Ideologisches Zerrbild
Der westliche Blick auf China ist ignorant und zeugt von der Unfähigkeit, andere Lebensweisen als gleichwertig zu akzeptieren.
Was fällt einem bei China ein? Massenproteste in Hongkong, Umerziehungslager für die Uiguren, militärische und wirtschaftliche Expansion, kommunistischer Überwachungsstaat und politische Bevormundung, diktatorische Unterdrückung der Menschenrechte... Das Bild der Volksrepublik ist ziemlich klar konturiert, wir wissen Bescheid. Unser „Wissen“ fußt allerdings nicht auf eigener Anschauung, sondern auf dem, was uns hiesige Medien mitteilen. Das dort vorherrschende Bild ist sehr parteiisch und ideologisch durchtränkt, geformt aus westlicher Herablassung und fehlendem Willen, bei der Wahrnehmung der Welt eine andere als die zentraleuropäische Perspektive gelten zu lassen.
Die Lastwagen trugen chinesische Schriftzeichen. Überall traf ich sie in Uganda. Auf unbefestigten Wegen und auf asphaltierten Straßen. Es waren Fahrzeuge chinesischer Unternehmen, die bei den Bauern Bohnen und Süßkartoffeln, Bananen und Tomaten und andere Früchte aufkauften, welche auf dem fruchtbaren Boden oder auf Bäumen gewachsen waren.
Drei Ernten im Jahr sind in diesem afrikanischen Land möglich. Trotzdem müssen Grundnahrungsmittel importiert werden. Viele Bauern können nicht existieren und machen sich darum auf nach Europa. Dorthin, wo etwa die Lebensmittel in den bunten Verpackungen herkommen, welche überall auf den afrikanischen Märkten angeboten werden. Zu niedrigeren Preisen als jenen, die die einheimischen Farmer für ihre Waren verlangen. Denn die Lebensmittel aus Europa werden von der EU subventioniert, das macht sie billig. Das konkurrierende Angebot zerstört nachhaltig die Existenz der einheimischen Bauern. Bekämpft man etwa so die Fluchtursachen, wie es immer heißt?
Hinzu kommt noch, dass auf einem Großteil der landwirtschaftlichen Nutzflächen keine Nahrungsmittel angebaut werden. Stattdessen gedeihen dort sogenannte Cash Crops, also Pflanzen, die nicht der Selbstversorgung und Ernährung der dortigen Bevölkerung dienen: Kaffee, Tee, Baumwolle ... Sie werden ausschließlich für den internationalen Markt angepflanzt und machen 80 Prozent der Gesamtexports aus. Uganda ist Afrikas größter Kaffee-Exporteur, bis zu einem Drittel der gesamten Exporterlöse des Landes werden damit erwirtschaftet. Von den knapp vier Millionen Bauernfamilien lebt jede dritte Familie vom Kaffeeanbau. Oder von Weihnachtssternen. Etwa 10 Prozent der alljährlich in Europa in der Adventszeit verkauften einhundert Millionen Blumentöpfe mit diesen Blattpflanzen werden in Uganda aufgezogen.
Cash Crops machen in verschiedener Hinsicht abhängig. Fallen die Preise auf dem Weltmarkt, hat das Folgen für den Haushalt, gehen Monokultur-Plantagen wegen Krankheiten zugrunde, auch. Cash Crops sind überdies ein Rohprodukt. Ein — wie man in Uganda sagt — transformiertes Produkt würde sich teurer verkaufen lassen. Das geschieht aber kaum, dafür sorgen die Abnehmer in den Industriestaaten. Deutsche Firmen, die Hauptbezieher des Rohkaffees aus Uganda, wollen das Endprodukt schon lieber selber herstellen.
Ein nachhaltiger Ansatz
Während mit der westlichen „Entwicklungshilfe“ oft lediglich eine korrupte nationale Oberschicht finanziert wird, damit diese für Ruhe im Lande und damit für die Fortexistenz neokolonialer Abhängigkeit sorgt, gehen die Chinesen einen ganz anderen Weg. Er ist nachhaltig und auf Hilfe zur Selbsthilfe gerichtet, wovon beide Seiten profitieren. Die Chinesen investieren, errichten Produktionsstätten, in denen beispielsweise landwirtschaftliche Erzeugnisse verarbeitet werden und um die herum eine Infrastruktur angelegt wird. In Uganda zum Beispiel bauten sie eine Autobahn, in Namibia einen Hafen und in Abuja, der Hauptstadt Nigerias, eine Stadtbahn, das erste Nahverkehrssystem in Westafrika.
