Göttliche Raserei

Der griechische Gott Pan, Namensgeber der Begriffe „Panik“ und „Pandemie“, hat unserer vermeintlich nüchternen Zeit einiges zu sagen.

Hirtenromantik, Panflöte, archaische Masken — der griechische Gott Pan war selten so präsent wie derzeit. Zumindest gilt das für seinen Namen. Er steckt in den Worten Pandemie und Panik gleichermaßen. Der Hirtengott ist generell ein eher „irrationaler“ Geselle. Der Autor erläutert ein wenig die kulturgeschichtlichen Hintergründe und er kommt zu einem erstaunlichen Schluss. Eine Pandemie des Idiotentums wäre wünschenswert. Warum das keineswegs bekloppt sein muss, lesen Sie hier.

Ich liebe es, Worte auf ihren Ursprung hin zu untersuchen und zu verstehen. Und dieser Ursprung liegt oft genug im Griechischen. So auch bei der „Pan-Demie“. Neben dem „Demos“, dem Volk, steckt in diesem Wort auch eine GOTTHEIT: Der Gott PAN.

Figurengruppe Aphrodite, Pan und Eros

Die unten abgebildete herrliche Figurengruppe ist über 2.000 Jahre alt — also „vorchristlich“ — und stammt von der griechischen Insel Delos. Pan hat sich gerne mit Nymphen verlustiert. Der geile Bock trägt die Phallussymbole offen mit sich herum. Der kleine Eros kitzelt ihn ein wenig daran, als er hier nun auch einmal bei Aphrodite zu landen versucht, bei der Göttin der Schönheit. Er hat jedoch keine Chance: Mit ihrem Schlappen gibt sie ihm was auf die Pfoten.

Bild

Group of Aphrodite, Pan and Eros (Wikipedia, freie Lizenz)

Schön erkennbar, dass dieser archaische Männlichkeitsgott für die christliche Kirche zum Urbild des Teufels wurde — wohl wegen seines unbefangenen Umgangs mit Sexualität. Dafür wurde er eben „verteufelt“.

Pan verkörpert in der Zeit vor mindestens achttausend Jahren das männliche Prinzip. Man machte sich damals schon Gedanken über die Herkunft des Menschen. Dass Kinder immer nur aus Frauen geboren wurden, war offensichtlich. Dass bei allen Kindern auch immer ein männliches Prinzip irgendwie beteiligt gewesen sein musste, das ahnte man auch. An den Viehherden ließ sich das bereits damals geradezu experimentell erforschen.

Das männliche Prinzip war also überall zu beobachten — der hierfür zuständige Gott wurde folglich mit „überall“ gleichgesetzt. Deshalb bedeutet die Pan-Demie: Überall im Volk vorkommend.

Dieser Gott Pan hat übrigens angeblich auch die Panflöte erfunden. Für den obersten Hirten war das Panflötenspiel ein beliebter Zeitvertreib während des Ziegenhütens. Er war also auch ein musisches Kerlchen.

Pan war auch für die Panik zuständig. Er hielt nämlich gerne ein Mittagsschläfchen. Da wollte er dann nicht unbedingt gestört werden. Geschah dies dann doch einmal, stieß er einen lauten Schrei aus — und die Störenfriede stoben in Panik davon.

Das Schwarmprinzip

Im Kampf ums Überleben mag Angst oder Panik ein wichtiges Prinzip sein. Hierbei kann es sinnvoll und notwendig sein, gemeinsam und geschlossen zu handeln. So bilden sich im Tierreich oft größere Herden oder Schwärme, die sich ziemlich eng aneinander orientieren und sich so gemeinsam bewegen. Einzeltiere sind in einem Vogel- oder Fischschwarm für Angreifer schwerer zu erbeuten. Es ist für das Individuum also normalerweise mit einem Überlebensvorteil verbunden, sich automatisch an das Verhalten seines Schwarms anzupassen. Auch in uns Menschen steckt zweifellos dieser Instinkt.

