„Humanitäre Intervention“: Neusprech für den Angriffskrieg

George Orwells „1984“ ist längst Realität. Krieg wird der Bevölkerung als Frieden verkauft.

Als sich im Jahre 1990 die Auflösung des Militärbündnisses unter sowjetischer Führung, des Warschauer Vertrages abzeichnete, mehr noch sogar die Auflösung der Sowjetunion selbst, war das für viele ein Meilenstein, gleichbedeutend mit dem Start in eine neue friedliche Welt. Die alten Feindbilder hatten sich aufgelöst, die kommunistische Gefahr als Begründung zur Hochrüstung ausgedient. Man müsste meinen, dass allerorts der Aufbruch in das friedliche Zeitalter gefeiert worden sei. Doch dem war nicht so.

Vorbemerkung: Mit diesem Artikel tauchen wir erneut in die manipulative, verfälschende Sprache der Propaganda ein (Orwell´sche Sprache). Auch in der Analyse hat diese Sprache Wirkung auf uns. Deshalb benenne ich – dort wo aus meiner Sicht erforderlich – das in wohlformulierter deutscher Sprache konkret die Handlung oder das Tun beschreibende Wort in Klammern hinter dem "Kunstwort". Sie werden feststellen, dass damit der jeweilige Satz eine teilweise völlig andere Bedeutung erhält und die Ergänzungen eine verblüffend entlarvende Wirkung haben.

War es nur ein Versprecher, als der damalige US-Generalstabschef Colin Powell nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion seufzte: „Mir gehen die Dämonen aus. Mir fehlen die Schurken“? Oder hatte er für einen Augenblick durchblicken lassen, wie wichtig Feindbilder für die US-Außenpolitik sind? Nur wenige Jahre später waren sie überall – die Dämonen. Und das NATO-Bündnis hatte wieder Gegner, die das eigene Dasein rechtfertigen konnten. [1]

"Auch westliche Militärs, wie etwa der Nato-Oberbefehlshaber General Shalikashvili, betonen immer wieder, die Nato sei heute und morgen so unentbehrlich wie gestern, um „Dämonen, die uns bedrohen, zu begegnen, sei es Instabilität oder mangelnde Sicherheit, seien es Ereignisse, die wir jeden Tag auf unseren Fernsehschirmen verfolgen, in Nagorni-Karabach oder Bosnien-Herzegowina“. Die Generäle spüren, daß das westliche Bündnis bisher diesem Anspruch nicht gerecht geworden ist, und sie leiden darunter." [2]

Humanitäre Interventionen (Angriffskriege) sind durch das Völkerrecht nicht gedeckt, ja sogar untersagt (Art. VII der UN-Charta). Um sie trotzdem akzeptabel für die Menschen (der Aggressor-Staaten) machen zu können, ist daher eines zuvor unerlässlich: eine massive, flächendeckende Kriegspropaganda. Und diese muss zu einer Dämonisierung des gewählten(!) Gegners führen. Wenn also die Dämonen ausgehen (wie der spätere US-Außenminister Colin Powell so schön sagte; s.o.), dann müssen halt neue geschaffen werden.

Und das ging ganz schnell, denn die US-amerikanische Aussicht, zum weltumspannenden Hegemon aufzusteigen, bedingte einige militärische Operationen, für die humanitäre Vorwände geschaffen werden mussten. Damit aus dem Angriffskrieg eben eine humanitäre Intervention würde.

Schon im Jahre 1991 war Der Spiegel u.a. auch ein Propaganda-Schmierblatt. Das sei hier etwas ausführlicher belegt:

"Man wird dem Führer des Irak nicht gerecht, man unterschätzt seine Gefährlichkeit, wenn man in ihm nur einen traditionellen Despoten oder einen modernen Diktator sieht. Im Unterschied zu Figuren wie Franco, Batista, Marcos, Pinochet und einem halben Hundert Ihresgleichen, die heute noch in aller Welt an der Macht sind, hat es Saddam Hussein nicht nur darauf abgesehen, ein Volk zu unterdrücken, zu beherrschen, auszubeuten und den Genuß, der darin liegt, so lange wie möglich auszukosten. Alleinherrscher dieser Sorte gehören zum Repertoire der Geschichte, ja man ist versucht zu sagen, zur Normalität der Staatenwelt, so wie wir sie kennen. Diese Monster geben keine Rätsel auf. Sie lassen sich von ihrem Selbsterhaltungstrieb leiten. Insofern gehorcht ihr Vorgehen einem Interessenkalkül, und das macht sie ihrerseits kalkulierbar." [3]

