Händereichen über den Abgrund

Eine Reise nach Kaliningrad offenbart die historische Verbundenheit und die Konflikte zwischen Russen und Deutschen. Am Ende zählt nur eines: Wir sind alle Menschen.

Königsberg hieß die Stadt früher. Und ihr berühmtester Sohn war der deutsche Starphilosoph Immanuel Kant. Zwischen deutschen, russischen, polnischen und litauischen Einflüssen sah sich der relativ kleine Landstrich oft hin- und hergerissen, die Menschen kamen nur selten zur Ruhe. Heutige Deutsche kennen Kaliningrad und das in unserer Sprache „Ostpreußen“ genannte Gebiet nur vom Hörensagen. Kaum jemand ist jemals dort hingereist. Umso wertvoller ist dieser Reisebericht der Autorin. Ihre Reise führte zu kulturellen Highlights, zu freundlichen Menschen, aber auch in wahrhaftige „Bloodlands“ — an einen Schauplatz blutiger Kriege. Und ist nicht jeder Krieg am Ende ein Bruderkrieg, in dem Menschen gegen Menschen stehen, weil sie gegeneinander aufgehetzt wurden oder sich haben aufhetzen lassen? Die Berichterstatterin jedenfalls kam mit faszinierenden Einblicken zurück. Eines fand sie bei den Bewohnern nicht vor: Deutschenhass. Eher eine kritisch-fürsorgliche Haltung, als wollten die Kaliningrader uns mitteilen: „Schaut, wir könnten in Frieden leben und Freunde sein; ihr müsstet euch nur aus der Umklammerung der USA lösen.“

„Königsberg ist ein schicklicher Platz zur Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch Welterkenntnis“ (Immanuel Kant).

Die Reise aus Potsdam in die russische Kaliningrader Oblast, früher Ostpreußen, begann mit einem magischen Moment des Innehaltens. Wir waren im nordöstlichen Zipfel Polens, es ging auf Mitternacht. Die Straßen waren in der letzten Stunde fast menschenleer geworden. Je länger die Fahrt von Deutschland einmal quer durch Polen in Richtung Kaliningrader Gebiet, desto größer die Einsamkeit da draußen. Umso intensiver unsere Gespräche hier im Inneren.

Endlich der Schlagbaum der Grenze, der Fahrer sammelt unsere Pässe ein: Von Lena, einer Russin, den Russlanddeutschen Aljona und Viktor mit zwei Pässen und von mir den deutschen Pass mit russischem Visum. Wir warten. Eine Stunde oder mehr geschieht erst einmal gar nichts. Draußen ist es frostig kalt geworden, ab und an lässt Viktor fürsorglich den Motor an, um nachzuheizen. Wir erzählen von unseren Kindern — neun, wenn wir alle zusammenzählen. Stolz und Freude schwingen mit.

Viktor ist am Altai aufgewachsen; deutsche Vorfahren waren mit Katharina II. aus der Pfalz nach Russland gekommen, russische, deutsche und sogar chinesische Spuren finden sich in seiner Familie. Er lebt in Wolfsburg. Aljona spricht von ihren Wurzeln in Hessen und am Kaukasus, Lena von Tatarstan und ihren ukrainischen Vorfahren, ich kann zwei Generationen nach Schlesien und Vorpommern zurückverfolgen, davor gab es sicher auch slawische Familienmitglieder. Die Pässe liegen noch immer da, russische und deutsche.

Irgendwann fasst es Viktor zusammen: „Den Russen, den Deutschen, die gibt es doch gar nicht. Es gibt einfach nur Menschen.“ Wir schwiegen eine Weile, und dieses Schweigen war wie ein gemeinsames Gebet.

