Handbuch der Konsensarrangeure
Demokratieskepsis dient als Rechtfertigung zur Manipulation der Massen.
Unter dem Schock des ersten Weltkrieges stehend, verfasste Walter Lippmann ein Grundlagenwerk über „Die Öffentliche Meinung“. 1922 veröffentlicht, erscheint es 2018 nun erneut und stellt der Medienkritik eine historische Quelle ersten Ranges zur Verfügung.
Die Beobachtung, wonach sich die deutsche Zeitungssprache glücklich schätzen könnte, wenn sie sich noch auf dem Niveau befände, auf dem Goethe sie bereits verächtlich gefunden habe, stammt aus dem Ersten Weltkrieg, von Karl Kraus. Daran dachte ich bei der Lektüre von Walter Lippmanns Klassiker der Propaganda: „Die Öffentliche Meinung“.
Der Westend-Verlag hat dieses Werk von 1922 wieder aufgelegt, und das ist schon ein geradewegs hinterhältiger Move. Denn hier wird ein zentraler Text für den Übergang zur „gelenkten Demokratie“ zugänglich gemacht.
Walter Lippmann betreibt die Demaskierung der repräsentativen Demokratie bis hin zur Kenntlichkeit ihres demokratiefeindlichen Kerns mit sprachlicher Brillanz und geschliffener Stilsicherheit, derer er sich selbst auch weidlich bewusst gewesen zu sein scheint. So neigt der Autor mitunter zur Geschwätzigkeit. Er gefällt sich in Erzählschleifen, die weniger inhaltlicher Notwendigkeit als der Ergötzung an seiner eigenen Formulierungskunst geschuldet scheinen. Auch der Bildungsstolz geht ihm manchmal ein wenig durch.
Literarische Eleganz
Aber selbst diese Schwächen des Textes sind in der Mehrheit der Fälle ein Gewinn: der Bursche kann wirklich schreiben. Und er verfügt über ein glanzvolles Repertoire literarischer Bildung und historischer Anekdoten.
So beschreibt er etwa, wie der französische Generalstab eine Hauptbeschäftigung darin fand, en detail die Pressemitteilungen zu diskutieren, die das Gemetzel der geneigten Öffentlichkeit erträglich machen sollten.
„In den schlimmsten Augenblicken von Verdun traten General Joffre und sein Kabinett zusammen und stritten über Nomina, Adjektive und Verben, die am nächsten Tag in der Zeitung stehen sollten.“
Tatsächlich: ein Bursche war Lippmann beinahe noch, als er dieses Grundlagenwerk der Meinungsmanipulation verfasste. Mit Anfang Dreißig war er jedoch bereits ein mit Pulitzerpreis dekorierter Publizist, hatte Zugang zu hohen und höchsten Kreisen der US-amerikanischen Gesellschaft, war als Intellektueller geachtet und als Ratgeber gefragt. Das Magazin „The New Republik“, das Lippmann mit Mitte Zwanzig gegründet hatte und das bis heute erscheint, hatte erheblichen Einfluss auf das Denken entscheidender Kreise.
Das Selbstbewusstsein des früh zu Erfolg und Einfluss Gekommenen ist Lippmann anzumerken. Er weiß, dass von ihm Geschriebenes von Leuten gelesen werden wird, die an entscheidenden Hebeln der Macht tätig sind. Während Lippmann den „normalen Leser“ durchaus nicht aus den Augen verliert, wirkt das Buch im Subtext wie ein „Haushaltsratgeber Herrschaftstechnik“ für Mitglieder der Elite.
Diese Wirkung hat das Werk nicht verfehlt. Bis heute ist es von der Politikwissenschaft bis zur Publizistik ein unverzichtbarer Text an vielen Universitäten, es wurde von zahllosen „Entscheidern“ gelesen und angewandt, und letzteres macht es für uns so wertvoll. Wir erkennen in Lippmanns Ausführungen die Analyse einer Herrschaftstechnik an ihrem relativen Anfang, in deren voll ausgereiftem, allgemein gewordenen Endstadium wir uns 100 Jahr später wiederfinden - wobei der Begriff „Endstadium“ eher einer Hoffnung Ausdruck verleiht. Es könnte auch sein, dass wir lediglich der digitalen Transformation dieser von Lippmann mitentwickelten Herrschaftstechnik beiwohnen.