Wir sind die Guten im Kampf gegen das Böse; diese Denkschablone ist kein alleiniges Phänomen der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart. Die Sprache war vor einem viertel Jahrhundert genauso gewalttätig, verlogen und zum Krieg treibend, wie sie es heute auch ist. Die Menschen waren schon damals so sediert und unfähig zu begreifen, in welchem Ausmaß sie manipuliert werden. Die Orwell'sche Durchdringung von Sprache – sie war bereits allgegenwärtig. Lesen Sie weiter im Erguss des Spiegel:

"Hitler wußte sich von solchen Überlegungen frei. Eben hierin ist Saddam Hussein sein genuiner Nachfolger. Er kämpft nicht gegen den einen oder anderen innen- oder außenpolitischen Gegner; sein Feind ist die Welt. Die Entschlossenheit zur Aggression ist der primäre Antrieb; Objekte, Anlässe, Gründe werden gesucht, wo sie sich finden. Wer bei der Vernichtung zuerst an die Reihe kommt, ob Iraner oder Kurden, Saudis oder Palästinenser, Kuweitis oder Israelis, hängt nur von den Gelegenheiten ab, die sich bieten. Auch dem eigenen Volk ist dabei keine Sonderstellung zugedacht; seine Vernichtung ist nur der letzte Akt der Mission, zu der sich Saddam berufen fühlt. Der Todeswunsch ist sein Motiv, sein Modus der Herrschaft ist der Untergang. Diesem Ziel dienen alle seine Handlungen. Der Rest ist Planung und Organisation. Er selbst wünscht sich nur das Privileg, als letzter zu sterben." [4]

Ich möchte darauf hinweisen, dass die Auszüge aus diesem Artikel, vom offenbar in vollständiger Selbstgerechtigkeit aufgelösten und sich selbst so als Humanisten sehenden Hans Magnus Enzensberger stammen. Unter dem Mantel der Menschlichkeit argumentierend, dabei sichtbar von Hass zerfressen und mit bedenklicher politischer und geschichtlicher Inkompetenz versehen, lässt er sich am unbegreiflichen Wesen in Person Adolf Hitlers und Saddam Husseins aus. In all dem spiegelt sich die eigene Selbstüberhebung und die mangelnde Bereitschaft, das Denken, Handeln und Fühlen anderer Menschen und Gesellschaften tatsächlich verstehen zu wollen.

Solche Menschen lassen sich hervorragend propagandistisch einspannen. Sie sind die Rufer zur humanitären Intervention (Angriffskrieg) und so hat Enzensberger seine Rolle damals perfekt gespielt und der Spiegel hat ihm dafür sehr gern den nötigen Raum geboten. Und nicht zu vergessen: Damals wie heute ergreifen die Medien Partei, was es ihnen praktisch unmöglich macht, anspruchsvollen Journalismus zu leisten. Was Enzensbergers Essay im Spiegel betrifft, machte er sich auch noch zum Vasallen, zukünftige Feindbilder (gegen die man folgerichtig kämpfen MUSS) anzumahnen:

"Seine Nachfolger dürften unter dieser Beschränkung ihrer Handlungsfreiheit kaum zu leiden haben. Es ist absehbar, daß in Zukunft andere Völker ihren und unsern Henkern zujubeln werden. Ewige Verlierer gibt es in allen Himmelsrichtungen. Unter ihnen nimmt das Gefühl der Demütigung und die Neigung zum kollektiven Selbstmord mit jedem Jahr zu. Auf dem indischen Subkontinent und in der Sowjetunion liegt dafür das nukleare Arsenal bereit. Woran Hitler und Saddam gescheitert sind, am Endsieg, das heißt, an der Endlösung – ihrem nächsten Wiedergänger könnte sie gelingen." [5][6]

Es kann nachfolgend kaum überraschen, dass Enzensberger auch einer derjenigen war, die 12 Jahre später den militärischen Überfall auf den Irak im Jahre 2003 befürworteten. [7]

Eine paranoide Gesellschaft wie die heutige ist die konsequente Fortschreibung eines Jahrzehnte alten paranoiden Selbstverständnisses der Meinungsführer. Intellektuelle wie Hans-Magnus Enzensberger haben an der Pflege dieses Selbstverständnisses fleißig mitgearbeitet. Und nur in einem solchen Klima sind sie auch möglich: humanitäre Interventionen (Angriffskriege).

Humanitäre Interventionen (Angriffskriege) sind die Folge von Paranoia und Selbstüberhebung, ausgenutzt von und gleichzeitig im Bunde mit ausgeprägten egoistischen Interessen und immer gestützt von alltäglichem Opportunismus. Sie sind ein begrifflich kaschiertes Instrument von Macht und Herrschaft.

