Götterdämmerung in Sachsen

Auch wenn Michael Kretschmers CDU bei der Landtagswahl mit einem blauen Auge davon gekommen ist — ihr Niedergang ist die Quittung für Jahrzehnte wirtschaftspolitischer Fehlentwicklung.

Sachsens CDU regiert den Freistaat seit seinem Bestehen. Anfangs bei den Wählern hoch im Kurs, verliert die Partei von Wahl zu Wahl mehr Anhänger. Bei der Landtagswahl in Sachsen am 1. September 2024 lag die Partei nur um Haaresbreite vor der Alternative für Deutschland. Und das, obwohl nach den Worten des Ministerpräsidenten Michael Kretschmer kein Kapitalismus, sondern soziale Marktwirtschaft herrscht. Kretschmer, der mit viel Richtigem durchaus bei den Wählern punktet, kann aber nicht die völlig verfehlte Strukturpolitik der Nachwendezeit korrigieren.

Sachsens Glanz und Preußens Gloria

So hieß ein äußerst beliebter Fernseh-Sechsteiler zu DDR-Zeiten. Hier bekam der geneigte Zuschauer gewaltige Bilder zu sehen, fernab der sozialistischen Wirklichkeit. Hier ging es um Pomp und Intrigen am Hofe Augusts des Starken, Kurfürst von Sachsen und König von Polen. Was Sachsen angeht: Der Lack ist längst ab und es ist auch nicht zu befürchten, dass Sachsen je wieder im alten Glanz erstrahlen wird. Die Eigenwahrnehmung beziehungsweise das Schönreden durch die aktuellen sächsischen Granden erinnert mich zu sehr an die Aktuelle Kamera.

Kurt Tucholsky konnte oder wollte in seiner Satire „Der Mensch“ von 1931 nichts über die Sachsen sagen:

„Neben den Menschen gibt es noch Sachsen und Amerikaner, aber die haben wir noch nicht gehabt und bekommen Zoologie erst in der nächsten Klasse.“

Zugegeben, das ist auch nicht einfach. Nähern wir uns also dem Land Sachsen, Freistaat heute.

Sachsen: Hier sorgte Friedrich August der I., „der Starke“, einst für Glanz und eine prunkvolle Metropole. Hier ließ ebenjener seine Mätresse Anna Constantia Gräfin von Cosel auf der Burg Stolpen für unglaubliche 48 Jahre einsperren. Hier haben der Leipziger Thomanerchor und der Dresdner Kreuzchor ihre Heimat. Hier kamen der Räuberhauptmann Karasek, Pumphut und der Stülpner, Karl zu legendärem Ruf. Hier ist die Heimat von Schwibbogen, Weihnachtspyramide, Nussknackern, Räuchermännern und Herrnhuter Sternen. Hier wurde 1863 die erste deutsche Arbeiterpartei gegründet. Hier war Leipzig vor dem Krieg die fünftgrößte Stadt Deutschlands. Hier warfen 773 britische und 311 amerikanische Bomber in der Nacht zum und am 14. Februar 1945 Sprengbomben ab, die mehr als 80.000 Wohnungen in Dresden zerstörten und mehr als 25.000 Menschenleben kosteten.

