Grün wird welk
Die Partei, die lange den Zeitgeist dominierte wie keine andere, hat aufgrund ihrer wirklichkeitsfernen Politik mit massivem Bedeutungsverlust zu kämpfen.
Der neugewählte Ministerpräsident von Hessen, Boris Rhein, hat nach zehn Jahren gemeinsamer Koalition die Zusammenarbeit mit den Grünen aufgekündigt. Diese hatten bei den letzten Landtagswahlen erhebliche Einbußen erlitten. Handelt es sich dabei nur um einen politischen Partnertausch oder deuten sich da neue gesellschaftliche Entwicklungen an?
Hochmut kommt vor dem Fall
Nach zehn Jahren erfolgreicher und vertrauensvoller Zusammenarbeit, so die rückblickende Bewertung durch den neuen CDU-Ministerpräsidenten in Hessen, Boris Rhein, will die CDU die Koalition mit den hessischen Grünen nicht weiter fortsetzen. Stattdessen hat sie die SPD ins Regierungsboot geholt, die erste schwarz-rote Hochzeit in Hessen seit Bestehen der Bundesrepublik. Die erfolgsverwöhnten Grünen fielen aus allen Wolken. Empört bezeichneten sie diese Entscheidung als „völlig unverständlich. Es habe keine Wechselstimmung gegeben“ (1).
Es schien für die Grünen in den vergangenen Jahren eine Selbstverständlichkeit geworden zu sein, dass ihre Bäume in den Himmel wuchsen. Oftmals waren sie gleichauf mit der SPD, manchmal sogar zweitstärkste Partei. Die AfD fiel bei solchen Betrachtungen wie immer unter den Tisch. Kaum noch eine Landesregierung, an der die Grünen nicht beteiligt waren. Bei einigen Parteimitgliedern hatten die Wahlergebnisse sogar Begehrlichkeiten auf die Kanzlerschaft geweckt. Was sonst hätte die Zukunft auch noch an Erfolgen bringen können bei dem Lauf, den sie hatten?
Grüne Überheblichkeit und Entfremdung von der Wirklichkeit gingen sogar so weit, dass deren in Bayern gescheiterte Kandidatin Katharina Schulze die eigene Partei als „Regierungsfraktion im Wartestand“ bezeichnete. Dabei hatte sie mit einem Verlust von 3,2 Prozentpunkten die stärksten Abschläge aller angetretenen Bewerber hinnehmen müssen.
Die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang sucht die Schuld für den Rauswurf aus dem Machtzirkel bei den anderen. Boris Rhein wolle sich von seinem Vorgänger Volker Bouffier absetzen. Das verdeckt nur dürftig den Eigenanteil an einer Entwicklung, die bereits auch in Berlin zur Bildung einer Koalition unter Ausschluss der Grünen geführt hatte. Der politische Trend scheint gegen die Grünen zu laufen. Doch das scheint bei diesen keiner sehen zu wollen. Und schon gar nicht will man sich mit der eigenen Verantwortung für diese Entwicklung beschäftigen.
Die Koalitionsbildung ohne die Grünen ist das eine, die Wahlergebnisse der letzten Landtagswahlen (2) sind das andere. Denn dort haben die Wähler zuletzt sehr deutlich gemacht, was sie von dieser Partei mit pädagogischem Anspruch halten. Die Verluste waren beträchtlich, und genau diese Verluste haben zu neuen politischen Regierungsbündnissen unter Ausschluss der Grünen geführt. Denn erfahrene Politiker, die seit Jahrzehnten im politischen Geschäft sind, haben empfindliche Sensoren für die Stimmungen in der Bevölkerung.
Das bedeutet jedoch nicht, dass sie sich diesen Stimmungen und Interessen verpflichtet fühlen. Aber sie versuchen, diesen weitestgehend gerecht zu werden, damit die eigene Stellung in der Gesellschaft und in der Politik erhalten beziehungsweise verbessert werden kann. Dass sich SPD und CDU nun verstärkt von den Grünen abwenden, hängt aber auch mit den Zugewinnen der AfD zusammen. Wie kein anderes Thema hatte die Migration den hessischen Wahlkampf bestimmt.
Die Erfolge der AfD haben besonders bei der CDU zu der Befürchtung geführt, dass die grüne Partei „in zu vielen Politikfeldern, allen voran in der Migrationspolitik den Sprung in die Realität einfach nicht wagen will“ (3). Nach der Wahl war der hessischen CDU sehr daran gelegen, mit einem Bekenntnis zur Migrationsbegrenzung, ergänzt durch eine sogenannte Abschiebeoffensive, der AfD den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dafür schienen ihr die Grünen nicht der geeignete Partner zu sein.