Die Sowjetunion lag noch im Sterben, da ging die Saat der neuen Feindbilder bereits auf. Im April 1991 wurde eine militärische Intervention (Angriffskrieg) der USA und Großbritanniens im Irak (Provide Comfort) erstmals als humanitär bezeichnet. Sie gab vor, damit die kurdische Bevölkerung des Irak schützen zu wollen, und nahm auf diese Weise das später entwickelte und mit diesem zusammenhängende Konzept des Responsibility to Protect (R2P oder "Pflicht zu Schützen" oder auch "Schutzverantwortung", richtiger: Herrschaftsanspruch) vorweg. [8][9]

Colin Powell, dem damaligen US-Generalstabschef, wird gern wohlmeinend unterstellt, sein Spruch "uns gehen die Dämonen aus", sei ein scherzhafter Versprecher gewesen. Das ist nicht überzeugend – und beachten Sie die Analogie zu den Aussagen Enzensbergers. Denn 13 Jahre später stand Powell auf der Bühne des Weltforums und präsentierte "Beweise" von fahrbaren Labors zur Herstellung biologischer Massenvernichtungs-Waffen im Lande des Dämons Saddam Hussein. Powell hatte ein Feindbild (gefunden) und mit diesen "Beweisen" wurde es bedient. Powell ist somit einer der Hauptverantwortlichen für das Chaos, das wir heute im Nahen Osten erleben. Mann muss die Lüge nur dreist genug in die Kameras sprechen, dann wird sie auch geglaubt. Und so log Powell in die Kameras [10]:

"Jeder Punkt ist durch Quellen, solide Quellen, gestützt. Das sind keine Behauptungen; sondern Fakten und Schlüsse aufgrund solider Erkenntnisse." [11]

Damit hat dieser Mann entscheidend die Barrieren bei den US-Amerikanern abgebaut, um die humanitäre Intervention im Irak (Angriffskrieg gegen den Irak) und "Entwaffnung Husseins" einzuleiten. Adolf Hitler hat den Krieg des Deutschen Reiches gegen Polen im Jahre 1939 mit dem Überfall auf den deutschen Rundfunksender Gleiwitz begründet. Ich kann keinen prinzipiellen Unterschied zum Verhalten Colin Powells erkennen...

Das US-amerikanische Volk hatte die Angst, welche notwendig war, um den Krieg zu befürworten, ausreichend inhaliert. Paranoia bei den Mächtigen allein genügt nicht, auch die Ohnmächtigen (sich so Fühlenden) müssen in Paranoia gehalten werden:

"Schließlich glaubten zwei von drei Amerikanern – irrigerweise –, dass Saddam Hussein etwas mit dem 11. September zu tun habe; fast 80 Prozent vermuteten, dass er Atomwaffen besitze oder kurz davor stehe." [12]

Humanitäre Interventionen (Angriffskriege) sind also die URSACHE von Destabilisierung und grassierendem Terrorismus – und NICHT die als notwendig apostrophierte Folge von diesen. Wie also bekämpft man am besten den Terrorismus? So, wie wir es erleben – gar nicht, denn genau das Gegenteil wird bewirkt! Dieser Kampf ist die Fiktion, die Manie des Westens, um seine Politik zu legitimieren. Und genauso nährt er den Terrorismus, denn der Staatsterrorismus des Westens fordert den Widerstand der Angegriffenen folgerichtig heraus. Der Schauspieler Peter Ustinov sagte einmal:

"Vor allem können Sie keinen Krieg dem Terrorismus erklären, ohne selbst zum Terroristen zu werden. Ich denke, der Terrorismus ist ein Krieg der Armen und der Krieg ist der Terrorismus der Reichen. Der Krieg ist kein Mittel im Kampf gegen den Terrorismus." [13]

Das war in den Tagen, als die USA, jedes Völkerrecht brechend, ihren Krieg gegen den Terror (Herrschaftsanspruch, auf Staatsterrorismus basierend) mit Bombern und Panzern in den Irak brachten. Peter Ustinovs Gedanken sind von beeindruckender Tiefe und immer wieder durch die Realität bestätigt worden. Sie verdienen damit die Kategorisierung als (wissenschaftliche) These.