Bei mir ein inneres Stoßgebet, dass diese Kriege und dieses sinnlose Sterben, vor allem in der Ukraine und in Nahost, endlich aufhören mögen. Ja, einfach nur Menschsein. Umgeben von dunkler Nacht, suchen meine Gedanken nach den Verursachern der Kriege: das Schweigen der deutschen Regierung angesichts des israelischen Mordens im Nahen Osten; das Verschweigen der ganzen Vorgeschichte des Ukrainekrieges im offiziellen Deutschland. Inzwischen stehen deutsche Panzer wieder in Russland. An fortschreitender Eskalation drehen die politisch Verantwortlichen. Die meisten Menschen in Deutschland schweigen dazu.

Ich schließe die Augen und denke an den wichtigsten Satz meiner bisherigen zwei Reisen 2024 in das Kaliningrader Gebiet: Vom Taxifahrer bis zum Universitätsprofessor, von der Blumenverkäuferin zum Museumsleiter — immer wurde mir dieser Satz als der wichtigste mitgegeben, mit Grüßen nach Deutschland:

„Wir sind in diesen für uns schmerzhaften Krieg gegen unser Brudervolk vom Westen getrieben.“

Ist das Kreml-Propaganda, wenn alle Menschen, mit denen ich hier spreche, dasselbe sagen? Ich denke das nicht, denn für das Verstehen ist wichtig, wie sie es sagen, als ein flehentliches „Kommt und seht!“ Vielleicht sind meine Reisen in das Kaliningrader Gebiet, die Gespräche und das Schreiben ein Aufbegehren gegen tief verwurzelte antirussische Klischees in meiner deutschen Heimat. Gegen dieses deutsche Gefühl großer Überlegenheit gegenüber anderen Völkern, insbesondere denen im Osten. Ich wünschte, dass dies kein Klischee sei, aber zu oft bin ich ihm begegnet.

Abbildung 1: Kaliningrad. Blick auf die Promenade am Pregel mit Fischendorf, der Synagoge und dem Dom, Foto: Iris Berndt


Die Menschen in Deutschland sind denen in Russland in den letzten Jahrzehnten immer mehr entfremdet, die Reisetätigkeit nahm ab. Wenn ich sage, wohin ich fahre, schaue ich fast durchweg in erstaunte und erschreckte Gesichter: „Ach, kann man jetzt überhaupt nach Russland reisen? Lass dich bloß nicht wegfangen.“ Die maschinenartige Wiederholung dieses Verhaltens ängstigt mich vor allem. Dieses stumpfe Verharren in Klischees ist notwendig, um die Menschen gegeneinander zu jagen. Es folgt Schlimmes daraus, bis hin zu Rassismus, Faschismus und Krieg. Können einzelne Menschen daran etwas ändern?

Ich denke, ja. Indem wir anfangen, darüber zu reden und ein jeder sich im nächsten Schritt aufmacht zu genauerer Information bis hin zur Betrachtung „mit eigenen Augen“. Ein russisches Visum gibt es innerhalb einer Woche, der Zug nach Danzig steht auch spontan Reisenden offen. Täglich gibt es mindestens vier Busse über die Grenze. Ostrovok.ru ist die Alternative zum für Russland gesperrten booking.com.

Ein weiteres Klischee lautet: „Jetzt ist in Ostpreußen nur noch das russische Kaliningrad. Da ist doch nichts anzusehen. Das alte Königsberg ist tot.“ Das alte Königsberg war die bedeutendste und östlichste Stadt des Deutschen Reiches, ein kultureller Schmelztiegel zwischen West und Ost, Mitglied der Hanse, Zentrum des Deutscher Ordens, seit 1701 Krönungsort der preußischen Könige, im 19. Jahrhundert die stärkste Festung Europas …

Abbildung 2, Foto: Iris Berndt



Ich erkunde von Berufs wegen gern Museen, sie erzählen mir von dem geistigen Zustand eines Ortes. Es gibt in Kaliningrad mit dem Weltozeanmuseum, dem Gebietsmuseum in der alten Stadthalle, dem Kunstmuseum in der Börse, dem Kantmuseum im Dom, dem Bunkermuseum und dem Alten Haus viele Museen.

