Heimat der Braven

Aus Sicht der US-Bürger erscheinen viele Phänomene in Deutschland nur noch grotesk. Im Jahr der Präsidentschaftswahlen lohnt sich ein Trip durch amerikanische Städte.

Wenn man einmal rauskommt aus dem „besten Deutschland, das es jemals gegeben hat“, und den alten Kontinent verlässt, merkt man schnell, wie unbedeutend die hiesigen Diskurse im globalen Maßstab sind. In den USA verbindet man lediglich noch Autos, Fußball, aber auch die Flüchtlingskrise mit der aktuellen Bundesrepublik. Ein politischer Reisebericht von Sven Brajer.

Er werde im Herbst Donald Trump wählen, erzählt Taxifahrer Ahmed aus dem Jemen, der erst seit 2017 in Queens, New York, lebt. Auf die verdutzte Frage „Warum?“ antwortet der Enddreißiger, der damals auf regulärem Weg in die USA gekommen ist, dass er bereits jetzt etwa 23 Prozent Steuern zahlt — als Taxifahrer und als Mitinhaber eines Lebensmittelhandels. Durch die ganzen illegalen Einwanderer, die zumeist über Mexiko über die südliche Staatsgrenze ins Land kommen, würden Löhne gedrückt und die Steuern letztlich weiter erhöht — das findet er ungerecht. Trump — dessen rote „Make America Great Again“-Mütze im Trump Tower ausverkauft ist, die aber nicht eine Person in New York trägt — würde das auf jeden Fall ändern.

Sticker in Brooklyn

Politische „Agitation“ in Philadelphia

Auf der Fahrt nach Brooklyn fallen die zahlreichen Palästina-Flaggen auf — die muslimische Community sei in den letzten Jahren stark gewachsen. Doch die Leute halten sich weitgehend an die Regeln und gehen einer Beschäftigung nach, meint Ahmed. Das fällt sowieso auf: Ob US-Amerikaner weißer, schwarzer, ostasiatischer oder südamerikanischer Abstammung — alle sind zurückhaltend bis freundlich, im öffentlichen Raum auf Abstand bedacht.

Kaum jemand käme auf die Idee, die U-Bahn mit geschmackloser Trap-Musik zu beschallen, laut am Handy mit Bild und Raumklang zu telefonieren oder von früh bis Abend am Wochenende im Park zu sitzen, den ganzen Tag zu grillen und am Abend seinen Müll vor Ort zu lassen. Und Deutschland? Dort würden immer noch gute Autos gebaut — außer VW —, doch man brauche — ähnlich wie die USA — dringend Fachkräfte, denn die Bundesrepublik sei ein „altes Land“.

So weit, so gut.

Was Ahmed nicht versteht: Warum kann jeder ungeprüft in die Bundesrepublik einreisen und erhält dort eine staatliche Vollversorgung aus Steuergeldern? Wieso holen „die Deutschen“ sich nicht die Leute, die sie wirklich brauchen, warum prüfen sie nicht, wer ins Land kommt?

Darauf hatte ich keine wirkliche Antwort — beziehungsweise keine Lust, ihm die Termini „spätrömische Dekadenz“, „Erinnerungskultur“, „Dunkeldeutschland“ oder den aktuellen Übergang von sozialer Marktwirtschaft zu zentralistischer, staatlicher Planwirtschaft zu erklären. Aber Ahmed war weiter neugierig: Was ist mit dieser „neuen Party“, die aus der NATO austreten will?

Es war nicht klar, ob er das BSW oder die AfD meint — doch er könne das grundsätzlich verstehen: Er habe in Russland und der Ukraine gelebt, beide Völker seien sich zu 99 Prozent ähnlich, und die NATO habe einen massiven Keil zwischen beide getrieben. Viele US-amerikanische Steuerzahler haben, wie viele deutsche Steuerzahler, keine Lust mehr, das „durchkorrumpierte Kiewer Regime“ zu unterstützen — denn auch in den USA sind seit 2022 die Energie- und Lebensmittelpreise gestiegen.

