionierten Lebensmittelpakete, die sogenannten CLAP-Kisten immer wichtiger geworden. Im Dezember gaben laut dem oppositionsnahen Umfrageinstitut Datanálisis 86 Prozent der Haushalte an, diese Kisten erhalten zu haben. Aber auch hier gibt es Schwierigkeiten und die Kisten werden nicht, wie vorgesehen, alle zwei Wochen verteilt.
Kritisch ist das Gesundheitssystem, in dem es an vielem fehlt. Nicht nur Medikamente, auch medizinisches Material. Auch die großen Stromausfälle Ende März und die prekäre Situation des Stromnetzes haben zu Problemen im Gesundheitsbereich geführt. Zuletzt hat das Rote Kreuz Hilfslieferungen ins Land gebracht, was sicherlich wichtig war. Aber von einer Normalisierung ist man noch sehr weit entfernt.
Ich habe in Venezuela die Leiterin des Internationalen Roten Kreuzes und einen Vertreter der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation, PAHO, einer UNO-Organisation, getroffen. Sie haben durchaus ein schwieriges Bild der Lage gezeichnet, aber auch Falschdarstellungen widersprochen. So sagt auch die Bundesregierung immer wieder, die Regierung Maduro lasse keine Hilfslieferungen ins Land und die Hilfsorganisationen könnten dort nicht richtig arbeiten. Dem haben die genannten Vertreter klar widersprochen.
In Ihrem Gespräch hob Maduro hervor, dass die Opposition unter Guaidó maßgeblich von den USA gesteuert werde. Sie haben auch mit Guaidó gesprochen. Welchen Eindruck macht der Mann auf Sie? Was konkret treibt die Opposition an? Was will Guaidó konkret?
Ich habe nur kurz mit Guaidó sprechen können. Er wirkte wie ein eloquenter junger Karriere-Politiker auf mich, aber viel mehr kann ich aus dem direkten Gespräch nicht ziehen. Natürlich beobachte ich sein Auftreten aber auch sonst. Ich denke, es gibt in der Opposition durchaus Kräfte, die an einer friedlichen Lösung des Konfliktes und einer politischen Entwicklung des Landes im Sinne der großen Mehrheit interessiert sind. Guaidó zähle ich definitiv nicht dazu. Wer wie er für eine Militärintervention der USA in seinem eigenen Land wirbt, ist mein politischer Gegner. Seine politischen Diskurse sind in der Regel nichtssagend. Sieht man sich aber die Pläne an, die öffentlich sind, dann ist es das typische neoliberale Programm der lateinamerikanischen Rechten. Sollte er an die Macht kommen, dann ist mit Privatisierungen der öffentlichen Daseinsvorsoge zu rechnen.
Ein anderer Aspekt, den mir viele linke Aktivisten und Regierungsanhänger nannten, ist die Frage des Umgangs mit dem Chavismus. Wie eingangs erwähnt ist dieser weiterhin eine bedeutende soziale und politische Kraft. Viele befürchten massive Repression im Falle eines Machtwechsels. Sieht man sich an, was für Vernichtungsphantasien teilweise unter radikalisierten Oppositionsanhängern bestehen, kann ich diese Angst nachvollziehen. Auch die EU-Vertreterin in Venezuela sagte mir, dass eine politische Lösung nur möglich sei, wenn die Existenz des Chavismus anerkannt werde und seine Daseinsberechtigung behalte.
Die Gewerkschaften scheinen nicht alle hinter der Regierung zu stehen. Wurden Teile der Gewerkschaftsbewegung von der Opposition gekauft?
Die Gewerkschaften sind genauso gespalten wie der Rest der venezolanischen Gesellschaft. Es gibt manche, die der Opposition nahestehen und andere, die die Regierung unterstützen. Das war schon lange so. Korruption ist in allen Bereichen ein großes Problem. Wer aber von wem möglicherweise gekauft wurde, kann ich nicht beurteilen.
In einem anderen Interview sagten Sie: „Am dringendsten braucht das Land Luft, um einen eigenen Prozess zur Überwindung der politischen Krise ohne Militärdrohungen und Wirtschaftssanktionen von außen anzustoßen. Vor allem die von den USA angestrebte Wirtschaftsblockade stranguliert das Land.“ Zwei Tage nach dem gescheiterten Putschversuch vom 30. April durch Guaidó hat Präsident Nicolás Maduro die Bereitschaft bekundet, einen speziellen Plan zu erarbeiten, um die gemachten Fehler zu korrigieren. „Für Samstag, den 4. Mai, und Sonntag, den 5. Mai, erkläre ich den großen nationalen Tag von Dialog, Handlungen und Vorschlägen aller Zweige der Volksmacht, damit sie der bolivarischen Regierung und Nicolás Maduro sagen können, was um des großen Planes für Veränderungen innerhalb der bolivarischen Revolution willen getan werden muss. Ich will einen Plan konzipieren, um alles zu verbessern und die Fehler zu korrigieren“. Welche „gemachten Fehler“ meint Maduro? Welche Fehler hat die Regierung Venezuelas aus Ihrer Sicht selbst zu verantworten, welche Probleme sind von außen induziert?