Diesmal geht es um zwei neu eröffnete Museen. Das „Museum Blockhaus“ wurde im Mai 2023 eröffnet. Hier treffe ich den Museumsgründer Nikolai Tronevski, der über den deutschen Satz vom toten Königsberg fast ein wenig schmunzelt:

„Diese Meinung haben vor allem diejenigen, die noch niemals hier waren. Und vielleicht wurde diese Meinung durch die sowjetische Zeit verstärkt. Unsere Großeltern kamen nach dem Krieg in das Kaliningrader Gebiet, denn in unserer Heimat war ja alles zerstört von den Deutschen. Es ging erst einmal um das Überleben und Nichtverhungern. Aber natürlich sind wir hier mit deutscher Geschichte aufgewachsen, und das hat uns auf besondere Weise geprägt.“

Nikolai erzählt, dass er in Kalgen — heute Schosseinoje — südlich von Kaliningrad aufwuchs, wo in seiner Kindheit noch die große Mühle stand, die hier im Museum auf dem Reklameschild „Reines Roggenbrot Kalgen“ abgebildet ist (Abbildung 2).

„Dieses Schild ebenso wie der kleine Mühlstein von dieser Mühle draußen an der Gebäudewand gleich unter der Informationstafel sind für mich Kindheitserinnerungen. Ich sehe hier und überall im Gebiet das Viele, das erhalten ist, und das treibt mich zum Sammeln.“

Abbildung 3, Foto: Iris Berndt



Nikolai Tronevski (Abbildung 3) mag Ende 50 sein. Er hat nach dem Schulabschluss Ökonomie in Moskau studiert und fast 30 Jahre lang ein Unternehmen des Baustoffhandels aufgebaut und geleitet. Als junger Mann, Mitte der 1990er, hat er als Hobby-Fotograf auch mit dem Sammeln deutscher Hinterlassenschaften begonnen und sich spezialisiert auf die Bier- und Getränkeproduktion in Ostpreußen, auf ostpreußische Hotels und Gaststätten insbesondere auf Ansichtskarten, in Porzellan und in Glas. Während der Coronazeit wuchs sein Wunsch, ein eigenes Museum mit seiner Sammlung einzurichten. Anlass war der Besuch eines Mitarbeiters der Tretjakovka-Galerie aus Moskau, dem er seine Sammlung in Bildern gezeigt hatte und der ihn ermunterte, sie nicht in Kisten verpackt abzustellen, sondern zugänglich und sichtbar zu machen.

Nun, der Baustoffhandel war ein gutes Geschäft geworden, der Bauboom hatte atemberaubende Geschwindigkeit angenommen. Wer Anfang der 1990er-Jahre hier war und jetzt wiederkommt, würde die Stadt nicht wiedererkennen! Neue Promenaden, fantasievoll gestaltete Parks und neue Gebäude, in historischen Formen oder den historischen Vorbildern angepasst. Phantastisch ist ein neues Wohngebiet am Rande Kaliningrads mit dem selbstbewussten Namen „Russisches Europa“.

Nikolai also hängte das Baugeschäft an den Nagel und kaufte für einen Rubel eine Denkmalruine unweit vom Kaliningrader Königstor, romantisch am Wallgraben gelegen. Ein backsteinernes Blockhaus, 1852 zum Schutz der Bastion Grolman am Litauer Wall errichtet, im östlichen Teil des Kaliningrader Befestigungsringes. Ende des 19. Jahrhunderts war Kaliningrad die stärkste Festung Europas, die sich jedoch durch immer bessere Artillerie seit dem Ersten Weltkrieg überlebt hatte. Nikolai hat das zweistöckige Blockhaus innerhalb von zwei Jahren denkmalgetreu wiedererrichtet.