Hier sprechen die Bewohner angeblich den unbeliebtesten deutschen Dialekt. Hier sind die Ossies am wehleidigsten. Hier gab es in Klingenthal, Oberwiesenthal, Zinnwald und Karl-Marx-Stadt einst international erfolgreiche Wintersportclubs. Hier wirkte Manfred von Ardenne, Erfinder des Fernsehens und letzter deutscher Universalgelehrter, bis zu seinem Tode 1997. Hier haben die Montagsdemos das Ende der DDR eingeleitet. Hier, in Hoyerswerda, kam es im September 1991 zu mehreren Anschlägen auf Unterkünfte von Flüchtlingen und ehemaligen Vertragsarbeitern. Hier entstand Pegida. Hier treten die Neonazis am unverhohlensten auf. Hier gab es nur CDU-geführte Regierungen. Hier kann man sorglos und mit behördlicher Genehmigung mit Auto-Kennzeichen wie ZI-HH 8888 oder BZ-AH 8888 herumfahren. Hier leben etwa 40.000 Sorben als slawische Minderheit (1). Hier nahm die Bevölkerung von Ende 1988 bis Ende 2021 um 20 Prozent ab. Hier sterben pro Jahr durchschnittlich 20.600 Menschen mehr als geboren werden (2). Hier leben ostdeutsche Frauen am längsten (3). Hier beträgt der Jahreslohn um 5.750 Euro Jahr weniger als im Bundesdurchschnitt (4).

Hier liegt die jährliche Kaufkraft 2.913 Euro unter dem Bundesdurchschnitt (5). Hier ist der Krankenstand niedriger als sonstwo im Osten (6). Hier haben die Privathaushalte mehr Autos als im Bundesdurchschnitt (7). Hier belegen die Schüler seit 2006 deutschlandweit den Spitzenplatz der PISA-Studie. Hier ist der Altersdurchschnitt der Bevölkerung der jüngste im Osten und trotzdem über dem Bundesdurchschnitt (8). Hier gibt es ein Polizeigesetz, das anlasslose Kontrollen in einem Streifen von 30 Kilometern von der Grenze erlaubt. Hier gibt es PerIS (Personen-Identifikations-System), das in Echtzeit Fahrzeuge sowie Personen anhand biometrischer Daten erkennen kann. Hier gibt es kein Landes-Freilichtmuseum. Hier sind Eierschecke und Christstollen Religion. Hier habe ich 43 von 60 Lebensjahren verbracht.

Und hier war die Wiege der deutschen Industrie.

Was vielen, vor allem im Westen, heute gar nicht mehr bewusst ist: Große Teile der amerikanischen Besatzungszone haben ihren wirtschaftlichen Aufschwung der aus Mitteldeutschland abgewanderten Industrie zu verdanken.

Hierüber gibt es verschiedene Erzählungen, von denen keine falsch ist, aber eben auch nicht ausschließlich richtig. Richtig ist, dass aus Angst vor den „Russen“ — Ukrainer, Weißrussen, Tataren, Kaukasier und andere eingeschlossen — viele Vermögende in den Wochen vom Ende der Kampfhandlungen bis zur Übergabe der von den Amerikanern bei Kriegsende besetzten Gebiete an die sowjetische Militäradministration, ihre Siebensachen packten und sich gen Westen absetzten. Richtig ist aber auch, dass nachdem im Ergebnis von Jalta feststand, wie Deutschland nach Kriegsende auf die Besatzungsmächte aufgeteilt wird, die Amerikaner gezielt auf Standortsuche waren.

Im Falle von Carl Zeiß im thüringischen Jena wurde im Westen ein Standort gesucht, der sogar landschaftlich an Jena erinnern sollte. Gefunden wurde er in Oberkochen. Was nicht gefunden wurde, waren Fachkräfte. In den wenigen Wochen, bis die Rote Armee in Jena übernahm, hatte man in atemberaubender Geschwindigkeit 85 Prozent der Maschinen und Anlagen, mehr als 80.000 Zeichnungen und Patente nach Oberkochen verschafft, inklusive der Zwangsdeportation von mehr als 300 Führungskräften und ihren Familien. Inzwischen hat man sich in Oberkochen selbst des Sitzes der Zeiß-Stiftung, der auf Wunsch von Ernst Abbe in Jena und nur in Jena sein sollte, bemächtigt. Für die Westdeutschen liegt „Zeiss“, so die jetzige Schreibweise, in Oberkochen.