Der Wind hat sich gedreht
Vielleicht spürt man bei CDU und auch SPD, dass die Wahlverluste der Grünen einen Stimmungswandel in großen Teilen der Bevölkerung gegenüber dieser Partei bedeuten. Boris Rhein spricht von einem Zeitgeist, der einer weiteren Zusammenarbeit mit den Grünen im Wege stehe. Auch er scheint zu ahnen, dass der grüne Einfluss schwindet, der mit Fridays for Future die Zustimmungswerte der Partei hatte anschwellen lassen. Will man deshalb Koalitionen mit ihnen vermeiden, um nicht von diesem gesellschaftlichen Wandel in Mitleidenschaft gezogen zu werden?
Sogar die hessischen Grünen haben das schlechte Image der Bundespartei als Ursache für die Absage an eine Fortführung der Koalition in Hessen ausgemacht. Zuletzt mehrten sich die Stimmen, die zu erkennen scheinen, dass ihnen der Wind ins Gesicht bläst. So mahnt der grüne Finanzminister Danyal Bayaz aus Baden-Württemberg: „Es sei Zeit, sich selbstkritisch zu fragen, warum einstige Koalitionspartner die Grünen weniger als moderne Kraft der Veränderung wahrnehmen, sondern offenbar als Belastung in schwierigen Zeiten.“ (4)
Hatte Ministerpräsident Daniel Günther in Schleswig-Holstein die Grünen noch als „Jungbrunnen für die CDU (gesehen), nur dass die CDU ohne ideologische Spinnereien auskomme“ (5), so hat diese verjüngende Kraft mittlerweile wohl ihre Wirkung verloren. Zumindest dürften das die Parteimitglieder in Hessen so sehen. „Die Grünen haben keine angemessene Antwort auf die Probleme unserer Zeit“ (6), hört man aus der hessischen CDU.
Wie weit Verleugnung und Abgrenzung gegenüber den Grünen mittlerweile gehen, macht Nancy Faeser von der SPD deutlich. Selbst sie als Koalitionspartnerin in der Ampel und auch sonst nicht so weit entfernt von grünem Denken, ist der Meinung, die derzeitigen „Herausforderungen verlangten nach Pragmatismus, nicht nach Ideologie“ (7). Das wirft die Frage auf, wie lange die Grünen in Berlin noch fest im Sattel sitzen.
Schon hat das Handelsblatt (8) eine Aufstellung veröffentlicht über die Politikfelder, in denen bei der SPD größere Gemeinsamkeiten mit der CDU vorherrschen als mit den Grünen. Geht es bergab mit der Partei der demokratischen Musterschüler und Hochbegabten in westlicher Wertelehre? Ist dieser Ansehensverlust allein zurückzuführen auf die handwerklichen Fehler Habeck'scher Gesetzesentwürfe und seinem Mangel an wirtschaftlichem Fachwissen beziehungsweise dem oftmals sinnentleerten Geplapper seiner Parteigenossin im Außenministerium? Oder deutet sich da ein Bewusstseinswandel in der Politik an, der zurückzuführen ist auf eine veränderte Einstellung der Gesellschaft zu den Grünen?
Der grüne Kaiser ist nackt
Die Macht der Grünen bestand nicht in ihrer Kompetenz in einzelnen Politikfeldern. Ihre Macht kam aus ihrer Deutungshoheit in Fragen von Werten und Moral. Sie hatten sich über die Jahre den Heiligenschein einer Gerechtigkeitspartei erworben. Sie wurden wahrgenommen als diejenigen, die eintraten für die Rechte von Unterprivilegierten wie Frauen und Kinder sowie sexuellen, rassischen, religiösen und sonstigen Minderheiten. Sie machten sich stark für den Schutz von denen, die sich selbst nicht wehren konnten, wie Tiere und Umwelt.
Im Gegensatz zur anderen Gerechtigkeitspartei, der SPD, bewegten sich die Grünen auf Feldern, die wenig Interessenkonflikte hervorriefen.
Das Eintreten der SPD für soziale Gerechtigkeit besonders in der Arbeitswelt und in der Unterstützung gewerkschaftlicher Forderungen geriet oft in Konflikt mit Unternehmertum und Gesellschaft allgemein. Denn nicht selten war sie verbunden mit Arbeitskämpfen. Viele sehen solche Interessenvertretung als egoistisch an.
Von solchen Themen und Konflikten hielten sich die Grünen weitgehend fern. Ihre Klientel kam in der Regel aus gesellschaftlichen Kreisen, in denen das Geld und die Umstände, unter denen es verdient werden musste, eine nicht so große Rolle spielte. Die grüne Anhängerschaft war besonderes in den letzten Jahren eher die besser verdienende Mittelschicht.
Unter solchen Umständen entstand in und um dieses grüne Milieu herum eine Ideologie der Selbstlosigkeit, eines naiven Sozialismus, der sich in scheinbarer materieller Bedürfnislosigkeit übt und darstellt. Werte waren wichtiger. Behutsamkeit und Achtsamkeit entwickelten sich zu obersten Geboten im Umgang mit Mensch und Natur statt der Verfolgung eigener Interessen. Grüne galten gerade nicht als egoistisch wie die Klientel der SPD. Sie galten als die Idealisten schlechthin.