Ein altes Foto zeigt noch den Zustand als Ruine mit einem Garagenanbau aus der Sowjetzeit. Diesen hat er so mit Backstein verkleidet, dass der Anbau mit dem Blockhaus zu einem Gebäude verschmolzen ist. Jetzt beherbergt dieser Anbau ein Café, davor eine Terrasse mit Blick über den Wallgraben. Ein staatliches zinsloses Darlehen, das auf 15 Jahre befristet ist, hat ihm diesen doch sehr aufwendigen Umbau ermöglicht.

Abbildung 4, Foto: Iris Berndt



„Königsberg war eine Festung“, das wird so leichthin erzählt. Der eindrucksvolle Befestigungsring, etwa zehn Kilometer im Durchmesser, hat den Zweiten Weltkrieg nahezu vollständig überstanden. Mit Wällen, sechs Toren, zwölf Forts und etlichen Bastionen und Kasernen — heute mit erstaunlich vielfältigen Museen, etwa zum Bernstein, zu den Königsberger ebenso wie den sowjetischen Kommandanten, zur Fortifikationskunst, zu Immanuel Kant und seinem Verhältnis zur Geografie, den Botschaften anderer Länder in der Stadt, zu alten Ansichtskarten oder auch den Befreiungskriegen. Auch Konzerthalle und Cafes, Event-Locations und „lost places“ finden sich. Er, Nikolai, habe gedacht, es müsse an das pulsierende Leben in der Stadt erinnert werden, an Essen und Trinken. Königsberg war eine Großstadt und ist es auch heute wieder.

Was er alles zusammengetragen hat: alte Bierfässer, Bierkästen aus Metall und Holz von allen wichtigen Brauereien der Stadt, unzählige Glasflaschen, jede von der anderen verschieden, mit Porzellanverschlüssen, deren Aufschrift über die Brauereien berichten. Beigestellte Fotos der Brauereigebäude zeigen, wo das Bier gebraut und abgefüllt wurde. Erstaunlich, dass auch diese Gebäude durchaus noch erhalten sind und neue Nutzung fanden oder auf diese warten. Zu sehen sind auch alte Porträtfotografien, die uns in Menschengesichter schauen lassen. Faszinierend sind handbemalte oder gestempelte Porzellangeschirre von Hotels und Gaststätten in Königsberg und seinen Ostseebädern. Ansichtskarten dazu, die einen Blick auf und in die Gebäude ermöglichen (Abbildung 4).

Abbildung 5, Foto: Iris Berndt


Das Besondere dieses Museums ist die Fülle und Dichte der Dinge, die mitunter noch ganz heil sind und unbedingt die Präsenz des alten Königsbergs zu beweisen scheinen. Ganz besonders ist die Art der Präsentation, denn Nikolai hat auf alle Beschriftung verzichtet. Die alten deutschen Bemalungen, Stempel und Schriften erzählen genug. Vor den Backsteinwänden, in dezentes Licht getaucht, behutsam in die Architektur integriert, sorgsam zu inhaltlichen Gruppen zusammengestellt, eröffnet die Ausstellung Welten etwa auch zu den Königsberger Konditoreien, den Ostseebädern, den Ansichtskarten mit Bildern vom fröhlichen Umtrunk und vieles mehr. In dieser einnehmenden Atmosphäre ist das Auge aufs Schauen gerichtet, der Geist angeregt zum Enträtseln (Abbildung 5).

Der Sammler Nikolai erzählt, dass ihm genau dies wichtig ist. Er und seine helfenden Freunde wollen mit den Menschen ins Gespräch kommen. Und über 10.000 Menschen sind es in dieser Saison gewesen. Er hätte selbst nicht gedacht, dass das Museum einen solchen Zuspruch finden würde, denn immerhin gibt es in der Stadt mit einer halben Million Einwohnern über 20 Museen und weitere sind geplant. Die offizielle touristische Statistik kann übrigens zwei Millionen Besucher für diese Saison nachweisen, die Ende September zu Ende ging.

Die Touristen kamen aus allen Ecken Russlands hierher, aber kaum Deutsche. „Kommt und seht, dass wir uns in die Augen schauen können!“ Auch diesen Satz soll ich in Deutschland den Menschen übermitteln.

