Im Untergrund
„Going Underground“ von The Jam war wohl der politischste Song, der je Nummer 1 der Hitparade wurde und ist heute genauso aktuell wie damals.
Plädoyers gegen den Krieg und für den Frieden kommen oft sanft und liebevoll daher ─ was nichts Schlechtes bedeuten muss. Es geht aber auch anders. Dies bewies die Anfang der 1980er-Jahre populärste Band Großbritanniens, The Jam, mit ihrem Nummer-1-Hit „Going Underground“. Sanftmut hätte dem aus der Arbeiterklasse stammenden Trio allerdings auch schlecht angestanden. Der Song ist ein so aggressives wie hellsichtiges textliches und musikalisches Manifest gegen gesellschaftliche Zwänge, unaufhörliches Wachstum und das Opfern der Bevölkerung als Kanonenfutter zum Nutzen und Mehren von Macht und Besitz zugunsten der Oberklasse. Ein Lied, das für immer bleiben wird, während musikalisches Allerlei schon lange und zu Recht verdampft und verflogen ist.
Die Band
Am 22. März 1980 eroberte ein Song den Platz an der Sonne der britischen Single-Charts, von dem man es — zumindest was Inhalt und Text angeht — wohl kaum vermutet hätte. Von 0 auf 1 mit einem Song über maßlose Wachstumsbegehrlichkeit, Kriegsgeilheit und eine tumbe und lethargische Bevölkerung — das muss man erstmal schaffen, selbst wenn man The Jam heißt und eine der populärsten und in der Folge die populärste Band des Vereinigten Königreichs darstellt.
Das Trio aus Woking, einer knapp 40 Kilometer von London entfernten Stadt in der Grafschaft Surrey, entstammt dem großen kreativen Füllhorn namens Punk und New Wave, das in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre über die Rockmusik kam wie ein Entrümpler in eine Messie-Wohnung, der sie, mit Handwerkern und Innenarchitekten im Schlepptau, renovierte und neu einrichtete. In all dieser musikalischen, textlichen und optischen Vielfalt stellten The Jam in ihren schwarzen Beatles-Anzügen und bald weiter verfeinerten Look der Mods — einer hauptsächlich in Großbritannien existierenden Subkultur — nochmals einen Sonderfall dar. Harte, aber doch melodiöse, zum Teil auch balladeske Songs mit vielerlei Thematiken — insbesondere aus der Arbeiterklasse — bildeten den Songkatalog der Band, die sich durch eine permanente und zügige Weiterentwicklung auszeichnete. Bereits das zweite und weithin unterschätzte Album „This ist the Modern World“, weniger als sechs Monate nach dem Erstling „In the City“ erschienen, unterstrich dies. Nicht zu vergessen sein Artwork mit dem herausragenden Coverfoto des bekannten Musikerfotografen Gered Mankowitz, aufgenommen unter der Londoner Fernverkehrsstraße Westway.
Foto: Castellini
Das darauffolgende Album „All Mod Cons“ glänzt mit einem breiten musikalischen Spektrum und enthält das Meisterstück „Down in the Tube Station at Midnight“. Der Nachfolger „Setting Sons“, ursprünglich angelegt als Konzeptalbum und zweifellos die politischste Platte von The Jam, ist ein düsteres Schlachtengemälde britischen Lebens und erzählt von abgehängten Familien, hoffnungslosen Jugendlichen, den Zumutungen der sozialen Realität bei Mittel- und Arbeiterklasse, Kriegsschicksalen und jungen Männern, die für den Sieg der Nation als Kanonenfutter verheizt werden sollen. Das als Single ausgekoppelte, den Klassenkonflikt brillant thematisierende „The Eton Rifles“ erreichte Platz 3 der britischen Charts.
