Händereichen über den Abgrund
Ist die Welt noch zu retten? Ja! Das ist das Ergebnis eines deutsch-russischen Gesprächs.
Einen Menschen nicht zu kennen — das kann vorkommen. Ihn, seine Ansichten und seine Welt gar nicht kennenlernen zu wollen ist dagegen brandgefährlich. Vor allem, wenn es um Menschen aus zwei Ländern geht, deren Machthaber sie in der Geschichte immer wieder in eine Feindschaft hineingetrieben haben. Da überlagern kollektive Traumata der Vergangenheit oft die klare Wahrnehmung dessen, was in der Gegenwart ist. Der Blick in die gemeinsame Geschichte zweier Völker kann aber auch viele Gemeinsamkeiten zutage fördern. Liebe und Frieden sind Werte, an denen Russen wie Deutschen gelegen ist. Um dem Hass keinen Raum zu geben, muss man zunächst die authentische Begegnung suchen und sich um Verständnis bemühen. Die Autorin, Kunsthistorikerin aus Magdeburg, hat in Kaliningrad den Germanistik-Professor Wladimir Gilmanov zum Gespräch getroffen. Beiden gemeinsam sind gute Kenntnisse und Respekt vor der Kultur des jeweils anderen Landes.
Königsberg in Ostpreußen ging im Zweiten Weltkrieg unter. Vor 80 Jahren, Ende August 1944, entfachten britische Bomber einen Flächenbrand in der Innenstadt; am 9. April des darauffolgenden Jahres erfolgte die Unterzeichnung der Kapitulation. Im Kaliningrader Gebietsmuseum sind die letzten Tage von Königsberg in einem Diorama dargestellt, wahrheitsgemäß mit noch erkennbarer deutscher Propaganda an den verbrannten Mauern.
Brennende Innenstadt von Königsberg, Kaliningrader Gebietsmuseum für Geschichte und Kunst, Foto: Iris Berndt
Stärkste Festung Europas, Kaliningrader Gebietsmuseum für Geschichte und Kunst, Foto: Iris Berndt
Foto: Durchblick in den Schlosskeller, Kaliningrader Gebietsmuseum für Geschichte und Kunst, Foto: Iris Berndt
Sieg oder Sibirien, Kaliningrader Gebietsmuseum für Geschichte und Kunst, Foto: Iris Berndt
Uns ist hier zum Schreien zumute. Es läuft ein dritter Weltkrieg, und jeden Tag wachsen die Gewalt, die Zahl der Toten und der Hass. In der Ukraine ebenso wie in Gaza. Der Ukrainekrieg droht ganz Europa, insbesondere Deutschland, in einen Friedhof zu verwandeln. Wir aber wollen, dass die Welt weiter existiert.
Wir, das sind Wladimir Gilmanov, geboren in Kaliningrad, Professor der Germanistik an der Föderalen Kant-Universität der Stadt, 69 Jahre alt, und Iris Berndt, Kunsthistorikerin, geboren in Magdeburg, vom Projekt des Berlin-Brandenburgischen Künstlerlexikons und in Potsdam lebend, 56 Jahre.
Wir haben uns durch einen Zeitungsartikel kennengelernt, Zufall. Sitzen in einem Café in Kaliningrad. Und wollen die Welt retten vor dem Verderben.
Iris Berndt: Meine Mutter würde jetzt sagen: „Kind, bleib bei der alten Kunst. Das kannst du, von Politik hast du keine Ahnung!“ Typisch deutsch, dieses Abgrenzen. Dadurch ist die Welt schön bürokratisch und übersichtlich in Fächern geordnet, mit Schließklappen davor, die regeln, wer an welches Fach darf. Nur das Wichtigste wird nicht besprochen: das Ganze, der Sinn. Wo doch die alte Kunst im Krieg auch kaputtgeht. Auf deutschem Boden sind nun mal die amerikanischen Atomraketen und die Kommandozentralen der NATO. Das hängt doch alles miteinander zusammen!