Propaganda im Lärmbad
Nun dürfen wir uns Walter Lippmann nicht als bösartigen, von Verachtung für die Menschen zerfressenen Reaktionär vorstellen, wenngleich ein hier noch recht verdeckter Zynismus in seinem späteren Leben deutlicher hervortrat.
Vielmehr haben wir es mit einer kultivierten, durchaus nicht unsympathischen Figur des US-amerikanischen Liberalismus zu tun. Rassentrennung, Sklaverei und dergleichen hält Lippmann erkennbar für eher peinliche Antagonismen, für Überbleibsel aus einer Zeit, die auf derlei Plumpheiten angewiesen war. Lippmann dagegen steht mit beiden Beinen in der Moderne.
Deren Widersprüche und Überforderungen sind ihm jedoch bewusst. Er schreibt dann Sätze, wie diese:
„Dem Leben der Stadtbewohner fehlen Einsamkeit, Stille, Gemütsruhe. (…) In der modernen Industriewelt geht das Denken im Lärmbad vor sich. (…) Jeder, der denkt, weiß, dass er für eine gewisse Zeit am Tag eine Oase der Stille um sich legen muss (…) Solange der Mensch bei Tag und sogar bei Nacht körperlich von Menschenmassen eingekeilt ist, wird seine Aufmerksamkeit flackern und nachlassen“
Was Lippmann nun als scharfen Kritiker des modernen Lebens auszuweisen scheint, ist vielmehr eine Bestandsaufnahme, und Grundlage seiner Ratschläge für diesen Umstände angepasste, modernisierte Herrschaftstechniken. Dies wird bereits ahnbar, wenn er an gleicher Stelle schlussfolgernd fragt:
„Kann man in dem Durcheinander von Lauten etwas hören, was nicht quietscht, oder in dem allgemeinen Lichtermeer etwas sehen, das nicht wie eine Lichtreklame aufblitzt?“
Von der Fähigkeit des Menschen, sich ein korrektes Bild von seiner Zeit und ihren Ereignissen zu machen, hat Lippmann ohnehin wenig Erbauliches zu sagen. Über weite Teile des Buches erklärt er uns aus verschiedensten Blickwinkeln, warum der Mensch dazu eigentlich gar nicht in der Lage sei.
Das hat nun mit der Vermitteltheit und Einseitigkeit der Informationen zu tun, die ihm über Vorgänge zukommen, bei denen er nicht dabeigewesen ist. Aber auch um die Beschränktheit des eigenen Blicks, selbst wenn er dabei gewesen sein sollte. Alles, was jemand in Erfahrung bringt, ist mit einem Interesse so oder anders vermittelt oder wahrgenommen worden. Dazu kommen Stereotype, die unsere Objektivität trüben, psychologische Defekte, kurz: Lippmann hat von der Fähigkeit der Masse Mensch, die Zeit in der sie lebt, zu verstehen oder gar durch Selbstaktivität zu verändern, eine denkbar schlechte Meinung.
„Und deshalb haben die Kräfte an der Macht nur wenig zu fürchten, sofern sie hellhörig und wohl informiert sind und sofern sie sichtbar bestrebt sind, das Volksempfinden zu berücksichtigen und tatsächlich einige Gründe zur Missstimmung beseitigen, auch wenn das nur langsam geschieht. Eine Regierung muss schon gewaltige Fehler machen, um eine Revolution von unten heraufzubeschwören.“
Skepsis als Menschenbild
Lippmanns Schlussfolgerungen stehen in einem bewussten Gegensatz zu den aus seiner Sicht reichlich naiven Demokatieenthusiasten früherer Zeit. Er stellt uns die Geschichte der jungen Demokratie in den USA nach dem Unabhängigkeitskrieg 1776 als ständigen Widerspruch zwischen der Realität und deren hehren Idealen und glatten Illusionen dar.