Was in Jena geschah, geschah ebenso beispielsweise mit der Agfa in Wolfen, heute Sachsen-Anhalt, der Glanzstoff AG in Elsterberg sowie den mitteldeutschen Siemens-Standorten inklusive mindestens 2.000 Arbeitskräften und mehr als 500 Tonnen an Betriebsausstattung. Ein Narr, wer glaubt, die seien einfach losgezogen, Hauptsache weg, bevor „die Russen“ kommen.

Dass Ingolstadt für Audi steht, ist heute für die Deutschen selbstverständlich. Keineswegs selbstverständlich ist, wie Audi nach Ingolstadt, das bei Kriegsende nicht mal 34.000 Einwohner zählte, kam. „Audi“: Das waren die in der Auto-Union vereinten Marken Audi und Horch in Zwickau, Wanderer in Chemnitz sowie DKW in Zschopau.

„Bereits kurz nach Kriegsende setzten sich viele Mitarbeiter aus den ehemaligen Werken in Zschopau, Zwickau und Chemnitz nach Westdeutschland ab und nahmen in Ingolstadt einen Neuaufbau in Angriff.“ So wie Wikipedia kann man es auch formulieren. Es erinnert ein bisschen zu sehr an die Westbesiedlung Nordamerikas auf gut Glück.

Wer sich die wirtschaftliche „Entwicklung“ Deutschlands in den letzten Jahren vor Augen hält, der kann nur Hochachtung gegenüber der planerischen und logistischen Leistung der Amerikaner empfinden, lagen doch zwischen dem Aufeinandertreffen mit der Roten Armee bei Torgau und dem Abzug der Amerikaner aus Mitteldeutschland Anfang Juli 1945 nur zehn Wochen. Zehn Wochen, in denen so viel „bewegt“ wurde, wie nie zuvor und nie wieder in Mitteldeutschland.

Nur wenige Wochen, nachdem die Amerikaner weg waren, begann die sowjetische Militäradministration mit dem Abbau von vielem, was übriggeblieben war. Dass der Osten die Masse an Reparationsleistungen zu tragen hatte, ist heute unumstritten. Dass wegen der Industriedichte im Osten wiederum Mitteldeutschland am stärksten betroffen war, ist folgerichtig.

Das, was danach übrigblieb, bildete den Grundstein für den wirtschaftlichen Wiederaufbau in der ehemaligen DDR, nackig gemacht und ganz ohne Marshall-Plan. Vor dieser Leistung der Menschen im Osten ziehe ich den Hut.

In der DDR wurden die Länder im Jahr 1952 aufgelöst. Das, was wir seit der Wiedererrichtung der Länder nach der Wende als Sachsen kennen, waren die DDR-Bezirke Leipzig, Dresden und Karl-Marx-Stadt, nunmehr ohne die Kreise Altenburg und Schmölln, die nach Thüringen wechselten, kleinere Gebiete im Vogtland, jedoch mit den Kreisen Hoyerswerda und Weißwasser aus dem Bezirk Cottbus.

Der Anteil dieser drei Bezirke am Nationaleinkommen der DDR war hoch, der des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, heute wieder Chemnitz, am höchsten. Unabhängig von der Konkurrenzfähigkeit der Produkte, die bei weitem nicht so schlecht waren, wie oft herbeigeredet, oder der Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe, die planwirtschaftlich arbeiten mussten und zum Großteil auf den sozialistischen Markt ausgerichtet waren, hatte Sachsen von allen Ost-Ländern die besten Voraussetzungen für den Übergang in die Marktwirtschaft.

„In Chemnitz wird das Geld verdient, in Leipzig vermehrt und in Dresden ausgegeben.“

Was dann kam, war „König Kurt“, Kurt Biedenkopf. Ein älterer Herr, der sich freundlich gerierte, einen weisen Landesvater gab, aber nicht verstand, dass Sachsen mehr war als die Residenz in Dresden. Biedenkopfs unsägliche Leuchtturmpolitik ist verantwortlich dafür, dass in der Fläche Sachsens ein wirtschaftlicher Niedergang stattfand, der unsere tschechischen Nachbarn heute mit dem Kopf schütteln lässt.