Der erfolgreichere Konkurrent aus Fernost wird in der westlichen Welt kritisch beäugt und als Raubritter denunziert. China treibe die afrikanischen Länder in eine Schuldenfalle, wenn es Straßen, Fabriken, Eisenbahnen und Airports errichte, warnen die Experten im politischen und im Wirtschaftsteil der deutschen Meinungsmedien. Immerhin habe Beijing von 2000 bis 2016 etwa 125 Milliarden Dollar Darlehen an Afrika vergeben, und bei einem Treffen von Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping mit 53 afrikanischen Regierungschefs im September 2018 wurden Investitionen von weiteren 60 Milliarden Dollar zugesagt. Laut McKinsey sind mehr als 10.000 chinesische Firmen in Afrika aktiv. Und: China ist Afrikas größter Handelspartner — vor den USA, vor der EU. Das Volumen lag 2015 bereits bei 220 Milliarden Dollar.
Die Schuldenfallen-Behauptung ist ein ideologischer Kampfbegriff, den die USA in die Welt brachten.
Im März 2019 erhob US-Außenminister Mike Pompeo den Vorwurf, China vergebe aus geostrategischen Interessen gezielt Kredite an mittellose Länder, die sie nicht zurückzahlen könnten, um sie dadurch abhängig zu machen. Als Beweis für diese steile These — es ist das einzige Beispiel, sonst würde dieser Fall nicht immer wieder zitiert, sondern auch mal durch einen anderen ersetzt werden — gilt der Hafen Hambantota auf Sri Lanka.
Sri Lanka überschrieb im Dezember 2017 China die Nutzungsrechte für 99 Jahre, weil es seine Verbindlichkeiten nicht mehr bedienen konnte. Die Idee für den Hafenneubau kam jedoch nicht aus China, sondern war Bestandteil des offiziellen Entwicklungsplanes Sri Lankas. Zur Finanzierung lieh sich Sri Lanka Gelder bei chinesischen Staatsbanken, doch aufgrund der Unwirtschaftlichkeit des Hafens und anderer Fehler konnte das Land die Kredite nicht mehr bedienen, weshalb trotz verschiedener Umschuldungsversuche nur eine Option blieb: die Übertragung der Nutzungsrechte an China.
Die Rhodium Group — ein in den USA ansässiges und unabhängiges Unternehmen, das seit Jahrzehnten Wirtschaftsdaten analysiert — untersuchte danach vierzig Fälle, in denen Kredite chinesischer Staatsbanken nachverhandelt worden waren. Das gilt immer als Indiz für gewisse Unregelmäßigkeiten. Die Forscher urteilten danach, dass die Übernahme von Vermögenswerten — wie in Sri Lanka geschehen — „ein sehr seltener Vorgang“ sei.
In sechzehn der vierzig analysierten Fälle habe China die Schulden abgeschrieben, elf Mal die Rückzahlungsfristen verlängert und in jeweils vier Fällen eine Refinanzierung, eine Neuverhandlung der Konditionen oder einen Abbruch der Zahlungen vereinbart.
„Das weist einerseits darauf hin, dass Peking sich durchaus gesprächsbereit zeigt, wenn Länder in Zahlungsschwierigkeiten geraten. Andererseits zeigt die hohe Zahl an Nachverhandlungen, dass die von China finanzierten Projekte sich häufig als wirtschaftlich nicht tragfähig erwiesen haben“, konstatierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 6. Mai 2019.
Von Wirtschaft, das kann man unterstellen, verstehen die Chinesen inzwischen ein wenig. Wenn sie also ihre auf dem Weltmarkt verdienten Devisen in Projekte stecken, die sich nicht rechnen, kann wohl kaum Profitstreben sie zum Handeln veranlasst haben. Was also dann?