Dieses scheinbar selbstlose Verhalten und diese Ansprüche verliehen den Grünen und ihren gesellschaftlichen Sympathisanten zunehmend ein Ansehen hoher moralischer Integrität. Das wirkte anziehend auf viele Menschen, die gut sein und Gutes tun wollten, oftmals auch ehrenamtlich oder sonst im Sinne irgendeiner Gemeinschaft. Dieses Engagement war nicht nur gut, es bot auch Schutz.
Denn die Kehrseite dieser Selbstlosigkeit und Werteordnung waren Empörung und Ächtung, wenn grüne Werte nicht genügend Beachtung fanden. Vorwürfe von Frauenfeindlichkeit, Homophobie, Rechtslastigkeit, Rassismus, Wissenschaftsfeindlichkeit oder gar des umweltschädlichen Verhaltens führten häufig zu Shitstorm und gesellschaftlichem Kesseltreiben. Sachliche Auseinandersetzung war unter solchen Umständen kaum noch möglich, wollte man nicht mit in Sippenhaft genommen werden. Sie fand die höchste Stufe der Ausgrenzung in Kontaktschuld und Cancel Culture.
Auf diesem Nährboden von Werteorientierung und gleichzeitigem Empörungsritual war eine Art grüner Femegerichtsbarkeit entstanden, die immer mehr Einfluss gewonnen hatte auf das gesellschaftliche Denken. Diese Moral schien — anders als die Interessenorientierung — selbstlos und war deshalb unangreifbar. Ihre Wirkkraft erhielt diese Moral nicht zuletzt auch aus der Tatsache, dass die Forderungen nach Schonung der Umwelt, respektvollem Umgang mit Menschen egal welchen Geschlechts, welcher Rasse, Religion und welcher sexuellen Orientierung vernünftig waren und deshalb die Zustimmung der Gesellschaft fanden.
An all dem wäre nichts auszusetzen, wäre da nicht die Intoleranz gegenüber jenen, die anders darüber denken und Zweifel äußern. Der ausgeprägte Gerechtigkeitssinn des grünen Milieus, der ihm zu seiner hervorragenden gesellschaftlichen Stellung verholfen hatte, ist einseitig und doppelbödig. Grüner Gerechtigkeitssinn hat sich gewandelt zur Rechtfertigung der eigenen Ansichten und Verhaltensweisen sowie der Verunglimpfung abweichender.
Bis zur Machtteilhabe der Grünen in der Ampelregierung verurteilte die Partei Angriffskriege und wandte sich gegen die Lieferung von Waffen in Spannungsgebiete. Deshalb verurteilte sie scharf den Einmarsch Russlands in die Ukraine. Aber beim Überfall der NATO auf Jugoslawien — damals bereits schon unter grüner Beteiligung — hatte das keine Rolle gespielt. Da ging es um die Verhinderung eines Genozids, so die damalige grüne Rechtfertigung. Diese Ansicht hatten seinerzeit viele Menschen geteilt oder zumindest sahen diese wenig Anlass, das zu hinterfragen.
Wo aber bleibt grüner Gerechtigkeitssinn im Falle der Opfer im Gazastreifen? Was unterscheidet die Lage dort von jener in Jugoslawien seinerzeit? Wo ist der Unterschied zwischen dem Einmarsch Israels in der palästinensischen Enklave und dem Russlands im Donbass? Wieso verteidigt die grüne Außenministerin den israelischen Einmarsch, während sie den russischen verurteilt?
Die Konflikte in Gaza und im Donbass sind mittlerweile so allgegenwärtig, dass man sich ihnen kaum noch entziehen kann. Dadurch wird selbst wenig interessierten Zuschauern ein Ausweichen vor den Berichten fast unmöglich gemacht. Das führt aber auch vielen Menschen die westliche Doppelmoral unübersehbar vor Augen. Das Messen mit zweierlei Maß im Westen wird immer offensichtlicher und die Rechtfertigungen werden immer unverständlicher.
Diese Doppelmoral wirkt zunehmend abstoßend. Das macht den Wandel des Zeitgeistes aus, den Boris Rhein festzustellen glaubt. Die Grünen als die obersten Werteverfechter trifft dieser Verfall als erste und am heftigsten. Offenbar wirken sie auf bisherige Koalitionspartner „wie eine ansteckende Krankheit. Wer zu lange mit ihnen arbeitet, könnte sich selbst anstecken“ (9). Der grüne Kaiser steht auf einmal nackt da und allein. Denn das moralische Mäntelchen, das ihn bisher umhüllt hatte, ist so fadenscheinig, dass man die grüne Nacktheit darunter sieht, und diese ist unansehnlich.