Doch es sollte noch besser kommen. Die Band befand sich gerade auf USA-Tournee, als sie aus der Heimat die Kunde erreichte, dass dort ihr neues Lied „Going Underground“ in den Single-Charts direkt von 0 auf Platz 1 gelandet war. Das Trio absolvierte daraufhin am Abend des 22. März 1980 noch einen Auftritt im Armadillo World Headquaters in Austin, Texas, den es mit „Going Underground“ eröffnete. Nach 15 weiteren Song plus zwei Zugaben war nicht nur ihr Auftritt beendet, sondern kurz darauf wurden auch alle weiteren abgesagt. Mit der Concorde ging es zurück ins Vereinigte Königreich, um in der darauf folgenden Woche bei der beliebten TV-Show „Top of the Pops“ aufzutreten. Kurios: „Going Underground“ sollte eigentlich nur die B-Seite vom psychedelischen „The Dreams of Children“ sein, doch durch einen Fehler im französischen Presswerk erschienen die beiden Songs als Doppel-A-Seite.
The Jam — nun auf dem Gipfel ihrer Popularität und laut Leserumfragen des New Musical Express in sämtlichen Beliebtheitskategorien allesamt anführend — veröffentlichten danach mit „Sound Effects“, inklusive des großartigen „That’s Entertainment“, und „The Gift“ zwei weitere Alben; letzteres erreichte gar Platz 1 der britischen Charts ebenso wie drei Singles. Dann beschloss Ende 1982 der Kopf der Gruppe, Sänger, Gitarrist und Komponist Paul Weller, The Jam aufzulösen. Während Weller zunächst mit The Style Council und bis heute als Solokünstler Erfolge feiert, konnten seine beiden Mitstreiter — Bassist Bruce Foxton und Schlagzeuger Rick Buckler — mit eigenem Material kaum reüssieren. Ab 2007 absolvierten die beiden mit Jam-Songs als The Gift und später From the Jam — Gesang und Gitarre übernahm Russell Hastings — allerdings ausverkaufte Shows in Großbritannien, den USA, Kanada sowie Australien und Neuseeland. Während Buckler 2009 ausstieg und, immer noch in seiner Heimatstadt Woking lebend, zehn Jahre als Restaurator arbeitete, ist Foxton weiterhin als From the Jam unterwegs und veröffentlicht in Zusammenarbeit mit Hastings und Gastmusiker Paul Weller, mit dem er sich nach jahrelangem Streit um Jam-Tantiemen wieder versöhnt hat, weiterhin ohne großen kommerziellen Erfolg Musikalben, die von Presse und alten Fans jedoch ausgezeichnete Kritiken erhalten. So schrieb das Online-Magazin Get Ready to Rock in einer Rezension:
„Foxton und Hastings werden es mir vielleicht nicht danken, aber dies ist wahrscheinlich das beste Album, das Paul Weller nie gemacht hat.“
Foto: Castellini
Der Song — Nukleare Lehrbücher
„Going Underground“ beginnt mit energischem Schlagzeug und kernigem Bass, darüber eine vehement-aggressive Gitarre. Der Text dazu:
„Manche Leute würden vielleicht sagen, mein Leben verläuft in einem Trott. Ich bin ziemlich glücklich mit dem, was ich habe. Die Leute sagen vielleicht, ich sollte nach mehr streben, aber ich bin so glücklich, dass ich den Sinn nicht erkennen kann.“
Eine Bemerkung zur steten Forderung nach Wachstum und Expansion, auch im privaten Bereich, mit der sich der Protagonist nicht identifizieren kann. Er hat sich ein Leben geschaffen, das anderen bescheiden und eintönig erscheinen mag, für ihn aber den Ausdruck von Glück bedeutet.
„Heute passiert hier etwas. Eine Machtdemonstration deiner Jungs-Brigade.“
Der Begriff „Boys’ Brigade“ meint in der Regel Fußball-Hooligans. Hier bezieht er sich aber wohl auf die Exekutive, die eine Demonstration oder einen Protest verhindert — ein Bild, das die Machtbefugnisse des Establishments darstellen soll.
„Du willst mehr Geld — natürlich habe ich nichts dagegen —, um nukleare Lehrbücher für atomare Verbrechen zu kaufen. Und die Öffentlichkeit bekommt, was die Öffentlichkeit will. Aber ich will nichts, was diese Gesellschaft hat. Ich gehe in den Untergrund.“
Das erstmalig auftauchende Bild des in den Untergrund Gehens bildet die Metapher für die Abkehr von den Erwartungen und Zwängen der sogenannten Gesellschaft — also dem, was gemeinhin als „normal“ definiert wird. Der Erzähler lehnt diese als Autorität ab und trachtet nach einem selbstbestimmten, selbstgestalteten Leben abseits der vorgegebenen Wege — und verdammt die atomare Aufrüstung, deren Finanzierung die Bürger durch die vom Staat eingeforderten Steuern übernehmen müssen.