Vom Vogtland über das Erzgebirge bis in die südliche Oberlausitz waren die Städte und viele der Dörfer industriell geprägt. Keineswegs nur von der Textilindustrie, die seinerzeit europaweit schrumpfte, sondern auch von Maschinen- und Anlagenbau, Werkzeugbau, Kunststoffverarbeitung, Fahrzeugbau, Konsumgüterindustrie und so weiter und so fort.

Sachsen war schon immer mehr als „fit“

Sächsische Produkte meiner Kindheit und Jugend waren Henri-Bonbons aus Eilenburg, Bautzner Senf, Fit aus Hirschfelde, Kühlschränke aus Scharfenstein, wo auch der erste FKW/FCKW-freie Kühlschrank der Welt entwickelt wurde, Waschmaschinen aus Schwarzenberg, Bestecke aus Aue, Ziphona-Plattenspieler aus Zittau, Lautsprecherboxen aus Geithain, Werkzeugmaschinen von Fritz Heckert in Karl-Marx-Stadt, Krane von Kirow (Takraf) in Leipzig, MZ-Motorräder aus Zschopau, Barkas-Transporter aus Hainichen, der Trabant aus Zwickau, der Robur aus Zittau, Diamant-Fahrräder aus Karl-Marx-Stadt, Mähdrescher aus Singwitz und Bischofswerda, Vero-Spielwaren aus Olbernhau, Spiegelschränke aus Sohland, Möbel aus Hellerau und Rabenau, Halbmond-Teppiche, Erdnussflips oder Kuko-Reis aus Wurzen, Tempo-Linsen aus Auerbach, Streichhölzer oder Nudeln aus Riesa, Praktica-Kameras aus Dresden, Frottana-Handtücher aus Großschönau, Schlafdecken oder Scheuerlappen aus Kirschau, Florena-Kosmetik aus Waldheim, Esda-Strumpfhosen aus Thalheim. Die Aufzählung kann und soll nicht vollständig sein. Kein Ossi kam an diesen Produkten vorbei. Die Masse ist verschwunden, Einiges davon noch da; Ost-Eigentümer gibt es darunter fast keine. Mit jedem Produkt, mit jeder Marke ist ein Stück sächsischer Identität verschwunden, mit jedem Betrieb auch jede Menge hochqualifiziertes Personal.

Die Hochschullandschaft des neu entstandenen Bundeslandes Sachsen war im Vergleich zu anderen ostdeutschen Bundesländern herausragend: unter anderem gab es eine Voll-Universität in Leipzig, Technische Universitäten in Dresden und Karl-Marx-Stadt, die Bergakademie in Freiberg, Technische Hochschulen mit universitärem Status in Leipzig, Zwickau und Zittau, alle wurden zu Fachhochschulen zurückgestuft, die Handelshochschule Leipzig, Ingenieur- und Pädagogische Hochschulen sowie die offensichtlich gar nicht mehr benötigte Deutsche Hochschule für Körperkultur in Leipzig.

Die Sachsen hatten zu Recht Hoffnung, dass die von Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ bei ihnen die üppigsten und vielfältigsten des Ostens sein würden.

Zwar belegt Sachsen unter den ostdeutschen Bundesländern bei vielen Kennzahlen einen Spitzenplatz. Wenn man aber bedenkt, dass in Sachsen, von Berlin abgesehen, die drei größten Städte, somit die drei größten Ballungsräume Ostdeutschlands liegen, relativieren sich diese „Spitzenplätze“ erheblich.