Wladimir Gilmanov: Das Ganze aussprechen, die Wahrheit, mit ganzer Ehrlichkeit. Das wäre schon ein wichtiger Schritt zum Frieden. Kant hätte nichts philosophiert ohne diese Grundehrlichkeit. Auch wenn es ganz unmöglich scheint.
Der freundliche Schritt von Gorbatschow auf den Westen zu, für ein Haus Europa, schien auch unmöglich. Er hatte übrigens für Russland schmerzliche Folgen, aber er hat erst einmal Friedensverträge und übrigens auch die deutsche Einheit gebracht.
Da sag doch mal ganz ehrlich: Was denken die russischen Menschen über diesen Krieg? Ist das der Angriffskrieg Putins?
Die Russen wollen keinen Krieg. Das denken die einfachen Menschen genauso wie ich. Alle russischen Menschen denken das.
In der zweiten Frage gehen die Meinungen auseinander, nämlich in der Frage, ob der Krieg hätte vermieden werden können und ob der 24. Februar richtig oder ein Fehler war. Das ist natürlich, denn die westliche Sichtweise hat auch viele russische Intellektuelle, die sogenannte Boheme, angefacht, hasserfüllt gegen Russland zu agieren. In Reaktion darauf gibt es das Gesetz vom 15. März 2023 über die Diskriminierung und Verleumdung in Bezug auf die Teilnehmer der Militäroperation. Am 25. Dezember 2023 folgte das zweite Gesetz über das Verbot der Diskriminierung des Einsatzes der Streitkräfte, die zur Verteidigung der Russischen Föderation im Einsatz sind. Diese Gesetze verbieten bei Androhung von 15 Jahren Gefängnis, den Krieg und seine russischen Teilnehmer in irgendeiner Form infrage zu stellen.
Ich bedaure dies, aber ich möchte klarstellen, die Zündschnur zu diesem Konflikt wurde bewusst gelegt, Russland wollte das Zünden vermeiden: Es war doch so, dass die Ukraine von der NATO zu einem Vorposten gegen Russland aufgebaut wurde. Die führenden Persönlichkeiten der ukrainischen Politik haben bereits vor dem 24. Februar 2022 in aller Offenheit erklärt, dass Russland zugrunde gebracht werden soll. Die ukrainischen Streitkräfte wurden mit ausländischen Waffen ausgerüstet und von ausländischen Offizieren zum Kampfeinsatz gegen Russland ausgebildet. Die russischsprachigen Gebiete der Ukraine, die sich gegen die rassistische, antirussische Politik von Kiew stellten, wurden militärisch mit schweren Waffen angegriffen. Über zehntausend Zivilisten wurden dort zwischen 2014 und Februar 2022 ums Leben gebracht, unter ihnen Hunderte von Kindern.
Russland reagierte nach verzweifelten Dialogversuchen, auch in der Einsicht, dass es permanent sowohl von der ukrainischen Leitung als auch von westlichen Teilnehmern der Minsker Verhandlungen belogen wurde. Trotz der zahlreichen Versprechungen der Gorbatschow-Zeit.
Der Leser möge sich angesichts dieser Lage einmal in die unsere und die von Wladimir Putin versetzen, der beim letzten Gipfeltreffen im Minsk-Format ein höhnisches Grinsen von Wolodymyr Selenskyj sah, denn dieser hatte sich nach der Wahl zum Präsidenten schnell dem Spiel gegen Russland im westlichen Hintergrund angepasst. „Wir haben es mit dem Reich der Lüge zu tun“, so Putin, als er die letzte Hoffnung auf die friedliche Lösung der Krise verloren sah.
Ich erinnere mich noch genau an den Schreck, der mich durchfuhr: Es fiel mir zunächst vor allem auf, an diesem 24. und 25. Februar 2022, wie vom ersten Moment an überall in unseren Medien vom „Aggressor Russland“, vom „Diktator Putin“ als dem Teufel persönlich gesprochen wurde — wie von einer Platte abgespielt. Da war kein Fünkchen Selbstkritik über das Scheitern der Minsk-II-Gespräche spürbar, über die Fehler der Münchener Sicherheitskonferenz, auf der Russland schon längst nicht mehr dabei war und auf welcher Selenskyj das Budapester Moratorium, nach dem Atomwaffen geächtet sind, aufkündigte. Und alle dazu begeistert klatschten.