Schimäre Schuldenfallen-Politik
Prof. Deborah Brautigam von der Johns Hopkins University in Baltimore/USA untersucht ebenfalls seit Jahren die chinesischen Finanzströme. In einem Beitrag vom 26. April 2019 in der New York Times mit dem Titel „Is China the World’s Loan Shark?“, „Ist China der Kredithai der Welt?“, widersprach sie der Behauptung, die Chinesen würden vorzugsweise in unwirtschaftliche Projekte investieren, um dadurch strategische Vorteile zu erlangen. Von den siebzehn afrikanischen Staaten, die derzeit in einer Schuldenkrise steckten, stünden lediglich drei vornehmlich bei den Chinesen in der Kreide ...
Also die Behauptung einer Schuldenfallen-Politik, vorzugsweise mit dem von den Chinesen verfolgten interkontinentalen Infrastrukturprojekt „Neue Seidenstraße“ penetriert, erweist sich bei genauer Betrachtung als Schimäre. Aber wer schaut schon genauer hin, und wozu?
Wer wider den Wind brunzt, bekommt nasse Hosen, weiß der Volksmund, und Journalisten wissen das auch und richten sich danach.
Sodann gibt es das Angstgeschrei wegen der chinesischen Militärmacht. Die NATO fühlt sich von China „bedroht“, zumindest erklärten dies die Mitgliedsstaaten auf ihrem jüngsten Gipfel in London. Offenkundig reicht Russland nicht als Feindbild, zumal die Russische Föderation wirtschaftlich nicht annähernd so potent ist wie das rote Reich der Mitte. China lehrt also nun auch militärisch die Welt das Fürchten! Obgleich doch in den siebzig Jahren seiner Existenz außerhalb des Territoriums die Volksrepublik nie Krieg führte — sieht man von den Grenzscharmützeln 1969 gegen die Sowjetunion und 1979 gegen Vietnam ab. Die USA hingegen kommen seit ihrer Gründung 1776 auf über zweihundert Kriege. Und ausgerechnet die Führungsmacht des Militärpaktes NATO — mit fast 60 Prozent Anteil der Welt größter Rüstungsexporteur — warnt nun vor der militärischen Bedrohung durch China. Emmanuel Macron hat mit seiner neurologischen Diagnose vermutlich Recht.
Eine Begründung dieser vermeintlichen Furcht liefert der Militärstützpunkt in Djibouti, den China seit 2017 unterhält. Es ist Chinas erste und einzige Marinebasis außerhalb des Landes. Gern wird dabei verschwiegen, dass in diesem Kleinstaat am Horn von Afrika, gelegen an einer der wichtigsten Verkehrsadern der Schifffahrt, die USA seit 2002 einen ständigen Stützpunkt unterhalten, und dass dort auch Frankreich seit 1977, Japan seit 2011, Italien und Spanien ebenfalls schon lange präsent sind. Sogar die Bundesrepublik Deutschland ist dort vertreten. Natürlich nur mit einem kleinen Kontingent.
China investierte überdies 370 Millionen Dollar in den Bau einer unmittelbar neben dem Hafen gelegenen Freihandelszone und verlegte 752 Kilometer Gleis, sodass man nun von Djibouti bis nach Addis Abeba in Äthiopien mit der Bahn reisen kann. Dort steht übrigens das 200 Millionen Dollar teure Hauptquartier der Afrikanischen Union. Unnötig zu erwähnen: ein Geschenk Chinas.
Ohne damit die Anwesenheit chinesischer Soldaten in Afrika zu bagatellisieren, sei daran erinnert, dass China bei Beginn des „Arabischen Frühlings“ fast 36.000 Landsleute aus Libyen und 2015 einige Hundert Chinesen aus Jemen evakuierte und in Sicherheit brachte. Und ferner erinnere ich hier an eine Aussage des seinerzeitigen deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler, die dieser — auf dem Rückflug von Afghanistan — 2010 in das Mikrofon des Deutschlandradio sprach:
„Ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit“ müsse wissen, dass „im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege“.
Quod licet Iovi, non licet bovi. Was Deutschland erlaubt ist, ist China noch lange nicht.