Unter Biedenkopf fand eine beispiellose Deindustrialisierung Sachsens außerhalb der drei Ballungsräume Leipzig, Dresden und Chemnitz statt. Während der Niedergang in der Fläche nur eine Seite der Medaille ist, ist die Standortpolitik für Neuansiedelungen die andere. Hier werden bis zum heutigen Tage die Fehler ebenjener Leuchtturm-Politik sichtbar. Standortbedingungen sind ein enormer Faktor für die Ansiedlung und nachfolgend die Wirtschaftlichkeit von Unternehmen. Es reichte nicht, dass die Kommunen außerhalb der Ballungsräume in Erwartung der blühenden Landschaften in Rekordgeschwindigkeit Gewerbegebiete auswiesen und deren Medienversorgung sicherstellten. Wo auch nach 35 Jahren kein Schnellstraßenanschluss besteht, muss man sich nicht wundern, dass sich heute kein Unternehmen niederlässt und bestehende Unternehmen ihren Standort wieder verlassen.

Der Westen hatte seit 1965 ein vernünftiges Instrument entwickelt, die Gebiete zu fördern, die einst in der Mitte Deutschlands lagen, sich aber nach der deutschen Teilung am Rande der Bundesrepublik befanden: die Zonenrandförderung. Zwar war mit der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ der ganze Osten zum Fördergebiet geworden, zwar wurden später, als das Geld schon knapper wurde, im Osten einzelne Gebiete als besonders förderungswürdig ausgewiesen, da war aber für viele ostdeutsche Unternehmen der Zug längst abgefahren. In allen ostdeutschen Ländern war zu beobachten, dass die Gebiete, die von der alten Bundesrepublik am weitesten entfernt waren, die größten wirtschaftlichen Schwierigkeiten bekamen. Die Kunden saßen schlicht zu weit weg.

Unsäglich auch die Vergabepraxis der Fördermittel selbst. In allen ostdeutschen Ländern mussten und müssen die zu fördernden Investitionen vorfinanziert werden. Erst dann konnte und kann man die Fördergelder ausgezahlt bekommen. Im Unterschied dazu bekommen bayerische Unternehmen ihre LfA-Förderung vor Investitionsbeginn, bis zum heutigen Tag. Welcher ostdeutsche Unternehmer hatte denn so viel Geld, Investitionen vorzufinanzieren? Allein diese Förderpraxis begünstigte die Landnahme durch westdeutsche Investoren.

Als ich, in Jena geboren, mit sieben Jahren mit meinen Eltern in die Nähe von Leipzig zog, war die Sprache das Gewöhnungsbedürftigste, der Rest war ostdeutscher Alltag. Ich bin nach 43 Jahren zwar ganz sicher sächsisch sozialisiert, eine Sächsin bin ich nicht. Am Anfang war ich ohnehin noch zu stolz auf meine Geburtsstadt, als mich sächsisch zu fühlen. Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob es die sächsische Identität wirklich gibt. Um Altenburg herum glaubten sie, Thüringer zu sein, obwohl das Herzogtum früher eineindeutig „Sachsen-Altenburg“ hieß. Außer in den Ballungsgebieten verstanden/verstehen sich die Bewohner als Vuechtländer, Arzgebirger, Äberlausitzer. Ganz arg sind die „Niederschlesier“ zwischen Görlitz, Bad Muskau und Hoyerswerda. Die dichten sich, ähnlich wie die Altenburger, eine Identität herbei, die es nie gab. Zwar wurde besagtes Gebiet nach dem Wiener Vertrag von Sachsen abgetrennt und dem preußischen Regierungsbezirk Liegnitz zugeschlagen, der wiederum zu Niederschlesien gehörte, aber kein Freiburger würde sich als Österreicher bezeichnen, nur weil der größte Teil Badens einst den Habsburgern gehörte. Hier sollte Tino Chrupalla seine Geschichtskenntnisse aufbessern.