Und es gab am 25. Februar 2022 eine große spontane Demonstration in Berlin, 250.000 Menschen für Frieden, aber auch gegen den bösen Aggressor Putin. Und Herr Bundeskanzler Scholz nahm das gleich als Rückendeckung für sein Papier, das er fertig in der Schublade hatte und das der Bundestag stehenden Fußes beschloss: mit 1 Milliarde Euro die Bundeswehr zu sanieren und damit den Hebel umzulegen in Richtung Militarisierung der deutschen Gesellschaft.
Das kam mir alles so vor, als wenn der am lautesten ruft und den Schuldigen nennt, der als Schuldiger von sich ablenken möchte. Leider sind unsere Medien unfrei und reden zu sehr der Regierung nach. Fürs Nachdenken fehlt es vor allem an Selbstkritik. Ein schlimmer Fehler, dieser entsetzliche deutsche Hochmut. Hat Tradition. Jeder macht Fehler. Kindern wird noch beigebracht, aus Fehlern zu lernen und diese einfach mal zuzugeben. Es gilt für Erwachsene ebenso. Es wäre lebendiges Christentum, den Balken im eigenen Auge zuerst zu suchen und nicht den Splitter im Auge des anderen.
Die Russen wollen in Ruhe gelassen werden. Mindestens seit der Oktoberrevolution wird immer wieder Front gegen Russland gemacht.
Es tut mir gut, dass wir uns hier so unterhalten. Ich empfinde dafür Dankbarkeit. Über dein Kommen, über unser Gespräch und darüber, dass wir nicht mit dem Finger auf den anderen zeigen. Ich möchte dazu noch unbedingt grundsätzlich bemerken, dass die Russen einfach in Ruhe gelassen werden wollen. Mindestens seit der Oktoberrevolution und wohl schon zuvor — mit dem Ende der Bismarck’schen Außenpolitik — wird Russland immer getrieben, wird immer Front gegen Russland gemacht, vor allem auch gegen die Sowjetunion und das sozialistische Experiment: Es wurden die Weißgardisten unterstützt gegen die Rotarmisten, am 22. Juni 1941 in Russland eingefallen, Leningrad belagert, Schlachten in Kursk und in Stalingrad, auf der Krim und vor Moskau geführt.
Wir hatten 27 Millionen Opfer, nach vielen Fehlern auch bei uns. Erwähnt sei der Kalte Krieg gegen die Sowjetunion, der sie in den wirtschaftlichen Ruin trieb. Dann über das zerfallene sowjetische Erbe die Krakenarme aus Kanada, dem UK, den USA. Unsere Rohstoffe im Auge …
Deine Worte über die Russen, die in Ruhe gelassen werden wollen, bringen mich darauf: Auch die DDR, die ja Teil des sozialistischen Experiments war, konnte sich nie frei entwickeln. Es gab die sowjetische Schutzmacht mit den Westtruppen. Es gab innere Krisen. Aber immer den RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor), der hineintönte und hetzte. Es gab die Westmächte, die die Spaltung vorantrieben, eigentlich von Anfang an. Ich erinnere auch an die Art und Weise, wie aus dem Land mit der friedlichen Revolution 1989 im Jahr darauf das Beitrittsgebiet wurde. Ich denke, das hat alles mit diesem Krieg zu tun, es gehört mit hinein.
Auch ich bin dankbar, dass wir hier miteinander und nicht übereinander reden. Das meint, wir hören genau zu, reagieren abwägend. Das ist das Allergrundsätzlichste und ein festes Fundament für Frieden.
Aber können wir damit die Welt retten?
Ja, unbedingt. Weil nur dies — Innehalten, Nachdenken und gemeinsames, schmerzvolles historisches Erinnern — uns zu richtigem Tun führen, richtig im Sinne des Überlebens als Menschheit. Wir haben eine von Kriegen überschattete gemeinsame Geschichte, aber auch großartige menschliche Leistungen. Vielleicht wäre es einmal wichtig, diese Geschichte einander zu erzählen und von einseitiger Betrachtung, die zu Lüge führt, zu befreien.