Was Maduro konkret meint, kann ich nicht beurteilen. Er hat immer wieder solche Reflexionsprozesse angestoßen. Aber bislang haben sie nicht zu einer Änderung der Politik geführt. Was Fehler angeht, so sehe ich viele. Ich denke, die größten haben mit der Wirtschafts- und Währungspolitik zu tun, mit mangelnder Bekämpfung der Korruption und mit der Rolle des Militärs in Staat und Regierung.
Nach den Deutschen Wirtschaftsnachrichten, die eine Meldung von Bloomberg aufgreifen, besteht in Venezuela die Gefahr, dass sich ein neuer Stellvertreterkrieg zwischen den Großmächten nach dem Vorbild Syriens entwickeln könnte. Bloomberg stellt jedenfalls einen bemerkenswerten Vergleich zwischen dem venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro und Syriens Präsident Baschar al-Assad her. Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass der inner-venezolanische Konflikt militärisch eskalieren könnte?
Ein Gesprächspartner in Venezuela sagte mir, dass es auf jeden Fall eine Verhandlungslösung geben werde. Die Frage sei aber, ob diese vor oder nach einem Bürgerkrieg komme. Ich befürchte, dass diese Einschätzung leider sehr realistisch ist. Auch wenn die Gefahr einer direkten Militärintervention der USA aktuell wieder geringer scheint, sind in Venezuela alle Zutaten für einen bewaffneten Konflikt vorhanden. Sollte es dazu kommen, dann würden sicherlich auch die internationalen Verbündeten in ihm eine Rolle spielen. Das kann niemand wollen.
Ich hoffe weiterhin auf eine friedliche Lösung des Konfliktes auf Grundlage von Verhandlungen. Die jüngste Vermittlungsinitiative Norwegens zeigt zumindest, dass eine gewisse Bereitschaft für Gespräche da ist. Aber es ist noch ein langer Weg. Von der Bundesregierung fordere ich, dass sie derartige Vermittlungsinitiativen unterstützt, anstatt sich auf die Seite Guaidós zu stellen. Deshalb haben wir auch im Bundestag einen Antrag eingebracht und gefordert, die völkerrechtswidrige Anerkennung Guaidós als Präsident zurückzunehmen.
Das russische Außenministerium hat den USA vorgeworfen, Spezialeinheiten und Ausrüstung in der Nähe Venezuelas stationiert zu haben. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Zacharowa, teilte mit: “Es gibt Hinweise darauf, dass US-amerikanische Unternehmen und ihre Nato-Verbündeten die Möglichkeit des Kaufs einer großen Menge Waffen und Munition in einem osteuropäischen Land diskutieren, um die venezolanischen Oppositionskräfte zu bewaffnen.” Venezuela al Día führt aus: “Es sei darauf hingewiesen, dass Russland in den vergangenen Jahren Waffen für einen geschätzten Wert von mehr als zehn Milliarden Dollar nach Venezuela geliefert hat, darunter Kampfflugzeuge, Hubschrauber, Flugabwehrsysteme und Panzer.” Das riecht alles bedrohlich nach einem militärischen Showdown. Wie sehen Sie das?
Wie bereits erwähnt halte ich einen bewaffneten Konflikt für eine leider realistische Option, die es um jeden Preis zu verhindern gilt. Auch wenn die Situation in Venezuela sehr schwierig ist: Ein Krieg wäre um ein vielfaches schlimmer. Und er könnte sich zu einem regionalen Flächenbrand entwickeln.
In Venezuela war tagelang der Strom ausgefallen. Ab dem 7. März waren Teile des Landes über 100 Stunden ohne Strom. Staatschef Maduro machte einen von den USA und der Opposition geplanten Cyberangriff für den Zusammenbruch der Energieversorgung verantwortlich. Herr Hunko, wer ist für die Stromausfälle im Lande verantwortlich? Misswirtschaft der Regierung oder gezielte Attacken von außerhalb auf die Softwarsysteme der E-Werke, Sabotage, also, um die Unzufriedenheit der Bevölkerung gegen die Regierung zu steigern? Oder soll die Bevölkerung für ihre Unterstützung der Regierung drangsaliert und terrorisiert sowie das öffentliche Leben massiv untergraben werden?
Die Energie-Infrastruktur hat im Zuge der Krise der vergangenen Jahre stark gelitten. Mangelnde Wartung, fehlende Investitionen und Korruption haben daran einen wesentlichen Anteil. Ein Cyberangriff ist eine mögliche Ursache, wie auch Experten bestätigt haben, die der Nähe zur Regierung Maduro unverdächtig sind. So zum Beispiel Kalev Leetaru, der im Forbes Magazine schrieb, dass ein solcher Angriff „durchaus realistisch“ sei.
Es liegt aber auch in der Natur solcher Angriffe, dass ihre Urheberschaft schwer nachweisbar ist. Man bewegt sich also im spekulativen Bereich.
Es lässt aber schon aufhorchen, dass ein Stromausfall dieses bislang nicht gekannten Ausmaßes just in dem Moment passiert, in dem die politischen Spannungen am größten sind. Ich halte es von daher für wahrscheinlich, dass es eine Mischung gab: Ein Angriff von außen auf ein ohnehin schon marodes Netz. Dadurch wären die Auswirkungen umso größer.
Vielen Dank für das Gespräch!