Irgendwann war ich angekommen in Sachsen, war das sächsische Idiom zu meinem eigenen geworden. Irgendwann war der Süden der Oberlausitz für mich die Region geworden, in der und für die mein Herz schlug, die Oberlausitzer „Granitschädel“ liebenswerte Nachbarn geworden. Nachbarn allerdings, die wie nirgendwo sonst vom Niedergang gebeutelt sind, für die dieser Niedergang zum kollektiven Trauma geworden ist.

Nirgendwo sonst sind nach der Wende so viele Arbeitsplätze weggefallen wie zwischen Löbau, Neugersdorf und Zittau.

Wohl keine andere Stadt – außer den durch sozialistische Monokultur gewachsenen – steht deutlicher für den Niedergang als Zittau. Zittau, das dem ZDF jüngst eine fünfteilige Serie Wert war, in der leider am eigentlichen Problem vorbei berichtet wurde.

Zittau, wohlhabendste und wehrhafteste Stadt des Oberlausitzer Sechsstädtebundes, erhielt im Mittelalter den Beinamen „die Reiche“. Heute mutet die Verwendung dieser zwei Worte durch das Stadtmarketing wie Hohn an. Der Stadt sieht man die Armut an allen Ecken und Enden an.

Nach dem Krieg betrug die Einwohnerzahl Zittaus circa 47.000. Das waren in etwa so viele wie in Passau, mehr als in Greifswald, Konstanz oder Emden, die alle an Deutschlands Rändern liegen. In Zittau betraf diese Zahl im Unterschied zu den genannten jedoch nur eine einzige Gemarkung, die sogenannte Kernstadt. Mit den baulich unmittelbar angrenzenden Vororten waren es mehr als 61.000 Einwohner, also so viel wie in Cottbus oder Ludwigsburg. Kein Mensch käme heute mehr auf die Idee, Zittau mit Cottbus oder Ludwigsburg zu vergleichen. Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern hat heute mehr als 60.000 Einwohner, Konstanz mehr als 80.000, Cottbus 100.000, Zittaus Kernstadt weniger als 20.000.

Man stelle sich vor, Bayern hätte das am Rande gelegene Passau genau so verrotten lassen, wie Sachsen es mit Zittau macht … Nein, das kann man sich nicht vorstellen.

Zittau hatte bereits vor mehr als 200 Jahren ein eigenes Theatergebäude, baute in der Zeit der Industrialisierung eines der ersten Krematorien und die erste Volksbadeanstalt Deutschlands. Hier stand die größte Weberei Ostdeutschlands, hier wurde der Robur gebaut, hier gab es eine Technische Hochschule mit universitärem Status, an der man promovieren und sich habilitieren konnte, die Energiehochschule der DDR schlechthin. Nach der Wende zur Fachhochschule degradiert, sind derzeit nur noch gut 1.000 Studenten eingeschrieben. Hier gab es eine Offiziershochschule der Landstreitkräfte der DDR und eine Baufachschule. Nach der Wende fielen mehr als 8.000 Arbeitsplätze in der Stadt weg. Noch immer stehen mehrere tausend Wohnungen im Stadtgebiet leer, warten auf ein Wunder oder den Abriss. Inzwischen kaufen zum Glück vermehrt Tschechen Häuser im Stadtgebiet.

Zittaus Lage im Dreiländereck zu Polen und der Tschechischen Republik war dafür verantwortlich, dass sich die arbeitslos gewordene Bevölkerung in drei von vier Quadranten gar keine Arbeit suchen konnte. Im vierten Quadranten lag im Norden das Braunkohlerevier, im Westen der Großraum Dresden, wo alle hinwollten, die in der Nähe nichts mehr fanden. Wer auch im Raum Dresden ohne Erfolg blieb, wanderte ab. Zum Pendeln ist Zittau eindeutig zu weit ab vom Schuss, zumal sich die Verkehrswegesituation auch nach 35 Jahren nicht wirklich verbessert hat. Die neu gebaute B178 ist noch immer nicht in ganzer Länge fertiggestellt, mit der Bahn das Pendeln nahezu unmöglich.