Als ich darauf erwiderte, dass in den USA die Wirtschaft aber im Vergleich zu Deutschland dennoch brumme und man in Berlin bereits vor der Rezession (2023) und dem Ukrainekrieg (2022) die weltweit höchsten Steuern, Abgaben und Energiepreise hatte, wurde er kurz still und meinte dann: Was ist bei euch nur passiert seit den 2010er-Jahren?

Ein ähnlich politisch fundiertes Gespräch wie mit Ahmed sollte ich während meiner zehntägigen Reise nicht mehr haben — obwohl gefühlt jeder US-Amerikaner, der mitbekommt, dass man aus Deutschland kommt, sofort aus dem Häuschen ist: „Oh, you’re German?! I’m too!“. Meine Herkunftsstadt- oder Region interessiert dabei nicht. Meist kam der Urgroßvater aus Deutschland, und der Nachname — den man aber nicht richtig aussprechen kann — zeugt tatsächlich davon.

Bei der Frage, wo er denn genau herkam und weshalb der Großvater die alte Heimat verließ, gibt es dann passenderweise zumeist Schulterzucken. Mehr über die deutschen Einwanderer kann man beispielsweise auf dem beeindruckenden Green-Wood Cemetery, dem Friedhof am Rande von Brooklyn, entstanden 1838, lernen: Etwa 30 bis 40 Prozent aller Namen und ihrer oftmals beeindruckenden Grabsteine lauten Gottschalk, Schmidt, Finck, Weyer oder auch Eliza Gilbert — die einst Bayerns König Ludwig I. unter ihrem Künstlernamen Lola Montez den Kopf verdrehte und mit 39 Jahren in New York an Lungenentzündung tragisch starb. Mehr Erfolg in der neuen Welt hatte der Erbauer der weltberühmten Brooklyn Bridge: Er wurde als Johann August Röbling 1806 in Mühlhausen in Thüringen geboren und verließ in den 1830er-Jahren das biedermeierliche und unfreie Deutschland des Vormärz.

Blick auf Südost-Manhattan mit der Brooklyn Bridge rechts

Laut meinen „deutschen“ Gesprächspartnern Michael, Bryan oder Deborah, die all das eher wenig interessierte, sind deutsche Autos jedoch nach wie vor die besten der Welt, Borussia Dortmund viel besser als Bayern — ach, schau an! — und das deutsche Bier auch viel toller als US-amerikanisches.

Zumindest beim letzten Punkt mögen sie — noch — recht behalten, doch wer beim Biergenuss auch über den pilsigen Rand hinausschauen kann, dem sei ein Brooklyn Lager oder Wissahickon Hazy IPA ans Herz gelegt. In den letzten Jahren sind einige spannende Mikrobrauereien in und um New York entstanden — zumal auch die mexikanische Community zahlreiche leckere Biere „mitgebracht“ hat. Wer allerdings auf Berliner Pilsner oder Lübzer steht, wird auch im Jahr 2024 in den USA wenig zu lachen haben. Den hat man aber beim Alkoholkauf sowieso nicht: Im Supermarkt kosten Biere umgerechnet etwa drei bis vier Euro aufwärts und in großstädtischen Kneipen der Metropolen im Nordosten des Landes zwischen 8 bis 12 Dollar.

Dazu kommen dann noch seltsame Trinkgeldbräuche, die für Europäer genauso unverständlich sind wie Baseball- oder Footballregeln, sowie Steuern, die immer erst mit der Rechnung ausgewiesen werden. Ähnlich gut kann man sich neben dem Trinken auch das Rauchen abgewöhnen: Nur noch zwölf Prozent der US-Amerikaner rauchen Tabak, die Schachtel kostet 10 bis 20 Dollar, und man wird sozial noch stärker verfemt als in Deutschland. Dafür riecht es in New York und Philadelphia an fast jeder Ecke nach Cannabis — das wiederum ist nämlich seit wenigen Jahren legal. Auch in diesen Entwicklungen sind die USA weiterhin unser großes Vorbild. Ob das die Bildungsmisere beidseits des Atlantiks lösen wird und damit „endlich“ die Chinesen eingeholt werden?