In einem Interview mit dem Magazin Total Guitar sprach Paul Weller über die damalige Atmosphäre, die den Anstoß zum Schreiben von „Going Underground“ gab:
„Es entstand aus der politischen Lage, in der wir uns damals befanden. Ob es nun jugendlicher Verfolgungswahn oder was auch immer war, ich dachte, wir stünden wirklich am Rande der Zerstörung. Wir rüsteten mit Atomraketen auf, besonders in diesem Land.“
Doch es existiert noch eine weitere, delikate Ebene bezüglich des „Untergrundes“: Während der Zeit des Wettrüstens stieg die Angst vor einem Atomkrieg selbstverständlich auch bei den Wohlhabenden, von denen einige daraufhin in den ausgedehnten Gärten ihrer prächtigen Villen private Atombunker errichten ließen ─ um dann im Fall des Falles auf wörtliche Weise in den Untergrund zu gehen.
Der Song — Blaskapellen und blökende Schafe
„Nun, wenn die Blaskapellen spielen und die Füße zu stampfen beginnen, gehe ich in den Untergrund. Nun, lasst die Jungs alle singen und lasst die Jungs alle für morgen schreien. Manchen Leuten macht der Hass vielleicht Spaß. Ich, ich habe schon genug um die Ohren. Die Leute brauchen vielleicht etwas Spannung, um sich zu entspannen. Ich? Ich bin zu sehr damit beschäftigt, der Flak auszuweichen.“
Der Erzähler verweist auf Truppen, die in den Krieg ziehen. Zu den Klängen militärischer Marschmusik hämmern die Schritte auf den Boden und die manipulierten jungen Männer brüllen ihre Parolen für Ehre und Vaterland und ergehen sich im Feindeshass — den sie sich nur allzu gern anerziehen ließen, im vermeintlichen Glauben, so ihrer empfundenen Leere und Sinnlosigkeit zu entkommen. In der deutschen Übertragung von „People might need some tension to relax“ entsteht das schöne Wortspiel vom Benötigen der Spannung, um sich zu entspannen. Und der Protagonist? Er hat genug zu tun und muss sein Dasein nicht mit künstlicher Spannung und mentalen Bungeesprüngen aufladen — und sieht sich nun darüber hinaus auch noch gezwungen, sich der Kriegsbegeisterung und ihren Folgen entziehen.
„Du hast dein Bett gemacht, leg dich besser hinein. Du wählst deine Führer und schenkst ihnen dein Vertrauen, während ihre Lügen dich demütigen und ihre Versprechen rosten. Du wirst sehen, dass Dialysemaschinen durch Raketen und Gewehre ersetzt werden. Und die Öffentlichkeit will, was die Öffentlichkeit bekommt. Aber ich verstehe nicht, was diese Gesellschaft will.“
Der deutsche Michel — ein verschlafener und einfältiger Geselle mit „Zipfelmütze, die wie eine Kreuzung aus Zwergenhut und Schlafmütze daherkommt“ — existiert auch als britischer Mike, der gern im Bett liegt und ungern nachdenkt. Lieber sucht er sich Führer, die dies für ihn erledigen und sagt: „Die werden sich schon was dabei gedacht haben!“ Solch stupides Volk schreit geradezu danach, von der Politik betrogen und verspottet zu werden, zum Beispiel indem man ihm sagt, was es angeblich will oder zu wollen hat. „And the public gets what the public wants. And the public wants what the public gets.“
Die durch Waffen ersetzten Dialysegeräte als Bild, wie Lebensrettendes durch Leben vernichtendes Gerät ersetzt wird, und somit als Umkehrung eines berühmten geflügelten Wortes: Wenn also Pflugscharen zu Schwertern werden. Und wie die Wissenschaft zum Guten und zum Bösen eingesetzt werden kann. Allerdings sind Waffen nicht per se gut oder „böse“. Es kommt immer darauf an, wer sie zu welchem Zweck gebraucht. Indessen thematisiert „Going Underground“ fraglos und unzweifelhaft eine missbräuchliche Verwendung.