Dabei war Zittau einst ein vorzüglicher Eisenbahnknotenpunkt. Von hier konnte man nach Görlitz, nach Reichenbach (heute Liberec) oder Warnsdorf (heute Varnsdorf), über Bischofswerda nach Dresden, mit der zweigleisigen Hauptbahn über Löbau nach Dresden oder Berlin, mit der Schmalspurbahn ins böhmische Friedland, nach Oybin oder Jonsdorf fahren. Ein repräsentatives Empfangsgebäude sowie ein Bahnbetriebswerk mit stattlichem Ringlokschuppen samt inzwischen eingefallenem Dach zeugen noch von einstiger Größe.

Heute können Diebe ganze Wagenladungen an Pflastersteinen vom Bahngelände wegfahren … Die zwei Gleise Richtung Dresden sind komplett zurückgebaut, die Landeshauptstadt nur noch mit dem Bummelzug zu erreichen.

Apropos Diebe: Nirgendwo ist die Grenzkriminalität so hoch wie hier.

Während einst vergleichbare Städte wie Ansbach, Landshut oder Detmold Sitze von Regierungspräsidien sind, ist Zittau seit 2008 nicht mal mehr Kreisstadt. Arbeiteten bisher mehr als die Hälfte der Beschäftigten des Landratsamtes in Zittau, so baut sich der völlig überschuldete Landkreis auf Kosten des Steuerzahlers in Görlitz ein Landratsamt, zieht somit weitere Arbeitskräfte und Kaufkraft aus der Stadt ab.

Ähnlich die Sparkasse: Nach der Wende längere Zeit so einlagenstark, dass man sich dem sächsischen Sparkassenverbund noch widersetzen konnte, werden nun große Teile der Verwaltung ins „zentraler gelegene“ Görlitz verlegt, die Menschen aber damit beruhigt, dass der Sitz doch in Zittau verbleibe.

Landes- oder gar Bundesbehörden sind in Zittau Fehlanzeige. Welche Stadt wäre prädestinierter für den Sitz der Bundespolizei als die Stadt im Brennpunkt des Geschehens? Die Bundespolizei sitzt in Pirna, das gemeinsame Fahndungszentrum von Landes- und Bundespolizei in Bautzen, weit weg von der Grenze. Zittau, waldreichste Stadt in Sachsen, ist nicht Sitz von „Sachsenforst“, sondern Pirna bei Dresden. Bautzen, bis zur Errichtung der Plattenbausiedlung Gesundbrunnen für die Boxberger Kumpel kleiner als Zittau, ist heute Sitz des Landesamtes für Schule und Bildung, des Sächsischen Oberverwaltungsgerichtes, einer Außenstelle des Landgerichtes, des Arbeitsamtes, der Hochschule der Sächsischen Polizei, der Staatlichen Studienakademie (Berufsakademie) sowie eines Studios des Mitteldeutschen Rundfunks. Daneben haben auch eine Reihe privatwirtschaftlich geführte Personalvermittler und Mietwagenfirmen ihre Niederlassungen in Bautzen.

Zittau? Fehlanzeige! Bloß, wenn nicht mal mehr der Staat seinen Bediensteten zumutet, Dienst am Rande der Republik zu verrichten, dann wird es die Privatwirtschaft bei den jetzigen schlechten Standortbedingungen sicher nicht tun.

Für dieses Jahr ist das Gerhart-Hauptmann-Theater gerettet, aber „man muss weiter sparen“. Irgendwann wird auch das bestimmt Bautzen zugeschlagen. Andersherum geht nichts in der Oberlausitz.