Aber die Ereignisse nehmen eine immer grausamere Entwicklung, die Zeit für Gedanken, Innehalten, Argumente schwindet. Dabei sind wir doch einfach Menschen, die als Mittel und Zweck Teil des Lebens auf der Erde sind mit unserem Kostbarsten, dem Leben. Jeder Mensch ist geboren, die Welt zu retten. Oder irrend an ihrem Untergang mitzuwirken.
Wir Russen haben auch im Zweiten Weltkrieg nie gesagt, die Deutschen oder irgendein anderes Volk, sie sind böse. Wir sagen: Sie irren und vermögen in ihrem von Hass geprägten Irren uns alle auf den Friedhof zu befördern.
Wir wollen ja nicht übereinander reden, aber ich erlaube mir die Feststellung, dass die Deutschen in ihrem Denken nicht frei sind. Die Politik vertritt amerikanische und Kriegsinteressen, Deutschland wird der Schauplatz dieser verheerenden Zerstörungen sein, vielleicht wird es auch hier in der Heimat Kants wieder Zerstörungen geben. Sinnlose Menschenopfer auf allen Seiten.
„Aus deinen Worten spricht eine große Liebe zu den Deutschen und zu allen Menschen.“
Aus deinen Worten spricht eine große Liebe zu den Deutschen und zu allen Menschen. Das habe ich ähnlich auch in den letzten Tagen hier in Kaliningrad immer wieder erfahren. Dass die russischen Menschen offen und freundlich mit mir umgehen, mich mit einem „Всего Доброго!“ verabschieden, mit einem „Alles Gute!“ Dazu dieser Sommer, das lebendige Leben in der Stadt. Auch das Café ist gut besucht. Diese Atmosphäre hat für mich etwas geradezu schmerzhaft Beglückendes. Und dann habe ich noch den Luxus, mich auf Deutsch mit dir unterhalten zu dürfen! Wie war das eigentlich bei dir mit deiner Liebe zur deutschen Sprache? Wie ist das gekommen?
Meine Liebesgeschichte mit der deutschen Sprache und Kultur ist durch eine gute Prise Mystik geprägt. Die Deutschen nennen das vielleicht einfach Zufall. Aber für mich ist das untergegangene Königsberg ein mythischer Raum, dessen wenn auch optisch verlorene Schatten mich umgeben: die Ruinen des Schlosses und des Königsberger Doms mit den alten Wendeltreppen, den geköpften Skulpturen an den alten Toren, die unzähligen Überreste der verlorenen Dinge überall, alte verrostete Kriegswaffen eingeschlossen — Maschinenpistolen, Maschinengewehre, Karabiner und so weiter. Bei unseren Kriegsspielen wurden diese intensiv gebraucht, insbesondere auf der Seite der „Deutschen“, die unbedingt am Ende besiegt werden sollten …
Jedoch entstand bei mir schon in der Kindheit ein eher unbewusstes Mitleid für die Deutschen, die früher in meinem Heimatland lebten. In einer kleinen Zweizimmer-Sozialwohnung aus den 1930er-Jahren, wo unsere Familie untergebracht war, gab es einen alten Kachelofen, an dem ich öfters zu der kalten Jahreszeit meinen Rücken wärmte und mich fragte: „Wessen Rücken aus der früheren Zeit erwärmte dieser Ofen, und was war das Schicksal dieser Menschen?“
Ganz sicher war dieses Schicksal voller Leiden und auch Hoffnung auf ein friedliches Leben ohne Krieg und Blut. Die meisten von ihnen wurden aber in ihrem Vertrauen gegen Hitler angesteckt durch einen okkulten „Trieb zum Tode“, der den uns allen innewohnenden „Trieb zur Wahrheit“ — um eine Formulierung von Lessing zu gebrauchen — überschattet hatte. Ob dies auch heute in Deutschland der Fall ist?