Bürokratische Einreisehürden
Im Dezember hielt ich in der Volksrepublik einen Vortrag in Ningbo, einer Hafen- und Industriestadt zwischen Shanghai und Hongkong, mehr als doppelt so groß wie Berlin. Zugegeben, schon das Ausfüllen des zwölf Seiten umfassenden Visumantrages nervte wie auch die Abgabe einer handschriftlichen Erklärung, nicht journalistisch tätig werden zu wollen. Als ließen sich Augen und Ohren verschließen. Dann musste die Einladung aus Ningbo korrigiert werden: Mein Name war per Hand in das ausgedruckte Schreiben eingefügt worden, was nicht den Vorschriften genügte. Das Papier musste also noch einmal in Ningbo mit Briefkopf ausgedruckt, gestempelt und nach Berlin gesandt werden. Die Chinesische Mauer schien jedenfalls leichter zu nehmen als die bürokratischen Einreisehürden.
Nach der Landung, unterwegs zur Einreisekontrolle, musste jeder Ausländer alle zehn Finger zum Scannen auf eine Scheibe legen und für ein Foto in eine Kamera blicken. Das wiederholte sich auch bei der Passkontrolle. Nervig, nervig. Und überall Kameras.
Allerdings verlor sich alsbald dieses Gefühl ständiger Überwachung und machte einem Gefühl von absoluter Sicherheit Platz: Ich wusste, in diesem chaotischen Gewusel von Tausenden Menschen, deren Sprache ich nicht beherrschte und deren Schriftzeichen ich nicht deuten kann, konnte ich nicht verloren gehen.
Und nachdem ich meinen Partner für den Weiterflug getroffen und wir unser Handgepäck abgelegt hatten, ließen wir es unbesorgt und unbeobachtet auf den Plätzen zurück, um essen zu gehen. Hier werde nichts geklaut, das traue sich niemand, sagte er lächelnd, und winkte in eine der vielen Kameras.
Tage später, wieder zurück in Beijing, stand ich mit ihm auf dem Platz des Himmlischen Friedens, nachdem wir die Schleuse mit Passkontrolle und elektronischer Abtastung passiert hatten. Solch akribische Begutachtung widerfuhr mir und allen anderen nicht nur dort, sondern in jedem Museum inklusive Verbotener Stadt oder Besteigung der Großen Mauer bei Badaling. Wir standen also auf diesem Riesenplatz zwischen Mao-Bildnis und Mao-Mausoleum, der Großen Halle des Volkes und dem Nationalmuseum, als mein chinesischer Freund und Begleiter auf einem seiner beiden Handys die Nachricht empfing, dass ein verurteilter Terrorist in London zwei Menschen erstochen und drei weitere verletzt habe. Bis hierher wäre der nicht gekommen. Zumindest nicht mit dem Messer. Da war ich mir ganz sicher.
Kampf der Uiguren
Und dann hörte ich jene Geschichte, die sich am 1. März 2014 auf dem Bahnhof Kunming zugetragen hatte. Sieben Männer und zwei Frauen, schwarz gewandet, hatten mit Macheten und Beilen wahllos auf Reisende eingestochen und eingeschlagen. Bei diesem Massaker starben 29 Menschen, 143 Personen — darunter sieben Polizisten — wurden verletzt. Die Polizei hatte zunächst versucht, die Terroristen mit Tränengas zu stoppen, ehe sie zu den Waffen griff und vier Täter erschoss. Wie die Nachforschungen ergaben, handelte es sich bei den Messerstechern um muslimische Uiguren, die in den Djihad hatten ziehen wollen. Sie kamen aus der Provinz Xinjiang und wollten über die Grenze, um im Ausland gegen die Ungläubigen zu kämpfen. So wie man in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts an der Seite der afghanischen Mujaheddin gegen die Russen gekämpft hatte. Allerdings erlaubten die chinesischen Grenzkontrollen nunmehr kein Durchkommen, weshalb die Gotteskrieger sich entschlossen, in Kunming in den Kampf zu ziehen.
Dieses Massaker wurde verschiedentlich als „Chinas 9/11“ bezeichnet, weil erstmals ein solcher Anschlag außerhalb Xianjiangs erfolgt war und viele Opfer forderte. Fachleute in den USA sahen sich allerdings enttäuscht, weil die Chinesen nun nicht gleich ihnen den „Krieg gegen den Terror“ erklärten, sondern andere, weniger gewalttätige Maßnahmen ergriffen.