Abbildung 6, Foto: Iris Berndt



Auf ein weiteres, im vergangenen Jahr neu eröffnetes Museum in Kaliningrad macht mich die Kaliningrader Mathematikerin und Philosophieprofessorin Irina Sergejevna Kusnetzova aufmerksam (Abbildung 6). Zwischen vielen Terminen des laufenden Semesters findet sie Zeit, mich mit dem Museumsgründer bekannt zu machen. Dann erzählt sie von deutsch-russischer Zusammenarbeit im 17. und 18. Jahrhundert, von dem in Deutschland heute vergessenen Daniel Messerschmidt (1685 bis 1735), der auch für Westeuropa bedeutend war, aber nur am Ural ein Denkmal hat — ein Deutscher, der sich als Russe fühlte und stolz seinen Namen in kyrillischer Schrift schrieb.

Außerdem hat sie sich intensiv mit Immanuel Kant beschäftigt, über dessen Mathematik-Verständnis sie gerade ein Buch verfasst. Gern erinnert sie sich an die Zeiten des gemeinsamen deutsch-russischen Aufbruchs, als sie in den 1990er- und 2000er-Jahre am Wiederaufbau des Domes mitwirkte. Dessen Rettung war keineswegs selbstverständlich und bedurfte gewaltiger Anstrengung. Am Herzen liegt ihr auch der Kantfreund, Komponist und Schriftsteller Johann Friedrich Reichardt (1752 bis 1814). Wahrlich, in ihren Schilderungen wird mir das alte Königsberg lebendig. Lächelnd begegnet sie meinem ungläubigen Nachfragen, ob nicht angesichts einer hohen kriegerischen Eskalationsstufe doch eher Angst das beherrschende Lebensgefühl hier in Kaliningrad ist. „Eher Sorge“, meint sie und fügt hinzu:

„Ich erinnere an Stalins Worte vom 23. Februar 1942, ein halbes Jahr nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion: ‚Die Hitlers kommen und gehen, das deutsche Volk aber bleibt‘.“

Abbildung 7, Foto: Iris Berndt


Das von ihr vorgeschlagene Museum entpuppt sich als echter Geheimtipp. Die dort von dem Kaliningrader Kunsthändler Wladimir Skarzhinskas (Abbildung 7) zusammengetragene Sammlung ist sicher die qualitativ beste und größte Sammlung von Kunst und Kunstgewerbe im Gebiet; in zehn Räumen auf vier Etagen ist ein bedeutender Teil seiner Sammlung ausgestellt. Der Titel des Museums „Bewahrer der Erinnerung“ mag irreführen. Es sind die Gemälde, Möbel, das alte Silbergeschirr und die Bronzeplastiken vom 16. bis zu frühen 20. Jahrhundert, die hier zu Bewahrern der Erinnerung werden. Die Dauerausstellung des Staatlichen Kunstmuseums in der Kaliningrader Börse verdankt Wladimir Skarzhinskas bedeutende Leihgaben und Erwerbungen.

Wie es zu dieser Sammeltätigkeit kam? Eigentlich sammele er sein ganzes Leben, erzählt Wladimir.

„Es begann in meiner frühesten Jugend auf der Suche nach Essbarem in den Kellern der verlassenen deutschen Häuser. Die Erwachsenen warnten vor den dortigen Dingen, sie seien mit Schlangengift vergiftet, er solle sie zerschlagen. Wer zerschlagenes deutsches Geschirr brachte, der erhielt dafür in sogenannten Kommissionsgeschäften Geld, und das konnte in Essbares umgesetzt werden.“

Aber mit 11 oder 12 Jahren ließ er sich nicht mehr abhalten, die schönen Kellerfunde aufzubewahren. Hinter Holz- und Kohlestapeln hat er sie zunächst versteckt. Übrigens haben auch andere gesammelt. Ungläubig frage ich nach, wie solche Geschichten mit der Sowjetzeit zusammenpassen. Aber Irina Sergejevna kann von einem ebenfalls sammelnden Kommilitonen erzählen.