Meine Deutschlehrerin in der Schule brachte uns die Anfänge der deutschen Dichtung bei. Wir konnten auswendig Heines „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ oder Goethes Ballade „Erlkönig“. Goethe überhaupt, dessen „Faust“ die seelische Lage der Deutschen zeigt, denn es geht hier um den Vertrag mit dem Teufel zum Zwecke der letzten Erkenntnis.
Dieser Teufelspakt mit dem falschen Freund aber ist ein tragischer und spielt sich auch in der Gegenwart ab. Vielleicht können wir mit unserem Nachdenken helfen, diesen Pakt zu zerschlagen, den jeder einzelne Deutsche in sich zerschlagen muss, damit auch die Deutschen wieder die Liebe erkennen und nicht in ihrem Hass verharren.
Ich könnte noch viel erzählen, hoffe aber, dass du ein Bekenntnis meines Herzens wahrgenommen hast. Lass uns lieber davon sprechen, wie deine Beschäftigung mit Russland entstand.
Ich habe erst einmal einen typischen DDR-Werdegang, ab 5. Klasse Russischunterricht. Dabei hatte ich gute Lehrer, dazu eine russische Briefpartnerin und kam 1984 im Rahmen eines Schulaustauschs das erste Mal nach Moskau. Dort spielten wir auch mit den russischen Schülern Fußball, und ich übte im Sokolniki, dem großen Stadtpark, auf ihren Skateboards …
Die offene und freundliche Art fesselte mich schon damals. Vielleicht war es dann meine Gründlichkeit, die mich bewog, Russisch an der Volkshochschule weiterzulernen und Anfang der 1990er noch zweimal nach Moskau zu reisen. Aber es waren so schwierige Zeiten, aus den Träumen wurde nichts, ich hatte hier in Deutschland meinen Alltag zu bestehen, und auch die Russen hatten andere Probleme.
Da war ich dankbar für die Einladung aus Kaliningrad 2014, damals war ich Direktorin des Käthe-Kollwitz-Museums Berlin. Da holte ich die alte Liebe wieder hervor, wir machten 2017 eine Kooperation zum 150. Geburtstag von Käthe Kollwitz, und seitdem merke ich, wie mir die russische Art guttut, dass dort dieselbe Ernsthaftigkeit um der Sache willen eine Art Grundstimmung bildet, die auch mir wichtig ist. Vielleicht war diese jetzige Reise überhaupt nur eine Flucht aus dem ständigen Hass, der mir in Deutschland aus allen offiziellen Medien und von der Mehrheit der Menschen entgegenschlägt, wenn es um Russland geht. Ich kann mit Hass nicht leben.
Du hast in deiner Erklärung den allerwichtigsten Begriff nicht nur für das gegenseitige Verständnis, sondern für unser gewagtes Vorhaben, etwas bitter-ironisch gemeint, die Menschheit vor der endgültigen Weltkatastrophe zu retten, genannt: LIEBE. Christus schon betont, indem er die Frage der Jünger nach den Zeichen für das Ende der Welt beantwortet, dass neben den Natur- und Kriegskatastrophen wegen der zunehmenden geistig-psychischen Gesetzlosigkeit „die Liebe der vielen erkalten“ wird. Uns kann nur die Liebe, zu deren Attributen auch Wahrheit und Gerechtigkeit in den Beziehungen zu einander gehören, verbinden und retten. Zu viele verkennen, dass das Liebesprinzip ein universales Grundgesetz ist nicht nur im ethisch-politischen, sondern auch im naturwissenschaftlichen Sinne.
Es ist wie bei „Mario und der Zauberer“ von Thomas Mann. Auch wenn Mario sagt, er will nicht die Zunge rausstrecken, so macht er es am Ende doch! Nur eine positive Kraft wie die Liebe kann die teuflische Manipulation lösen.
„Ich bin um vieles zuversichtlicher als vor unserem Gespräch.“
Dieser innehaltenden und verzeihenden Liebe steht leider das uns alle wie Mehltau lähmende kapitalistische Prinzip entgegen. Nach diesem Prinzip versucht sich jeder seinen Platz auf Kosten des anderen zu erobern, Geld auf möglichst bequeme Weise zu verdienen, und sei es durch Waffenproduktion.