*„So haben die frühen Demokratien behauptet, eine vernunftgemäße Rechtschaffenheit entspringe spontan aus der Masse der Menschen.“ *
Aber:
„Die demokratische Theorie befindet sich in einem ständigen Konflikt zwischen Theorie und Praxis, weil sie nicht zugibt, dass ich-bezogene Meinungen nicht ausreichen, um eine gute Regierung zu gewährleisten.“
Oder:
„Der Demokrat hat immer behauptet, dass politische Macht, einmal auf die rechte Art abgeleitet, Gutes wirken werde. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf die Quelle der Macht gerichtet, weil er durch den Glauben gebannt war, das Große bestehe darin, den Willen des Volkes auszudrücken, erstens weil der Ausdruck das höchste menschliche Ziel und zweitens, weil der Wille aus Instinkt gut sei.“
Daran glaubt nun Walter Lippmann ganz und gar nicht. Ihn beeindruckt auch kaum „dieser beständige und alte Glaube, dass die Wahrheit nicht erworben, sondern inspiriert, enthüllt, gratis gewährt werde.“
Die Wahrheit muss erworben werden und wird niemandem geschenkt. Wer wollte dem widersprechen? Aber wie kann sie erworben werden?
Lippmann ist Skeptiker durch und durch. Er seziert Symbole und Glaubenssätze und gefällt sich ausnehmend gut darin, liebgewonnene Illusionen herunterzureißen. Die Möglichkeit der Entdeckung einer inneren Wahrheit ist ihm völlig fremd. Spirituelle Optionen sind für ihn kein Thema. Auch kollektive Möglichkeiten der Bewusstwerdung scheiden für ihn aus. In der Selbstorganisation der Massen, etwa in der Arbeiterbewegung, erkennt er nichts weiter als eine weitere Quelle der interessengeleiteten Einseitigkeit.
So ist es ihm unmöglich, hinter den Schleier einer Skepsis zu treten, die im Angesichte der US-Amerikanischen Öffentlichkeit auch schon zu jener Zeit sicherlich einige Berechtigung hatte. Denn das war bereits eine Öffentlichkeit mit sehr wenigen, sehr mächtigen Medienmonolopen. Die Zeitungsimperien von William Randolph Hearst und Joseph Pulitzer hatten erstmals 1898 ganze Arbeit geleistet, die Bevölkerung in eine geradezu hysterisch aufgeputschte Stimmung für einen Krieg gegen Spanien zu versetzen.
Fachmännisch arrangierter Konsens
Gibt es also gar keine Chance, die Welt zu begreifen?
So ist es nun nicht. Denn glücklicherweise gibt es Leute, die in dem ganzen Durcheinander durch Eigeninteressen verfälschter Meinungen, widersprüchlicher Sinneseindrücke und ungeprüfter Informationen den Überblick behalten. Es sind dies jene, deren Lebenskreis weiter gezogen ist als der gewöhnlicher Leute. Es sind Menschen, die hoch genug gestiegen sind, um das Kudddelmuddel da unten aus der Vogelperspektive betrachten zu können.