Der Kaliningrader Historiker Jurij Kostjashov hat in Zeitzeugengesprächen in einem ersten und kürzlich in einem zweiten Buch, das vor allem Dokumente auswertet, Geschichten und vielfältige Einzelschicksale aus der frühen Nachkriegszeit im Kaliningrader Gebiet zusammengetragen. Geschichten, die allen Klischees widersprechen. Jedenfalls ist in den Kellern Wladimirs Sinn für schöne Dinge erwacht; inzwischen kauft er im Handel oder auf Auktionen europaweit. Mathematiker ist er ursprünglich gewesen.

Abbildung 8, Foto: Iris Berndt


Die Sammlung enthält Gemälde von ostpreußischen Malern, die Lehrer und Schüler der Königsberger Akademie waren. Darunter als eine der letzten Erwerbungen eine Ölstudie von Carl Steffeck (1818 bis 1890), der von Berlin nach Königsberg gekommen war. Zahlreich sind historische Ansichten, gefertigt von Augsburger Kupferstechern, von Berliner Lithografen — aus alten Städtebüchern ebenso wie aus dem Sammelwerk „Borussia“.

In einer Vitrine finden sich Münzhumpen und Erinnerungspokale mit Königsberg-Bezug und Teile des vergoldeten Bestecks der Kronprinzessin Cecilie von Preußen (1886 bis 1954) (Abbildung 8). Unter den Möbeln ist ein Tisch aus dem 17. Jahrhundert aus Schloss Klein Beynunen — heute Uljanovskoje — bemerkenswert, der Ort war einst europaweit führend in der Pferdezucht.

Ein Raum widmet sich den Familienbeziehungen der Romanows nach Deutschland; eine Bronzebüste von Alexandra Feodorowna nach Johann Gottfried Schadow ist darunter. Sie hatte den Bruder des Zaren geheiratet, der nach dem überraschenden Tod des Bruders selbst Zar wurde. Übrigens war die nunmehrige Zarin Alexandra Feodorowna als Prinzessin Charlotte die Tochter der preußischen Königin Luise und Friedrich Wilhelms III. Da ist es passend, dass das Museum in einer Villa unweit der erhaltenen Luisenkirche untergebracht ist, im Stadtteil Amalienau, dem von dem britischen Bombardement 1944 ebenso wie von der Einnahme 1945 weitgehend verschont gebliebenen Stadtteil nordwestlich des Befestigungsringes. Diese Villenvorstadt ist heute eine beliebte Gegend touristischer Exkursionen.

Ich muss mich mitunter kneifen angesichts dessen, was ich sehe und erlebe. Weil es allen Klischees widerspricht und sich aus den vielfältigen menschlichen Begegnungen ein Bild formt, das geradezu umgekehrt ist zu dem in Deutschland Gesagten.

Wir sind im Krieg. Deutschlands Panzer vom Typ Leopard richten ihre Rohre bei Kursk auf russischem Territorium gegen Russland. Ob er Angst habe, frage ich Wladimir, dessen Familienname schon seine litauischen Wurzeln verrät und der doch auch die Sache seiner Verwandtschaft am anderen Ufer der Memel einschließen dürfte. Dank dieser ist ihm weiterhin das für andere Russen unmöglich gewordene Reisen in den Westen möglich. Aber Wladimir sagt spontan und entschieden:

„Nein! — Die Menschen in Deutschland müssen vor allem ihre Blindheit ablegen und ihre Abhängigkeit von den Amerikanern, die sich in ihrem Lande wie Besatzer benehmen. Mögen die Deutschen mit offenem Herzen zu uns kommen. Wir müssen uns wieder als Menschen begegnen.“

Ein bitterernst gemeinter Vorschlag, der das Beste für das deutsche Volk im Sinn hat — übrigens nicht nur von Wladimir aus Kaliningrad.