Dieser Herdentrieb muss jedoch nicht zwangsläufig von Vorteil sein, wie wir aus der leidvollen Geschichte der Menschheit wissen. Das zeigt auch ein Experiment von Erich von Holst aus den frühen 1940er Jahren. Sein Schüler Konrad Lorenz beschreibt dies: Elritzen sind kleine Süßwasserfische, die sich in Schwärmen bewegen. Bei einem dieser Tiere hatte von Holst das Vorderhirn entfernt. Der Fisch vermag nach dieser Operation ohne weiteres zu schwimmen und zu fressen. Er verliert jedoch anscheinend dadurch seine Ängstlichkeit. Wenn er in ein Becken gesetzt wird, in dem bereits ein Elritzenschwarm in geschlossener Formation seine Bahnen zieht, schwimmt er zunächst — ohne den Schwarm zu berücksichtigen — gerade so, wie es ihm gefällt: kreuz und quer. Und was — glauben Sie — geschieht nach wenigen Momenten? Nach kurzer Zeit schwimmt der gesamte Schwarm der gehirnamputierten Elritze hinterher. Wird an diesem Experiment vielleicht deutlich, wie Gruppendynamik und Politik funktionieren?

Das Führerprinzip

Norbert Bischof, ebenfalls ein Schüler von Holsts, berichtet: Ein NSDAP-Funktionär hatte sich während einer Tagung für von Holsts Forschung interessiert und vor dem versammelten Auditorium die Frage gestellt, ob es denn im Tierreich so etwas wie ein Führerprinzip gebe. Der unerschrockene von Holst habe von dem Experiment berichtet und hin¬zu¬gefügt, „daß es nur eines Hirndefektes bedürfe, um ein Individuum zum Führer der Gruppe avancieren zu lassen. (…) der Funktionär wurde blaß und hatte keine weiteren Fragen.“

Als von Holst sich dafür verantworten musste, kam er, der sich ja lediglich auf empirische Befunde bezogen hatte, mit einer Verwarnung davon.

Bischof deutet das Elritzenexperiment folgendermaßen: In einem Fischschwarm bewegen sich einige Tiere zunächst ein wenig in die eine, dann in die andere Richtung, so dass sich das Schwarmgebilde mal mehr oder weniger an einzelnen Stellen ausbuchtet, bis es dann dorthin „fließt“, wo sich ein Übergewicht an Schwarmmitgliedern gebildet hat. Die gehirnamputierte Elritze, der es an Ängstlichkeit fehlt, bewegt sich so entschlossen in eine selbst gewählte Richtung, dass der Schwarm dieser Beherztheit blindlings folgt. Das kann auch geradewegs in das Maul eines Raubfisches, also in den kollektiven Untergang führen.

Von Opfern, Tätern und Idioten

Wer zu einem ersten Termin in meine Praxis kommt, wird in der Regel relativ schnell mit einer Einschätzung von mir konfrontiert:

„Wissen Sie, für mich gibt es nur drei Arten von Menschen: Opfer, Täter und Idioten.“

Die meisten reagieren etwas irritiert und scheinen zu überlegen, zu welcher Gruppe sie wohl gehören. Andere erheben eventuell Einspruch gegen eine solch pauschale Einteilung, die ich aber nicht gelten lasse. Dann fahre ich fort:

„Dazu muss ich Ihnen erst einmal erklären, was das Wort ‚Idiot’ eigentlich bedeutet. Idiot kommt aus dem Griechischen. ‚Idiotis’ ist ‚der Privatmann’, ‚idios’ ist ‚das Eigene’. Idiotisch zu sein bedeutet also dem Wortsinn nach, einen eigenen Weg zu gehen. Es kann natürlich blödsinnig sein, nicht auf andere zu hören. Aber auch jene, die etwas erfinden, entdecken oder künstlerisch gestalten, sind notwendigerweise IdiotInnen. Denn nur, wenn Sie nicht da entlangtrotteln, wo alle anderen entlangtrotteln, können Sie Neues erfinden oder entdecken oder künstlerisch gestalten. Einen eigenen Weg zu gehen, also idiotisch zu sein, kann durchaus klug und genial sein.“

Nebenbei: Noch im 19. Jahrhundert wurde der Begriff „idiotisch“ durchaus im Sinne von „eigentümlich, charakteristisch“ gebraucht. Dieses Merkmal, konsequent einen eigenen Weg zu gehen, unterscheidet also IdiotInnen von Opfern und TäterInnen.

Prägung

Wir alle werden mehr oder weniger durch die Lebensumstände geprägt, unter denen wir geboren werden und aufwachsen.