Dem Massenmenschen ist dies, wie Lippmann ja Kapitel für Kapitel bewiesen haben will, unmöglich, demnach:
„… ist die Lehre, die wir daraus ziehen, eine ziemlich klare Sache. Wenn Bildung und Institutionen fehlen, die die Umgebung derart erfolgreich widerspiegeln, dass die Realitäten des öffentlichen Lebens sich scharf gegen die ichbezogene Meinung abheben, entziehen sich die Gemeininteressen weitgehend der öffentlichen Meinung und können nur von einer spezialisierten Schicht wahrgenommen werden, deren persönliche Interessen über die lokale Situation hinausgehen. Diese Schicht kann die Situationen, die die Öffentlichkeit im Großen und Ganzen nicht versteht, nicht zur Rechenschaft gezogen werden, weil sie nach Informationen handelt, die nicht Gemeingut sind. Sie lässt sich vielmehr lediglich aufgrund der vollendeten Tatsachen zur Rechenschaft ziehen.“
Dass es in der Regel auch nicht besonders gut klappt, diese „spezialisierte Schicht“ anhand der von ihr zu verantworteten Tatsachen zur Rechenschaft zu ziehen, und seien sie noch so verheerend, sei hier nur angemerkt. Allerdings meint Lippmann mit dieser Schicht weniger die Politiker und Parteileute, von denen er kein sonderliches schmeichelhaftes Bild zeichnet, denn sie „beuten oft die Stumpfheit der Öffentlichkeit aus“.
Lippmanns „spezialisierte Schicht“, der es als „organisierte Intelligenzen“ zur Geltung zu verhelfen gedenkt, sind vielmehr die „Fachleute“. Sie sind für ihn die Antwort auf die Probleme der öffentlichen Meinung, ja: „das Heilmittel“.
„Sie kehren den Prozess um, durch den sich interessante öffentliche Meinungen aufbauen. Statt eine zufällige Tatsache, ein großer Stereotypenfilter und eine dramatische Identifizierung zu bieten, zerschlagen sie das Drama, durchbrechen sie die Stereotypen und geben den Menschen ein ungewöhnliches und unpersönliches Bild von den Tatsachen.“
Der hoffnungsvolle Lippmann
Lippmann wendet sich ausgiebig den praktischen Fragen des fachmännischen Konsensarrangements zu. Er taucht ein in die Alltagsschwierigkeiten des Zeitungsbetriebs, analysiert das Verhältnis zwischen Leser und Zeitung, die Rolle des Geldes im Zeitungsbetrieb und er sinniert darüber, „wann Ereignisse einen berichtenswerten Zustand erreicht haben“.
Er singt das Loblied des Sozialwissenschaftlers, der „das Dilemma von Gedanken und Handlung“ zu überwinden vermöge. Er preist dessen innere Unsicherheit, die Vorsichtigkeit seiner Urteile, die er der eher omnipotenten Selbstwahrnehmung der Naturwissenschaftler positiv gegenübersetzt.
Jetzt aber, denkt Lippmann, ist die Zeit der Sozialwissenschaft gekommen, denn das „Bedürfnis nach einer Art Fachgremium zwischen den einzelnen Bürgern und der riesigen Umwelt“ ist auch bei den ersten Industriechefs und Staatsmännern geweckt und das sind nur, laut Lippmann, die allerersten Anfänge eines Siegeszugs der Wissenschaftspraktiker.
Aus heutiger Sicht, da wir der unerträglichen Arroganz medialer „Experten“ ausgesetzt sind, mag man diese Hoffnungen, die den so überaus skeptischen Lippmann plötzlich ganz naiv erscheinen lassen, verlachen. Fachleute und Experten stehen in keinem recht guten Ruf mehr.
Aber liegt es vielleicht daran, dass die wirklichen Fachleute kein Gehör finden, während uns gekaufte Meinungen angedreht werden, die von vermeintlichen Experten als wissenschaftliche Wahrheit präsentiert werden?
Wäre es nicht wirklich wünschenswert, wenn die Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Praxis ein viel größeres Gewicht hätten?
Lippmann steht da an einer kuriosen Position. Den früheren Illusionen der Demokraten erteilt er beißend eine Abfuhr. Und doch ist er voller Hoffnung, dass es künftig besser werde. Zwar ist seine Zukunftsaussicht nicht gerade ein Triumph der Demokratie. Denn die normalen Leute können das große Ganze nun einmal nicht kapieren, da ist nichts zu machen. Immerhin aber stellt uns Lippmann einen Triumph der wissenschaftlichen Erkenntnis in Aussicht, sofern man ihren Vertretern nur Gehör und Gewicht verleiht.