Auf jeden Fall führt es dazu, dass man sich in der New Yorker U-Bahn tatsächlich sicherer fühlt als im Berliner Gegenstück: Kiffen macht träge, Alkohol aggressiv. Vielleicht liegt es aber auch an den Polizisten an jeder zweiten U-Bahnstation im Big Apple.

US-amerikanisches Selbstverständnis

In Philadelphia sieht das anders aus. Ja, sie sind dort tatsächlich fast überall, die Menschen, die sich die „Zombie-Drogen“ Fentanyl und Xylazin („Tranq“) spritzen, da diese viel günstiger und dafür noch deutlich stärker als Heroin und Kokain wirken. Philadelphia ist eine sehenswerte, fast europäische Stadt, doch bin ich auch Historiker und kein Netflix-Junkie — dann hätte mir New York besser gefallen. Entstanden im 17. Jahrhundert, gegründet vom englischen Quäker William Penn — der als 12 Meter große Statue seit 1907 auf der gigantischen Rathauskuppel steht, deren Besuch auch für höhenempflindliche Menschen einen Pflichttermin darstellt —, hat „Philly“ einen ganz eigenen Charme.

Und im Gegensatz zum Big Apple — wo für viele Corona, nicht zuletzt auch aufgrund der vielen Maskenträger — offenbar immer noch anhält — bekommt man hier im Hotel sogar richtiges Besteck statt Papptellern und Plastikgeschirr — der „Bag“ aus Pappe oder Kunststoff ist natürlich im Supermarkt überall obligatorisch, so schnell kann man gar nicht auf den eigenen Rucksack zeigen.

Umso geschockter ist man dann, wenn vor der „City Hall“, anglikanischen Kirchen oder dem „Museum oft the American Revolution“ wie aus dem Nichts drei oder vier Menschen liegen, die völlig apathisch und verkrampft und fast wie tot wirken. Die Kühle, mit der diese Leute von den hastig vorbeilaufenden Geschäftleuten und Touristen aus dem ganzen Land ignoriert werden, lässt tief in die US-amerikanische Gesellschaft — die noch viel vernarrter permanent auf ihre Handy starrt als die deutsche — blicken. In Philadelphia wirkt der Kontrast zwischen arm und reich — der immer noch mit schwarz und weiß gleichzusetzen ist — dadurch noch viel stärker als in New York.

Skyline von Philadelphia, Blick vom Rathausturm gen Westen.

Statue von Silvester Stallone alias „Rocky“ vor dem Kunstmuseum in Philadelphia. Ob er als (mittel-)alter, weißer Mann in Berlin auch noch auf dem Podest stehen würde?

In Museen und Restaurant sind die Gäste zumeist weiß oder ostasiatischer Herkunft; die Kellner und Sicherheitskräfte dagegen oft schwarz, arabisch oder Latinos. Aber das war sicher nur mein subjektiver Eindruck und ich stelle mir die Frage ob sich Taxifahrer Ahmed aus Queens und seine Familie auch die 24 Dollar für das Museum of the American Revolution oder das berühmte Kunstmuseum MoMA für schlappe 30 Dollar in New York leisten können? Das miese 12-Dollar Bier auf dem Flughafen in Philadelphia kann bzw. wird er sich so oder so sparen.

So freue ich mich doch wieder als ich über Frankfurt am Main in der Bundesrepublik lande und weiter nach Berlin muss: Windräder und Solaranlagen verschönern die Landschaft, das „Selbstbestimmungsgesetz“ ist endlich verabschiedet; drei, vier mehr oder weniger bekannte weitere mittelständische Unternehmen sind insolvent gegangen und ich stelle mir die Frage warum an Plastikflaschen seit kurzem immer der Deckel festgeschraubt ist. Endlich wieder zuhause.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Im Jahr der Präsidentschaftswahlen: What’s up im „Land of the Free“?“ auf dem Blog „Im Osten“.