Opfer: Typische Opfer sind nun Menschen, die durch ein im Grunde „egozentrisches“ Schicksal schwere Beeinträchtigung in ihrem Leben erfahren haben. Beispielsweise sind wichtige Bezugspersonen gestorben. Oder sie waren mit gesundheitlichen Einschränkungen konfrontiert. Vielleicht sind sie in großer Armut aufgewachsen. Oder sie waren der Gewalt, Unterdrückung, Entwertung oder Missachtung durch Eltern, Geschwister, MitschülerInnen, GewalttäterInnen, ÄrztInnen, PsychologInnen, LehrerInnen und andere ausgesetzt. Weil solche Menschen — ohne eigenes Zutun! — derart vom Leben gebeutelt wurden, sind sie eventuell überzeugt: „Ich habe es nicht verdient, glücklich zu sein!“, „Ich bin nichts wert!“ Mit diesen Grundeinstellungen liefern sie sich eher und ohne große Gegenwehr Situationen aus, in denen sich entsprechende Erfahrungen wiederholen. Sie erleben dabei erneut Ausbeutung, Unterdrückung, Entwertung, Missachtung oder Ungerechtigkeit — schließlich ist es ihnen vertraut, dass derartig mit ihnen umgegangen wird. Auf dieser Grundlage stellt sich dann bei ihnen angesichts aller möglichen Herausforderungen schnell ein Gefühl von Hilflosigkeit ein.

Leider sind bis heute noch viel zu viele Menschen von solchen Erfahrungen geprägt. Das macht sie anfällig dafür, sich hilflos zu fühlen und sich den Direktiven anzupassen, die von irgendwelchen Leithammeln ausgegeben werden. Sie vermeiden dann lieber, ihren eigenen Weg zu gehen.

IdiotInnen: Ihnen ist es ein starkes Bedürfnis, ihren eigenen Weg zu gehen. Vielleicht haben sie das Glück gehabt, von einem sehr liebevollen Umfeld in einer gesunden Souveränität gestärkt worden zu sein. Vielleicht haben sie aber auch erlebt, schon früh AußenseiterInnen gewesen zu sein, auf diese Weise also Erfahrungen damit gemacht, auf sich allein gestellt zurechtkommen zu müssen. Für sie ist es unerträglich, sich willkürlicher Bevormundung und Unterdrückung auszusetzen. Sie sehen zu, dass sie entsprechende Erfahrungen vermeiden oder rasch beenden. Es sind Menschen, die aus negativen Ereignissen gestärkt hervorgegangen sind, die ihre Widerstandskraft = Resilienz gestärkt haben. Diese Kraft hat ihnen geholfen, ihre Schicksalsschläge positiv zu wenden. Ganz nach dem Motto: Aus Mist Dünger machen!

TäterInnen: Bei ihnen handelt es sich — wie bei den Opfern — um Menschen mit einem schwer gestörten Selbstwertgefühl. Sie vertreten allerdings eine gegenteilige Einstellung: „Ich bin die/der Größte!“, „Ich muss unbedingt nach vorne!“, „Hauptsache, mir geht’s gut!“ Wer solche Überzeugungen in sich trägt, fühlt sich berechtigt, über Leichen zu gehen, um die eigenen Vorteile zu sichern. Für diese Art von Mensch ist es geradezu erforderlich, auf anderen herumzutrampeln, um selbst voranzukommen oder einen höheren Posten zu erlangen. Diese Eigenschaft von TäterInnen unterscheidet sie von IdiotInnen. Denn wer es gewohnt ist, eigene Wege zu gehen, hat es nicht nötig, andere für seine Zwecke zu erniedrigen und auszubeuten.

Ein großer Haufen Verrückter

Meinen KlientInnen sage ich auch gewöhnlich:

„Wissen Sie, aus meiner Sicht haben wir es bei der Menschheit zu 95 Prozent mit Verrückten zu tun. Und in meine Praxis kommen eigentlich immer nur VertreterInnen der Gruppe der 5 Prozent Gesunden, die sich ihre Sensibilität bewahrt haben und an den Verrücktheiten der anderen leiden.“

Die Betroffenen leiden nicht zuletzt, weil sie sich weigern, an Schikane, Unterdrückung, Entwertung, Ausbeutung, Betrug und so weiter teilzunehmen. Daraus entsteht dann massive Spannung, aus der sie dann psychosomatische Reaktionen entwickeln. Typische Symptome sind dann die sogenannten „Ängste“ und „Depressionen“.

