Hurra, die Überwachungspille ist da!

Entmündigung kommt im Gewand des medizinischen Fortschritts daher.

Es gibt Meldungen, die muten an wie unzeitgemäße Aprilscherze – und sind doch bittere Wahrheit. Obwohl unsere Gesellschaft längst an einem Übermaß von Überwachung leidet, kommt nun ausgerechnet aus dem Bereich, der die Bezeichnung „Gesundheitswesen“ trägt, eine weitere perfide Methode hinzu.

Redaktionelle Vorbemerkung: Die IT-Redaktion möchte in ihrer Kolumne „Schöne neue Welt“ Autoren eine Plattform bieten, die sich kritisch mit der Informationstechnik und den in diesem Feld handelnden Akteuren auseinandersetzen. Wir freuen uns über jeden Artikel, der die technische, aber auch politische, ökonomische, psychologische, physische und soziale Auswirkung und Sicht der IT hinterfragt beziehungsweise behandelt. Bitte kontaktieren Sie uns unter it@rubikon.news.

Sie wollen nur unser Bestes

Am 13. November 2017 gab die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA (Food and Drug Administration) eine Pressemitteilung über die Zulassung eines neuen Medikaments heraus. Es trägt den Namen „Abilify MyCite“ und soll bei der Behandlung schizophrener, manischer und manisch-depressiver Störungen sowie bei Depressionen im Erwachsenenalter helfen (1). Das dafür verwendete Neuroleptikum Aripiprazol ist bereits länger im Einsatz.

Was das wirklich Neue an diesem Mittel ist, berichtete tags darauf unter anderem die Frankfurter Allgemeine Zeitung: Die FDA, heißt es dort, erlaube somit „erstmals eine digitale Pille – ein mit einem Sensor ausgestattetes Präparat, das es Ärzten ermöglichen soll, festzustellen, ob und wann ihre Patienten die Medikamente nehmen.“

Dies sei – so der Tenor der von der FAZ kritiklos zitierten Quellen – zum Besten für Patienten und Volkswirtschaft. Denn nehmen „Patienten die ihnen verschriebenen Medikamente“ nicht „wie vom Arzt verlangt“, funktioniere „der Genesungsplan nicht wie gewünscht. Und es ist außerdem teurer, weil die Medizin und das Geld dafür dann verschwendet worden sind.“ „Fachleute“, so heißt es weiter, schätzen, „dass durch solches Verhalten Kosten in Höhe von 100 Milliarden Dollar entstehen – pro Jahr.“ Zudem: „Wenn Patienten nicht dem ihnen verschriebenen Lebensstil“ – Achtung: Ärzte können inzwischen auch Lebensstile verschreiben! – „oder der verordneten Medikation folgen, hat das substantielle Konsequenzen, die schlecht sind für sie und sehr teuer“, urteilt William Shrank, Universitätsmediziner in Pittsburgh. Daher habe die nun zugelassene Pille, sekundiert „Ameet Sarpatwari, ein Fachmann an der Harvard-Universität“, „das Potential, die Gesundheit allgemein zu verbessern“.

Wer das Medikament zu sich nehme, erfährt man weiter, könne „erlauben, dass der Arzt und vier weitere Personen, zum Beispiel Familienmitglieder, entsprechende Daten bekommen. Über eine Smartphone-App soll es außerdem möglich sein, die einmal gewährte Erlaubnis jederzeit wieder zu blockieren.“


Bild


Die FAZ zitiert dann auch Jeffrey Lieberman, ehemaliger Präsident der American Psychiatric Association (APA) und renommierter Psychiater an der Columbia Universität in New York. Er geriet in der Vergangenheit mehrfach in die Kritik. So wurde ihm die Abhängigkeit seiner Forschungsresultate von den Interessen seiner Geldgeber aus der Pharmaindustrie vorgeworfen sowie unethische Menschenversuche (2).

Lieberman ist laut FAZ „zuversichtlich für das Medikament. ‚Es wird dazu führen, dass Menschen weniger Rückfälle erleiden‘“.