Es gibt nur noch Interessen. Die Welt funktioniert nach dem Motto: „Wenn ich Platz mache, geht der andere einen Schritt voran und nimmt meinen Platz ein, nimmt mir meinen Platz weg.“ Deswegen muss ich jeden Tag neu diesen Platz verteidigen und mitmachen bei dem Prinzip. Und zu diesem Prinzip gehört auch: „Jeder nehme sich bedenkenlos von dem Reichtum der Welt und eben: verwirkliche sich auf Kosten des anderen.“
Könnte die Welt nicht durch Teilen gerettet werden? Wobei natürlich diejenigen, die viel besitzen, zuvörderst abgeben müssten?
Aus dem Schock des Zweiten Weltkrieges wollte man doch genau dies. Es wurden dafür doch die Gremien gebildet, die jetzt, vom Westen dominiert, einen Ring aus Schweigen um uns Russen legen, als seien wir Aussätzige. Ich erinnere an das Schweigen der Vereinten Nationen (UN) seit Jahren, an die Verweigerung unserer Teilnahme an Olympia, die Sanktionen. Teilen? Ja, aber wie? Noch ein sozialistisches Experiment? Wieder mit unterschiedlichen Lagern, die sich bis zum bitteren Ende bekriegen?
Ich denke eher, so wie wir miteinander reden, so müssten andere miteinander sprechen, die unterschiedliche Geschichte und die emotionale Psyche erkunden mit freundlichem, mit liebendem Blick. Über 90 Prozent der Menschen tragen dies schon in sich. Wenn sie sich ihrer Kraft der Liebe bewusst werden, so werden sie wissen, was zu tun ist.
Jedes Verstehen entspricht einem Vorverständnis, das primär einer Ursache-Wirkung-Folge entspricht. Das nennt sich in der Philosophie der hermeneutische Zirkel. In dem heutigen hermeneutischen Zirkel des Westens herrscht das Vorverständnis, Russland sei Aggressor. Und in der Tat ist alles umgekehrt: Russland war und ist auch heute ein Opfer der perfekt getarnten Aggression und dadurch gezwungen, zu kämpfen. Und das nicht einfach gegen das irregeführte Brudervolk, sondern gegen die gesamte NATO-Stärke. Vor zehn Jahren war es kaum vorstellbar, denn Russland hat sich voll und ganz vor allem auf Deutschland verlassen.
Einander vertrauen, sich aufeinander verlassen … Es gab keinen Vertrag für die Kooperation aus Anlass des 150. Geburtstages von Käthe Kollwitz, und es stehen immer noch Informationsstelen in Kaliningrad. Und es ging auch dort nicht alles glatt. Mein Vertrauen hat es nicht grundsätzlich zu enttäuschen vermocht. Jetzt im August 2024 hat diese Reise mein Vertrauen gestärkt.
Mehr noch, ich finde etwas, was mir zu Hause fehlt und was ich brauche. Und sei es, im anderen den eigenen Mangel überhaupt erst wahrzunehmen. Und nun doch noch was Kunsthistorisches: Die ganze Kunstgeschichte lebt doch davon, zu vergleichen und dadurch das Besondere bei dem einen im Vergleich mit dem anderen zu entdecken. Künstler unterschiedlicher Nationen habe jeweils ganz eigene Nuancen und Ausdrucksformen entwickelt. Als Beispiel erinnere an die russische Bewegung der Peredwischniki (sogenannte „Wanderer“, Gruppe von russischen Künstlern, die dem Realismus nahestanden), die Qualitäten hat, die den deutschen Secessionen fehlt.
Ich bin um vieles zuversichtlicher für unsere Zukunft als vor dem Gespräch. Wir Russen brauchen die Deutschen, die Deutschen brauchen die Russen. So wie der eine Mensch den anderen braucht, um sich als Mensch zu begreifen. Wir wollen versuchen, unser Gespräch auch auf Russisch den Menschen hier bekannt zu machen. Und es ist mir ein dringendes Bedürfnis, das Gespräch fortsetzen.
Wladimir Gilmanov in einem Café in der Ulitza Krasnaja in Kaliningrad, Foto: Iris Berndt