Viele von denjenigen, die zu mir kommen, haben die Erfahrung gemacht, dass sie in ihrem sozialen Umfeld als seltsam angesehen werden, weil sie ihre eigenen Ideen verfolgen, kreativ sind, offen und direkt ihre Meinung sagen und Ähnliches. Mit meiner Arbeit möchte ich ihnen den Rücken stärken. Mein erklärtes Programm für die Therapie:

„In der Regel kommen Sie als Opfer hierher. Aber ich möchte, dass Sie als IdiotIn — oder, noch besser: als VollidiotIn — wieder hier rausgehen.“

Des Kaisers neue Kleider

Diejenigen, die sich wie IdiotInnen verhalten, werden schnell so angesehen, als hätten sie nicht mehr alle Tassen im Schrank. Um hier standhaft zu bleiben, ist ein stabiles Selbstwertgefühl erforderlich. Der Begriff „Idiot“ macht schon klar, dass dies ein unbequemer Weg sein kann.

In der menschlichen Gesellschaft besteht die Tendenz, abweichendes Verhalten zu sanktionieren. Wer von seinem Handeln nicht wirklich überzeugt ist, wird durch die Zuschreibung, nicht ganz dicht zu sein oder sich „idiotisch“ zu benehmen, ziemlich leicht unter Druck geraten.

Der einfachere Weg besteht in der Regel darin, sich dem Handeln der anderen anzupassen. Es entstehen dann solche Gruppendynamiken, wie es das Märchen von „Des Kaisers neue Kleider“ vortrefflich beschreibt. Das Märchen ist zwar lustig. Aber, wie die Weltgeschichte zeigt, kann dies leider auch sehr verhängnisvoll sein. Aus meiner Sicht bräuchte unser Planet mehr IdiotInnen. Trottel, die anderen willenlos hinterhertrotteln, haben wir schon genug.

Narziss — ein Idiot

In meinem Artikel zur „Eigenverantwortungslüge“ habe ich dargestellt, dass Narziss ein solcher Idiot ist. Er geht seinen eigenen Weg. Er lässt sich beispielsweise keine Beziehungen aufdrängen. Daraus erwächst ihm am Ende ein Problem. Die Abgewiesenen machen ihm Druck. Und dann ergreifen selbst Außenstehende Partei gegen ihn. Dabei haben Menschen wie Narziss nicht Bestrafung, sondern Verständnis, Mitgefühl und unseren moralischen Beistand verdient.

Und obwohl Narziss seinen eigenen Weg geht, kann er natürlich darunter leiden, dass ihm vertraute, liebgewonnene Angehörige und WegbegleiterInnen verloren gehen. Auch für dieses Schicksal — die andere Seite seiner Leidensgeschichte — steht ihm unser Mitgefühl und Verständnis zu.

Dass Narziss — ganz ähnlich wie der Idiot — im allgemeinen Bewusstsein ungefähr genauso diffamiert ist, wie Pan verteufelt wurde, macht deutlich, wie leicht wir uns irgendwelche Bewertungen in Bezug auf andere Menschen (oder irgendwelche Situationen) aufschwätzen lassen und dann blind übernehmen. Die eigentlichen Fakten und Hintergründe entsprechender Geschichten geraten dann allzu schnell aus dem Bewusstsein.

Fazit

Natürlich sind wir alle in Bezug auf viele Sachverhalte keine ExpertInnen. Hier sind wir auf ExpertInnen wie Wolfgang Wodarg angewiesen, die uns unaufgeregt die Sachverhalte vermitteln. Auf dieser Grundlage vermögen wir uns ein eigenes Bild der Lage zu machen. Es wäre schön, wenn wir bald in unserem Land und auf der ganzen Welt eine Pandemie des Idiotentums bekämen. Brandgefährlich wird es, wenn wir im Schwarm in irgendwelche Richtungen stürmen, nur weil irgendjemand einen lauten Schrei ausgestoßen hat. Womöglich ist der dahinterstehende Gott völlig harmlos und wurde nur — völlig zu Unrecht — verteufelt.


Quellen und Anmerkungen:

Bischof, Norbert (19891, 1997): Das Rätsel Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Ur¬konfliktes von Intimität und Autonomie. München, Piper (S. 305f)
Lorenz, Konrad (1963): Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. Wien, Dr. G. Borotha-Schoeler-Verlag (S. 221)