Ebenso zuversichtlich sind offenkundig die beiden Pharmafirmen, die ihr Know-how in diesem Produkt vereint haben. Sowohl das japanische Unternehmen Otsuka Pharmaceutical Co., Ltd., welches den Medikamentenanteil herstellt als auch dessen kalifornischer Kooperationspartner Proteus Digital Health, Inc., der den aus Kupfer, Magnesium und Silizium bestehenden Sensor beisteuert, verkünden auf ihren Webseiten stolz die FDA-Zulassung.

Weitere Informationen finden sich in einem Beitrag, dessen Titel anmutet, als gehe es um etwas, das als Held einer Disney-Animation geeignet wäre: „Abilify MyCite – die sprechende Tablette“. Letztere sende, liest man da, „ein Signal aus“ sobald sie

„mit der Magenflüssigkeit in Kontakt gelangt. Aufgefangen wird das Signal von einem Empfänger, der mit einem Pflaster auf dem Brustkorb des Patienten angebracht ist. Der Empfänger sendet wiederum eine Botschaft an eine App. Diese ermöglicht es dem Arzt, Pflegern, Angehörigen oder Freunden, auf ihren Mobilgeräten zu kontrollieren, ob der Patient das Medikament den Anweisungen entsprechend einnimmt.“

Das Gesamtpaket „Abilify MyCite“ besteht daher aus Präparat, Smartphone – und Pflaster.

Ich will nur ein paar von den Fragen aufwerfen, die sich schon bis hierhin ergeben.

Halten die Medikamentenentwickler und -anwender Menschen, die an den von der FDA benannten Störungen leiden, für nicht zurechnungsfähig, wollen sie sie entmündigen? Soll „mangelnde Compliance“ (zu Deutsch: Der Patient folgte ärztlichen Vorgaben nur begrenzt), die ja oft nichts anderes ist als notwendige Selbstbehauptung in einem entfremdeten Gesundheitssystem, schon im Keim erstickt werden? Welche Reaktion seitens der Kontrollinstanzen soll erfolgen, wenn Patienten sich weigern, die Substanz den Vorgaben gemäß herunterzuschlucken? Denn – das vermerkt sogar die FDA in ihrem Bulletin – es gibt gar keinen Nachweis, dass „Abilify MyCite“ in der Lage ist, die Regelmäßigkeit der Tabletteneinnahme zu erhöhen (3). Worum geht es denn dann?

Variable Einsatzmöglichkeiten und ein großer Markt

Zu ergänzen ist zum einen, dass die – vielfach mit der Pharmaindustrie verfilzte – Psychiatrie nach wie vor weit entfernt davon ist, eine exakte Wissenschaft zu sein
(4), so dass es schon deshalb ein abartiger Gedanke ist, die Einnahme von deren oftmals fragwürdigen Verordnungen auch noch mit einer Art Polizeigewalt zu erzwingen.
Zu ergänzen ist weiterhin, dass laut Gesundheitsbericht des Robert-Koch-Institutes 2016 Depressionen „als Ursache für Krankschreibungen (…) in Ländern mit mittlerem oder hohem Einkommen weltweit die erste Stelle“ einnahmen. Allein in Deutschland erkranken im Laufe eines Jahres „ca. 5,3 Mio. Menschen“ an behandlungsbedürftigen Depressionen; „etwa jede vierte Frau und jeder achte Mann ist im Laufe des Lebens von einer Depression betroffen.“

Es geht daher bereits jetzt um umfangreiche Absatzmöglichkeiten. Und natürlich will man diese ausweiten. Spiegel Online teilt mit, Proteus Digital Health, die Herstellerfirma des Sensors, scheine

„weitaus größere Zielgruppen anzupeilen: Auf seiner Webseite schreibt das Unternehmen, das System könnte die größte Wirkung unter anderem bei Patienten mit Diabetes oder Bluthochdruck erzielen. Laut der gerade aktualisierten Leitlinie der US-Herzärzte hat fast die Hälfte der erwachsenen US-Amerikaner Bluthochdruck.“

Was da soeben freigegeben wurde, dürfte also bald viele weitere nützliche Anwendungen finden – innerhalb wie sicherlich auch außerhalb des Gesundheitssystems. Dass diese Art ferngesteuerter Medikamenteneinnahme nach Deutschland herüberschwappt, ist dann wohl nur noch eine Zeitfrage.