Um das herbeizuführen, macht er sich allerlei konkrete Gedanken. So ist nach seiner Ansicht „der beste diplomatische Dienst“ eben jener „in dem die Trennung zwischen dem Sammeln von Wissen und der Kontrolle der Politik am vollständigsten ausgeführt ist.“
Er beschreibt, wie ein idealer „Informationsdienst in Industrie und Politik“ beschaffen sein müsste. Um den Druck der Parteiinteressen zu mindern, müsste man zudem einen Mechanismus einführen, „der die Zuhörerschaft zwingt, zur Analyse Stellung zu nehmen, die der Experte gegeben hat.“
Das alles hält Lippmann für machbar und plötzlich, nach einer Kaskade sehr praktischer Vorschläge, wie die öffentlichen Dinge anzuordnen wären, um den Fachleuten in der Bildung der öffentlichen Meinung Geltung zu verschaffen, schließt er überraschend optimistisch:
„Es gibt keinen Grund zum Verzweifeln (…) Was wir an Brutalität gesehen haben, haben wir gesehen und weil es uns fremdartig berührte, war es nicht überzeugend. (…) So groß der Schrecken auch war, er hatte nicht die ganze Welt erfasst. Es gab Korrpute und Unbestechliche. Es gab Wirrwarr und Wunder. Es gab gewaltige Lügereien, aber es gab auch Männer, die gewillt waren, sie zu enthüllen. (…) Und wenn man bei all den Übeln nicht Männer und Frauen gesehen hat und Augenblicke erlebt hat, die man gern öfter sehen und erleben möchte, kann einem nicht einmal mehr der Herrgott helfen.“
Der große Krieg im Hintergrund
Lippmanns Werk muss in seine Zeit gesetzt werden - und die ist die Nachkriegszeit des ersten, weltumspannenden Völkerschlachtens 1914-1918.
Durch seine geschliffene Sprache hindurch ist immer wieder zu spüren, wie sehr Lippmann dieses Erlebnis erschüttert hat. Seine langen Erklärungen, die Unfähigkeit der Menschen zur richtigen Einschätzung der Welt betreffend, sind mit leichtfüßiger Eleganz verfasst. Dahinter aber liegt ein tiefer Schmerz.
Es ist der Schmerz über eine Menschheit, die sich hüben wie drüben verhetzen, die sich willig und überzeugt zur Schlachtbank führen ließ. Lippmann wehrt diesen Schmerz ab, indem er ihn mit gehörigem intellektuellen Aufwand rationalisiert.
Er führt dafür alle Ikonen des Geistelslebens ins Feld, Platon und Aristoteles, Machiavelli, Rousseau und Alexis de Tocqueville - um am Ende mit der einzigen Hoffnung zu verbleiben, ähnliche Geistesgrößen möchten wiedererstehen und zu entscheidendem Einfluss kommen.
Leider hat Lippmann damit eine Blaupause und Rechtfertigungsschrift für die Aushöhlung der Demokratie verfasst.
Denn eine Demokratie, die auf der Annahme fusst, dass das Volk zur Erkenntnis unfähig ist, wird niemals eine werden. Letztlich ersetzt Lippmann Platons Traum vom „guten König“ durch den Traum von der „einflussreichen Sozialwissenschaft“.
Das Problem bleibt bestehen, was eigentlich wird, wenn diese ursprünglich von so guten Leuten besetzte Zentralpositionen, einmal geschaffen, an weitaus weniger gute Leute fallen.
Ohne die Menschen geht es nicht
Nein, es gibt keinen Weg um die Menschen herum. Entweder Demokratie und eine Wendung zum Besseren geschieht nicht für sie oder mit ihnen, sondern durch sie. Oder es wird nie eine Demokratie sein.
Wer Mechanismen schafft, den Konsens aus sozialwissenschaftlicher Redlichkeit heraus zu arrangieren, legt auch die Grundlage für ein System der Machtausübung, in dem der Konsens zu sehr unredlichen, oft barbarischen Zwecken arrangiert wird.