Wie schon w.o. angemerkt, agieren die Prinzipien von humanitärer Intervention (Angriffskrieg) und Responsibility to Protect (Herrschaftsanspruch) in enger Symbiose. Das Zweite ist der ethisch-moralische Vorwand zur Legitimation des Ersteren. Wichtig ist dabei die Schaffung einer emotionalen breiten Zustimmung für diese Einsätze:

"Der eigentlich innovative Kern des Schutzverantwortungs-Prinzips [Herrschaftsanspruch], die Interventionspflicht [(moralische) Pflicht zum Angriffskrieg], ist keine bindende Rechtsnorm. Dafür mangelt es dem Prinzip an wesentlichen Voraussetzungen, darunter insbesondere Allgemeingültigkeit, Klarheit, Konsistenz und vor allem auch an einer entsprechenden Rechtspraxis. Staaten wollen sich nicht rechtlich zu einer Intervention verpflichten lassen. Völkerrechtlich hat R2P keine signifikanten Folgen, es bleibt vor allem ein politisch-moralisches Konzept . Im Kern geht es dabei um einen Bewusstseinswandel, um die Schaffung "einer reflexhaften internationalen Reaktion, dass massenhafte Verbrechen, die stattfinden oder bevorstehen, alle und nicht niemanden etwas angehen". [14]

Was also sollte die Schlussfolgerung sein? In der Zeit nach Besetzung des Irak durch die USA weilte der ehemalige Burda-Chef Jürgen Todenhöfer (sich dort als Arzt gebend) fünf Tage in Ramadi. Er berichtet:

"2007 begegnete ich in Ramadi einem jungen Kämpfer von „al-Qaida im Irak“, der Vorgänger-Organisation des IS. Der bleiche, schüchterne Student sah ganz und gar nicht wie ein Terrorist aus. Entgeistert fragte ich ihn, warum er sich ausgerechnet der barbarischsten Terror-Organisation angeschlossen hatte. Schließlich gab es im Irak damals zahlreiche andere, nicht terroristische Widerstands-Bewegungen." [15]

Wir sind wieder an einem Punkt angelangt, bei dem es um reflektierendes Mitfühlen und damit Verstehen geht; und zwar ohne die Einnahme einer parteiischen Haltung. Terroristen nur als "böse" zu sehen, verkleistert uns die Augen davor, dass es sich um Menschen handelt, deren Handlungsweisen durchaus erklärbar und verständlich sind. Sehr wohl können wir uns darin auch selbst erkennen. Und so berichtet Todenhöfer weiter:

"Stockend erzählte er, dass amerikanische Soldaten seine Mutter bei einer Hausdurchsuchung vor seinen Augen erschossen hätten. Sie habe sich vor die eindringenden Soldaten geworfen und sie angefleht, nicht auch noch das bisschen Hausrat, das sie besaßen, zu zerstören. Nach einer langen Pause fragte ich ihn, wie man trotz allem irgendwann die Gewaltspirale aus Krieg und Terrorismus beenden könne. Leise antwortete er: „Verschwindet aus unseren Ländern. Dann wird auch der Terrorismus verschwinden." [16][17]

Das Prinzip, humanitäre Interventionen (Angriffskriege) loszutreten, hat sich bis in die Gegenwart nicht verändert. Damit ist es aber auch durchschaubar; und seine stärkste Waffe ist wohl erkennbar: Das Wecken und Pflegen von Feindbildern. Der Terror – vom westlichen Herrschaftsanspruch über die Völker gebracht – ist dann nur Resultat der Anmaßung, das Recht zur Gestaltung anderer Gesellschaften gepachtet zu haben.

Bleiben Sie in dem Sinne schön aufmerksam.


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*Quellen:

[1][15][16] Jürgen Todenhöfer; 11.1.2017; https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-bumerang-des-westens

[2] Christoph Bertram; 7.5.1993; http://www.zeit.de/1993/19/die-agonie-der-generaele/komplettansicht?print

[3][4][5] Hans-Magnus Enzensberger; 4.2.1991; http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13487378.html

[6] 18.2.1991; http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13489675.html

[7] 24.6.2017; https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Magnus_Enzensberger

[8] 24.6.2017; https://en.wikipedia.org/wiki/Operation_Provide_Comfort

[9] 31.10.2008; http://www.bpb.de/apuz/30862/gibt-es-eine-responsibility-to-protect?p=all

[10] 19.3.2013; http://www.spiegel.de/politik/ausland/ex-aussenminister-powell-raeumt-fehler-im-irak-krieg-ein-a-889852.html

[11][12] 5.2.2013; http://www.deutschlandfunk.de/plaedoyer-fuer-den-irakkrieg.724.de.html?dram:article_id=236538

[13] 22.4.2003; https://www.welt.de/print-welt/article689952/Der-Krieg-ist-der-Terrorismus-der-Reichen.html

[14] 2.9.2013; http://www.bpb.de/apuz/168165/schutzverantwortung-und-humanitaere-intervention?p=all

[17] Jürgen Todenhöfer: „Warum tötest du, Zaid?“ C. Bertelsmann 2008, 335 Seiten; ISBN 978-3-641-06181-4; Taschenbuch bei Wilhelm-Goldmann Verlag