Dies umso mehr, als „Abilify“ – freilich bislang noch ohne Sensor – längst bei uns zum Einsatz kommt, und zwar als „Antipsychotikum“ bei

„Erwachsenen und Jugendlichen ab 13 Jahre zur Behandlung eines Zustands mit übersteigertem Hochgefühl, dem Gefühl übermäßige Energie zu haben, viel weniger Schlaf zu brauchen als gewöhnlich, sehr schnellem Sprechen mit schnell wechselnden Ideen und manchmal starker Reizbarkeit.“

Es ist also nur noch nötig, den Sensor hinzuzufügen – und schon kanns losgehen. Manchmal kann ich es gar nicht mehr fassen, wie schnell wir abstürzen in Kontroll- und Unterdrückungsstrukturen.

Abhilfe

Es gibt immerhin schon Vorschläge für Gegenmaßnahmen, wenigstens auf der individuellen Ebene. Egon W. Kreuzer schreibt in dem ohnehin sehr lesenswerten Artikel „Der Mensch bleibt analog“:

„Sollten Sie Tabletten nehmen (müssen) entfällt künftig die schwierige Frage: ‚Habe ich schon, oder hab ich noch nicht?‘. Ein Blick aufs Smartphone – und die Pillen-App holt sich die Info aus der Cloud, wo sie selbstverständlich auch für Ihren Arzt, das Pharma-Unternehmen, Ihre Krankenversicherung und, wenn gewünscht, auch für Ihre Erben abrufbar sein wird.
Konkret funktioniert das so, dass der Kontakt der Pille mit der Magensäure einen Stromkreis schließt (vielleicht wird durch die Säure auch ein galvanisches Element vervollständigt), wodurch ein klitzekleiner Sender aktiviert wird, der ein klitzekleines Signal aussendet, das wiederum von einem Empfänger in einem Pflaster, das auf Ihrem Bauch klebt, aufgefangen und verarbeitet und dann mit etwas höherer Sendeleistung an Ihr Smartphone weitergegeben wird. Dort wird die Pillen-App aktiviert und sendet ihrerseits die Erfolgsmeldung hinaus in die weite Welt.
Sollten Sie jemals mit solchen Pillen traktiert werden, empfehle ich Ihnen ein säurefestes Wasserglas mit ein bisschen Essig oder Kaffeemaschinenentkalker zu füllen und außen das Pflaster aufzukleben. Da werfen Sie die Pille dann hinein – und prompt wird Ihnen die erfolgte Einnahme bestätigt. Doch. Das stimmt.“

Noch besser wäre freilich, endlich ein (Gesundheits-)System zu schaffen, das solche Auswüchse gar nicht erst zulässt.

Voll im Trend

Neu ist das, was uns da nun in Form von „Abilify MyCite” ereilt, allerdings nicht. (Mal ganz abgesehen davon, dass sich die Grundidee schon in George Orwells „1984“ oder Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ nachlesen lässt). Der „Sensor” an sich wurde bereits 2012 von der FDA zugelassen. 2014 berichtete DIE ZEIT unter dem Titel „Der Arzt am Leib“ darüber, dass der staatliche Gesundheitsdienst in Großbritannien „das System Proteus Digital Health“, also diesen Sensor, testet. DIE ZEIT setzte fort:

„Unabhängig voneinander entstehen Anwendungen und Geräte, die es ermöglichen, immer mehr Körperparameter per Handy zu verfolgen. Apple will zur zentralen Speicherstelle werden, an der all diese Vitaldaten zusammenlaufen. Dazu wird die Health App auf jedem neuen iPhone vorinstalliert sein, auf älteren Geräten wird sie mit dem nächsten Betriebssystem-Update nachgerüstet.
Die Health App wird die unterschiedlichsten Gesundheitsdaten sammeln und sie bewerten, etwa Herzfrequenz, Kalorienaufnahme, Schlafverhalten, Blutzucker, Blutdruck, Sauerstoffsättigung im Blut und natürlich Körpergewicht. Auf Wunsch zeichnet die App auch auf, was man isst und wie gut man schläft. Darüber hinaus kann jeder Nutzer die App mit wichtigen Daten für den medizinischen Notfall füttern: Medikamente, Blutgruppe, Allergien und chronische Krankheiten, zudem dem Organspenderstatus. So entsteht mit der Zeit ein Datensatz, der viel über den Handybesitzer aussagt. ‚Apple will die Vielfalt, die auf dem Markt ist, nutzen und das Ganze auf einer Plattform konsolidieren (…) Und das ist natürlich ein Riesenmarkt, weil man damit potenziell alle als Kunden hat, die ein Mobiltelefon besitzen.‘ Apple verspricht immerhin hoch und heilig, die Gesundheitsdaten nicht zu verkaufen“.

Da nur allzu bekannt ist, was Versprechen wie das von Apple wert sind, ist klar: Wer sich auf diese Weise digital bis in die tiefsten Körperhöhlen hinein ausforschen lässt, nimmt die „Nachnutzung“ der dabei anfallenden Daten durch Dritte wissend in Kauf. Auch diese Kontroll- und Überwachungsinstrumente können ihre volle Wirkung also nur mit Zustimmung und aktiver Mithilfe großer Teile der Bevölkerung erzielen. Doch diese ist vorhanden, wie sich dem ZEIT-Artikel ebenfalls entnehmen lässt:

„Auf diese Weise entstehen bei Apple, Google und Co. riesige zentrale Sammelstellen für medizinische Daten – just das, was man in Deutschland aus Datenschutzgründen bislang weitgehend scheute. Einst fürchteten die Menschen eine elektronische Krankenakte. Nun haben viele keine Bedenken, ihre Körperdaten den Internetkonzernen anzuvertrauen. In einer Studie ermittelt derzeit ein Netzwerk von Hochschulen und Medizinfirmen die Haltung der Deutschen gegenüber Gesundheits-Apps. Vorläufiges Ergebnis: 68 Prozent der online Befragten würden sie zur Selbstkontrolle von Gesundheitsdaten einsetzen und 70 Prozent zur Einhaltung eines gesundheitsfördernden Lebensstils. In einer Erhebung des Branchenverbands Bitkom war einer von fünf Befragten bereit, sich einen Chip einpflanzen zu lassen, der seine Gesundheit überwacht.“

Wer so denkt, hat sicher auch nichts gegen den Einsatz von Überwachungspillen.


Quellen und Anmerkungen:

(1) „The product is approved for the treatment of schizophrenia, acute treatment of manic and mixed episodes associated with bipolar I disorder and for use as an add-on treatment for depression in adults.“ Hier ist im Gegensatz zu dem, was dann in mehreren Artikeln zu diesem Thema behauptet wird, gar nicht von einer Beschränkung auf schwere Depressionen die Rede.
(2) Lieberman soll schizophrenen Patienten, die pharmakologisch gut eingestellt waren, die Medikation entzogen und sie auf Amphetamine gesetzt haben – mit dem Resultat, dass diese erneut in die Psychose stürzten. Ich danke Knuth Müller für zusätzliche Informationen hierzu.
(3) „It is important to note that Abilify MyCite’s prescribing information (labeling) notes that the ability of the product to improve patient compliance with their treatment regimen has not been shown.“
(4) Die grundsätzliche Fragwürdigkeit des psychiatrischen Ansatzes diskutiert auch Thomas Szass „Die Fabrikation des Wahnsinns. Gegen Macht und Allmacht der Psychiatrie“, Fischer 1976.