Wir reden und reden, bis mein Kopf explodiert. Ich schalte die Nachrichten ein und mein Körper erstarrt. Diese blökenden Schafe auf meinem Fernsehbildschirm bringen diesen Jungen zum Brüllen, bringen diesen Jungen zum Schreien!
Reden und Diskutieren mit eingemauerten Gehirnen. Argumente, die abprallen, Begründungen, die zerbrechen. Der Fernseher als Befehlsgewalt der Massen, dessen Weisungen automatisch und stumpfsinnig befolgt werden, und die Unerträglichkeit, dies wahrzunehmen und auszuhalten. Mit dieser Aussage endet der Song.
„Thank you, Good night.“ Nach dem letzten Auftritt am 11. Dezember 1982 in Brighton. Quelle: Facebook. Editiert: Castellini.
Der Song — 45 Jahre alt und trotzdem aktuell
Bis heute ist die Aktualität von „Going Underground“ ungebrochen, und der Song wird nicht als „Oldie“ kategorisiert. So heißt es beispielsweise auf Modshoes.co.uk:
„Going Underground ist nach allen Maßstäben eine umwerfende Single. Es ist wahrscheinlich die offenkundigste politische Platte, die JEMALS die Charts angeführt hat. Es spricht für ihre Qualität — und das allgemeine Versagen der Gesellschaft —, dass sie auch heute noch als abschreckende Warnung davor gilt, dass Dialysemaschinen durch Raketen und Gewehre ersetzt werden; fast 40 Jahre nach ihrer ersten Veröffentlichung begrüßen wir immer noch den neuen Boss (...) genauso wie den alten Boss.“
Eoghan Lyng schreibt im Februar 2022 im Magazin Far Out:
„Von der flotten Hook bis zu den wummernden Bassläufen, die den Track zementieren, schreit alles, was man auf „Going Underground“ hört, nach einem Klassiker. Und obwohl der Song von Gitarrist Paul Weller geschrieben wurde, enthält er etliche der einfallsreichsten Bassläufe von Bruce Foxton, und Rick Buckler sorgte für einige der aufregendsten Percussion-Effekte in der Geschichte der Band. Die Single zeichnete sich durch ein Shakespeare'sches Gefühl aus, das die Massen aufforderte, ihre kollektive Macht gegen die Vergrößerung der Hierarchie zu erkennen. Weller wählt den Weg der Beatles, um das Werk mit einer Melodie zu versehen, sodass die Zuhörer diese mitsummen können, bevor sie die Kraft der Worte auf sich wirken lassen.“
Und Dan Cairns, Musikredakteur des Kulturteils der Sunday Times, erklärt „Going Underground“ noch knapp dreißig Jahre später zum „Song des Jahres 1980“ und meint:
„Einer der vielen großartigen Aspekte des Tracks ist, dass er trotz der Heftigkeit und Wut des Textes ein Pop-Soul-Song ist, der auf ersten Prinzipien aufbaut: die Call-and-Response-Harmonie im Refrain ist Motown pur — ein Vorgeschmack auf The Style Council; die Stakkato-Strophen und die absteigenden Akkorde erinnern an die geliebten 1960er Jahre des Sängers mit den Kinks und den Small Faces; das Gebrüll und die Schreie passen zu der demotischen Anspannung in Wellers Songwriting; der Track endet mit einem sehr McCartney-esken Basslauf; und Tanzen ist nicht optional, sondern obligatorisch.“
2013 erschien eine Folkversion des Songs auf dem Album „Mud, Blood and Beer“ der Bad Shepherds, eine Folkformation die Punk- und New-Wave-Songs wie „God Save the Queen“, „Making Plans for Nigel“, „No More Heroes“ oder „London Calling“ — aber auch „Das Model“ von Kraftwerk — im musikalischen Folkgewand neu aufnahm. Nachdem die Band bereits 2009 „Down in the Tube Station at Midnight“ von The Jam gecovert hatte, folgte vier Jahre später „Going Underground“.
So bleibt der Song stets gegenwärtig und zeitgemäß. Die Ereignisse der vergangenen Jahre und das aktuelle Geschehen deuten darauf hin, dass sich daran so schnell nichts ändern wird.