Es war nicht der erste Anschlag uigurischer Nationalisten, die in der autonomen chinesischen Provinz Xinjiang seit Jahrhunderten einen eigenen Staat fordern. Das an Afghanistan grenzende Territorium mit heute etwa 23 Millionen Menschen, davon neun Millionen Uiguren, ist bereits seit zweitausend Jahren chinesisch, wenngleich zeitweise die Separatisten erfolgreich waren: 1933 riefen sie eine „Islamische Republik Ostturkestan“ aus, die allerdings nur wenige Monate existierte. Seit den frühen neunzehnachtziger Jahren kam es immer wieder zu Ausschreitungen gegen die in der Region lebenden Han-Chinesen, welche dort schon immer die Mehrheit bilden. Mit den oft blutigen Demonstrationen wehrten sich die Uiguren gegen eine angebliche „Überfremdung“ und einen vermeintlichen „kulturellen Genozid“. Sie forderten unter anderem „Vertreibt die Khitays!“ und „Schlagt die Khitays tot!“. Khitay ist der verächtliche Ausdruck der Uiguren für Han-Chinesen.
Im April 1990 riefen Hunderte bewaffnete Uiguren in Baren, einem Ort in der Nähe zur afghanischen Grenze, erstmals zum Djihad gegen die Volksrepublik auf. In ihren Reihen marschierten aus Afghanistan zurückgekehrte Islamisten, die in Lagern von Al-Quaida gegen die Russen militärisch ausgebildet worden waren.
Seit jener Zeit erfolgten laufend terroristische Anschläge von uigurischen Nationalisten und uigurischen Djihadisten. Immer wieder explodierten Bomben in Bussen, Einkaufszentren, Hotels, wurden Polizeistationen angegriffen. Zwischen 1990 und 2001 starben bei solchen Terrorattacken mindestens 162 Menschen, mehr als 440 wurden verletzt.
2009 kam es in Xianjings Hauptstadt Ürümqi zum schlimmsten Pogrom in der Geschichte der Volksrepublik: Mehrere Tausend Uiguren zogen mordend und plündernd durch die Stadt, steckten hundert Geschäfte und Fahrzeuge von Han-Chinesen in Brand. Fast zweihundert Menschen starben.
Monate später, am 28. Oktober 2013, erreichte der Terror auch die Hauptstadt Beijing. „Mit einem 400 Liter Benzin beladenen Jeep fuhr eine dreiköpfige uigurische Familie in einer Amokfahrt und offenbaren Selbstmordattacke gegen einen Brückenpfeiler vor dem Tiananmen-Tor, dem Wahrzeichen Pekings. Bei der Brandexplosion starben insgesamt fünf Menschen. 40 wurden verletzt. Die Pekinger Polizei nannte die Tat einen ‚gewaltsamen Terrorangriff’“, schrieb Die Welt am 2. März 2014.
Drahtzieher, so hieß es, seien exilierte Vertreter der „Islamischen Republik Ostturkestan“ gewesen, die sich in der Türkei niedergelassen hatten. Dort leben auch die meisten Uiguren außerhalb Chinas. Erdogan, 1995 Bürgermeister von Istanbul, erklärte damals:
„Ostturkestan ist nicht nur die Heimat der türkischen Völker, sondern auch die Wiege der türkischen Geschichte, Zivilisation und Kultur. Die Märtyrer Ostturkestan sind unsere Märtyrer.“
Nun wurde mir auch klar, weshalb ich bei der Abgabe meines Visumantrages gefragt worden war, ob und wie viele Male ich in der Türkei gewesen sei. Nein, ich war kein Verbündeter der Gotteskrieger aus Fernost.
Mich überraschte auch nicht zu hören, dass seit 2013 Uiguren — als „Turkistan Islamic Party“, TIP, organisiert — in Syrien an der Seite des IS und des Al-Quaida-Ablegers Nusra-Front kämpften. „In ihren Reihen kämpfen mehrere Tausend Uiguren aus China“, berichtete Spiegel online am 11. September 2018.
Beijing setzte und setzt in seinem Antiterrorkampf gegen uigurische Nationalisten und Djihadisten auf Langfristigkeit und Nachhaltigkeit. Es verfuhr nicht nach dem alttestamentarischen Prinzip „Aug’ um Auge, Zahn um Zahn“. Seine im Westen scharf kritisierten Methoden scheinen jedoch eine weniger brutale Alternative zum „Krieg gegen den Terror“ der Amerikaner zu sein: Es steigen keine Drohnen in den Himmel und die Häuptlinge werden nicht mit Raketen oder von Killerkommandos ermordet.
