Hauptsache, Feindbild!

Die Debatte um ausländische Kindergeldbetrüger zementiert Vorurteile.

Betrügen deutsche Millionäre, ist das nicht weiter der Rede wert; betrügen dagegen „Ausländer“ ist das wieder mal typisch und der Startschuss zu einem Politik- oder gar Epochenwechsel. Die mediale Entrüstung kocht derzeit hoch, weil Kindergeld unberechtigterweise an EU-Ausländer ausgezahlt wurde. Steuerverschwendung! Als gäbe es nicht genügend Fälle, in denen weit mehr Geld – und von Deutschen! – verschwendet wird...

Über 260.000 Kinder sollen es sein – inklusive der circa 30.000 deutschen Kinder – für die aus dem deutschen Bundeshaushalt Steuergelder aufgewendet und ins Ausland versendet werden müssen. Unter den Empfängern befinden sich ausländische Kindergeldbetrüger. Es wird also Geld ausgegeben für Kinder, die gar nicht zum entsprechenden Kindergeld-Antragsteller in mütterlicher oder väterlicher Beziehung stehen.

Ausländische Kindergeldbetrüger – das geht nicht

Die deutsche Seele kocht hoch. Die Medien deklinieren es rauf und runter. Man muss einschreiten, Maßnahmen ergreifen, dem Bezug ein Ende setzen. Die Steuergeldverschwendung muss eingedämmt werden.

So liest man bei der Münsterschen Zeitung:

„Mehrere hundert Millionen Euro Kindergeld zahlt der deutsche Staat inzwischen an Empfänger im EU-Ausland, Tendenz stark steigend. Oberbürgermeister schlagen Alarm: Der soziale Friede sei zunehmend gefährdet.“

Der Fokus-Leser erfährt, dass 2017 eine Summe von 343 Millionen Euro an Konten im Ausland gezahlt wurde. Um im nächsten Satz zu lesen, dass sich die Bundesagentur Sorgen um organisierten Sozialbetrug mache. Die – unbewusste – Assoziation ,343 Millionen im Ausland als Folge von Sozialbetrug‘ ist sicherlich nicht gewollt. Oder vielleicht doch?

Laut Westfalenpost sollte am besten gleich das BKA gegen diese Kriminellen eingesetzt werden. Das zeigt die ganze Dramatik der drohenden Gefahr.

Obwohl aktuell noch niemand den Anteil an Betrügern wirklich quantifizieren kann, klingt es bereits dramatisch: „Bei 100 Verdachtsprüfungen in Wuppertal und Düsseldorf wurden in 40 Fällen fehlerhafte Angaben festgestellt“ liest man in der Westfalenpost.

Bei der FAZ liest sich das schon anders: „Die Familienkasse betont, es gebe keinen flächendeckenden Betrug. Stichproben ergaben einzelne Missbrauchsfälle vor allem in Nordrhein-Westfalen. Beim Kindergeld für Personen, die aus dem Ausland kommen, um hier zu arbeiten, deren Kinder aber in der Heimat geblieben sind, ,„findet so gut wie kein Missbrauch statt‘.“

Obwohl niemand wirklich die Zahlen kennt – beziehungsweise kennen kann –, wird heftig hochgerechnet. So sind es laut Huffington Post mehr als 100 Millionen Euro – pro Jahr –; andere Medien nennen noch höhere Zahlungen. Also fast 30 Prozent des ins Ausland gezahlten Kindergeldes wird ausländischen Betrügern – den Rumänen und Polen wie man lesen kann – aus unseren Sozialkassen nachgeworfen.

Was daraus in sogenannten „rechten“ Blogs und Facebook-Gruppen gemacht wird, ist für Rubikon nicht zitationsfähig – es fällt unter „Hate Speech“ – und war definitiv absehbar.

War es auch gewollt? Natürlich ist Betrug inakzeptabel. Aber warum wird das jetzt mal wieder hochgekocht?

Reicht die überzogene Flüchtlings- und Seenot-Debatte nicht aus, um in der Volksseele Angst, Wut und Missgunst am Kochen zu halten? Und wie sehr belastet uns das Thema wirklich – wirtschaftlich?

Die Zahlen nüchtern betrachtet

343 Millionen Euro: Gehen wir mal von 10 Prozent Betrugsfällen aus – dann sind das rund 35 Millionen, die von Betrügern kassiert werden. Das ist sehr viel Geld! Aber jährlich werden 35 Milliarden Euro Kindergeld auf inländische Konten überwiesen – Auslandsüberweisungen betragen insgesamt also 1 Prozent, der Betrugsanteil liegt bei 1 Promille.

Die Flugstunde eines Eurofighters kostet 74.000 Euro. Ja, wirklich – nachzulesen bei NTV. 1.000 Flugstunden kosten 74 Millionen. Nur 500 Stunden weniger dieser Eurofighter-Einsätze könnten für den Finanzausgleich für nicht korrekt bezogenes Kindergeld sorgen.

Alternativ könnte man sich natürlich auch endlich einmal um die richtigen Steuerbetrüger kümmern; also um jene, die sich nicht mit weniger als 3.000 Euro pro Jahr und Kind begnügen. Steuerbetrug in Deutschland liegt laut Fokus bei läppischen 17 Milliarden, also 17.000.000.000 Euro jährlich. Wenn man diese EINMAL abkassieren würde, könnte man 485 Jahre lang den Verlustbetrag ausgleichen.

Auch der Rechnungshof weist auf Steuerverschwendung in viel massiverem Umfang hin: „Der Bundesrechnungshof hat den 2016 in Deutschland eingeführten Umweltbonus – auch bekannt als „Elektroauto-Kaufprämie” – scharf gerügt. Die Finanzkontrolle des Bundes bemängelte einen zu großen Einfluss der Industrie, zudem gebe es einen zu hohen Personalbedarf bei der Umsetzung.“ Die hier zur Verfügung gestellten 600 Millionen Euro würden das nicht legale Kindergeld immerhin 17 Jahre lang ausgleichen.

Hätte man nach der Wahl zum Bundestag 2017 darauf verzichtet, das Parlament zu vergrößern, hätte man die 35 Millionen mit Leichtigkeit eingespart. Insgesamt sollen die Mehrkosten rund 200 Millionen im Jahr betragen. Allein die Kosten für Diäten und Mitarbeiterpauschalen der zusätzlichen 79 Abgeordneten belaufen sich auf rund 33 Millionen Euro im Jahr. Dagegen wirken die rund 2 Millionen Euro, die sich aus der Diätenerhöhung für die 709 Bundestagsabgeordneten ergeben, schon fast bescheiden!

Es ließen sich schier endlos viele Beispiele finden, wo „unser mühsam erwirtschaftetes Steuergeld“ sinnlos verschwendet wird. Hochgespielt – intensivst diskutiert – mit massiven Forderungen nach Veränderung vorgetragen wird jedoch das Thema „Ausländischer Kindergeldbetrug“.

Betrug ist und bleibt illegal und muss verfolgt werden. Aber die Form, in der dieses Thema aktuell durch sämtliche Medien ge-hyp-t wird, sprengt mal wieder völlig den Rahmen der Rationalität.

Sommerloch – oder doch gezieltes Bedienen der AFD-Klientel durch Feindbild-Genese? Ich weiß es nicht.