Es ist immer dasselbe Spiel. Das eigentliche Credo des Marxismus lautete ebenfalls: „Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse sein.“ Das Projekt Arbeiterbewegung kam dann in falsche Geleise, als eine „spezialisierte Schicht“ vermeinte, dem mangelnden Bewusstseinsstand der Arbeiter als „organisierte Intelligenz“ kräftig nachhelfen zu müssen, etwa durch eine „Partei von Berufsrevolutionären“ oder durch Parlamentsfraktionen in eigener Macht und Herrlichkeit.
Nun weiß ich selbst auch nicht mehr, ob es anders möglich sein wird. Ich lebe in einem Dorf mit 360 Einwohnern. Und so bewusst mir ist, dass ein besseres Leben in unserer kleinen Welt nur gemeinsam mit eben diesen 360 Dorfbewohnern möglich sein wird, konnte ich die Frage bisher in der Praxis nicht positiv beantworten. Immerhin ist sie noch offen.
Ebensowenig vermag ich eine eindeutig verneinende oder bejahende Aussage über das Veränderungspotential der Menschheit als Ganzes zu vertreten.
Es gibt so viele gute Ansätze und Projekte von weltenrettendem Potential. Und doch taumeln wir scheint’s willenslos dem Abgrund zu und durchaus: ich kenne gar viele Experten und Fachleute, deren wachsendes Gewicht im öffentlichen Diskurs uns rettend gut täte.
Was gäbe ich für eine Medienwelt, in der Rainer Mausfeld, Karin Leukefeld, Daniele Ganser, Franz Ruppert, Birgit Assel und so viele andere, die ich rein zufällig aus dem Rubikon-Umfeld herausgreife, eine weithin vernehmbare Rolle innehätten.
Alles in allem ist auch die Lektüre dieses Buches keine, die mich mit einem eindeutig Ja oder Nein hinterlässt. Lippmann selbst ist dafür eine zu vielfarbige, in sich widersprüchliche Figur, und die von ihm vorgestellte Einschätzung hält allerhand bereit, dem man zustimmen und das man ablehnen möchte.
Aber die Fragen, die er behandelt, sind hochaktuell. Die Art, in der er sie behandelt, ist klug durchdacht. Und die Sprache, in der er handelt, ist wohltuend literarisch.
Gleichzeitig ist dieser Text längst zu einer historischen Quelle erstens Ranges geworden. Wer verstehen will, welchen Anteil auch liberal gesinnte, durchaus nicht unsympathische Männer des Geistes daran hatten, dass wir dort gelandet sind, wo wir uns heute befinden, wird bei Walter Lippmann Aufschlüsse finden.
Zum Schluss eine Gratulation an den Westend-Verlag. Auf die Idee, dieses Werk neu aufzulegen, musste man erst einmal kommen. „Die öffentliche Meinung“ von 1922 im Jahre 2018 auf den deutschen Buchmarkt zu werfen, stellt eine sehr intelligente Intervention in den aktuellen Diskurs der Medienkritik dar.
Chapeau!
Die Einordnung des Textes stellt nun allerdings für den Unkundigen speziell der US-amerikanischen Geschichte keine Kleinigkeit dar. Hier hilft das einleitende Essay "Der vergessene Lippmann - Politik, Propaganda und Markt" von Walter Ötsch und Silja Graupe.
Der Aufsatz geht aber weit über einen Lebensabriss Walter Lippmanns und eine Einführung in das Zeitkolorit des Jahres 1922 hinaus.
Überzeugend leiten Ötsch und Graupe her, wie der US-Liberale Lippmann zu einem bedeutenden Stichwortgeber einer neuen Variante des Liberalismus wurde, genannt: Neoliberalismus!
Schon dieses ausführliche Vorwort lohnte den Kauf des Buches, welches für 26 Euro im Hardcover ab sofort erhältlich ist.
Ab sofort im Handel: Walter Lippmann: Die öffentliche Meinung, 380 Seiten, 26 Euro.