Die Chinesen setzen auf Aufklärung, also Erziehung. Im Westen Umerziehung geheißen. Nun reagiert man als Deutscher auf das Stichwort „Lager“ höchst sensibel. Gleichwohl: Zwischen Guantanamo und den Einrichtungen in Xianjing gibt es sehr wohl Unterschiede.
Kein universelles Gesellschaftsmodell
Und was ist mit Hongkong? Vielleicht sollte man sich auch einmal daran erinnern, dass es mal eine britische Kolonie war. Offenkundig wünscht sich mancher dort und außerhalb die früheren Verhältnisse zurück, Postkolonialismus wie in Afrika ...
Ach, sagte mein chinesischer Freund, China hat keine Probleme mit den demokratischen Grundregeln der westlichen Welt, die doch für alle im Verkehr miteinander gelten sollen. Wir haben uns der Welt geöffnet und sind Teil dieser Welt. Wir akzeptieren die Spielregeln. Aber gehöre nicht zum demokratischen Grundverständnis, dass man anderen nicht seinen Willen aufzwingt? Dass man Völkern nicht vorschreibt, wie sie ihr Miteinander organisieren? Jedem Staat sollte es doch erlaubt sein, frei und unabhängig darüber zu entscheiden, wie er seine inneren Verhältnisse gestaltet.
In Jahrhunderten haben sich in China Traditionen und Gewohnheiten entwickelt und behauptet, erklärte mein Freund mit den zwei Handys. China käme deshalb jedoch nie auf die Idee, anderen Staaten diktieren zu wollen, so zu leben wie Chinesen, nur weil sich China seit mehr als zweitausend Jahren erfolgreich behauptet hat. Es gibt kein universelles Gesellschaftsmodell. Diese Erkenntnis scheint aber noch nicht universelles Gemeingut zu sein.
Die EU zählt in ihren 28 Mitgliedsstaaten etwas mehr als eine halbe Milliarde Menschen und hat erkennbar Probleme, die unterschiedlichen Interessen und sehr verschiedenen historischen Erfahrungen und kulturellen Traditionen zusammenzuführen und auszubalancieren. Sie seien in China fast drei Mal so viele Menschen und mehr als fünfzig Nationalitäten, sagte mein chinesischer Freund. Um wie vieles schwerer sei es bei ihnen, einen gemeinsamen Nenner zu finden und mit einer Stimme zu sprechen und zu handeln. Insofern sei eine klare Führung durchaus hilfreich.
Auf dem Heimflug traf ich einen Ethik-Professor aus Deutschland. Er lehrt an chinesischen Universitäten und kennt das Land aus eigener Anschauung. Er vermochte seinen Unmut über die Berichterstattung in Deutschland insbesondere über Hongkong kaum zu zügeln. Er kam nämlich gerade von dort. Die Haltung der meisten europäischen Journalisten sei herablassend, ideologisiert und zudem von Unwissen bestimmt, empörte er sich. Randalierer würden zu Rebellen verklärt, die angeblich für Freiheit und Demokratie demonstrierten. Die tatsächlichen sozialen und politischen Hintergründe blieben unerwähnt, weil ignoriert oder unerkannt. Oder, und das halte er für wahrscheinlich: Die Berichterstatter bedienten, freiwillig oder genötigt, eine ziemlich einseitige Erwartungshaltung ihres Arbeitgebers.
„Die Geschichte der Volksrepublik China ist ein gigantisches, waghalsiges Experiment. Solange es gut geht, fordert es zunehmend die Institutionen des Westens heraus, und das zu einem Zeitpunkt, an dem diese schwächeln“, schrieb die Neue Zürcher Zeitung am 29. September 2019 zum 70. Jahrestag. „Statt des von vielen im Westen nach 1989 erträumten Endes der Geschichte erleben wir eher den erneuten Beginn der Geschichte.“ Wir sollten diesen frei von Vorurteilen und ideologischer Verblendung beobachten und beurteilen.
Als ich wieder in Tegel war, schob ich bei der Einreise meinen Pass in ein Gerät zum Scannen, dann wurde ich fotografiert, und als nach einem elektronischen Abgleich meine Identität festgestellt worden war, öffnete sich automatisch die Schleuse. Willkommen in China. Oder war’s doch nur die Zukunft?