In der Zittauer Innenstadt, eindeutig am Verlauf der ehemaligen Stadtmauer, dem Grünen Ring, zu erkennen, stehen mehr als 250 Ladenlokale leer. Von den bestehenden Geschäften sperren viele schon um 17.30 Uhr zu, weil eh keiner mehr kommt, denn hier sitzt den Leuten der Euro weit weniger locker als anderswo, weil hier die Kaufkraft mit 5.284 Euro (9) im Jahr die niedrigste in ganz Sachsen ist, in München zum Vergleich beträgt sie 33.996 Euro (10).

Da nützt auch das niedrigste Niveau der Kaltmieten nichts. Knapp 29.000 Euro mehr allein für Mieten bezahlen die Münchner dann doch nicht …

Was den Münchnern an Kaufkraft zur Verfügung steht, ist in Zittau nicht mal das Bruttoarbeitsentgelt: 33.336 Euro im Jahr beziehungsweise 2.778 Euro im Monat (11). Wie viele Jahrhunderte soll ein Normalverdiener unter diesen Umständen, wenn er sich nicht gerade von Moosen und Flechten ernährt, sparen, um eine Wärmepumpe und/oder ein E-Auto bezahlen zu können?

Die Kaltmieten sind so niedrig, dass die kommunalen Vermieter davon nicht die allfälligen Instandhaltungen vornehmen können.

Die Kaufkraft ist so niedrig, dass es in der Stadt oder einer der Nachbargemeinden auch nach 35 Jahren kein Fachmarktzentrum gibt, dass mehrere Automarken nicht mehr durch Händler in der Stadt vertreten sind.

Die Kaufkraft ist so niedrig, dass die Menschen zum Teil nach Liberec fahren, weil die dortigen Karten noch unter den im Schnitt nur 30 Euro teuren Theaterkarten des Gerhart-Hauptmann-Theaters liegen.

Normalisiert man die Gehälter um die Tatsache, dass größte Arbeitgeber die allgemein- und berufsbildenden Schulen sind, gefolgt vom Klinikum, der Diakonie, dem Landratsamt, der Arbeiterwohlfahrt, den Stadtwerken, der Hochschule und der Sparkasse (14), dann wird besonders deutlich, wie wenig im gewerblichen Bereich gezahlt wird, wie gering das Gewerbesteueraufkommen dieser einstigen Industriestadt zwangsläufig sein muss.

Hier gilt immer noch das Motto: „Sei froh, dass du überhaupt einen Arbeitsplatz hast!“ Größter gewerblicher Arbeitgeber ist die HAVLAT Präzisionstechnik GmbH mit 245 Mitarbeitern.

Dennoch liegt die Arbeitslosenquote im August 2024 bei 8,60 Prozent (12). Wie hoch läge sie, rechnete man alle in die Statistik ein, die der Stadt den Rücken gekehrt haben? Wie hoch läge sie, wenn nicht 26,2 Prozent der männlichen und 35,8 Prozent der weiblichen Bevölkerung der Stadt Zittau 65 Jahre und älter wären (13), aus der Statistik also herausfallen?

In den nächsten zehn Jahren wird die Bevölkerung weiter schrumpfen, je nach Schätzung um 12 bis 15 Prozent (15).

Wie kann eine Stadt ihrer Bevölkerung allein unter diesen Umständen die vorhandene, die gewohnte Infrastruktur, einst für 60.000 Menschen geschaffen, aufrechterhalten?

Wie kann eine Stadt, die in der Vergangenheit zig Industriebrachen im Stadtgebiet beseitigen, zumindest teilweise Verkehrssicherungspflichten für hunderte unbewohnte Gebäude übernehmen, für Sozialhilfe oder Bürgergeld in überdurchschnittlich hohem Maße aufkommen, in den letzten Jahren zusätzlich für Asylsuchende Gelder bereitstellen musste, lebenswert bleiben?

Die Bahnverbindungen sind sinnbildlich für die Meinung vieler: Der Zug ist abgefahren. Besucher, die Zittau noch als lebendige Stadt kennen, bezeichnen sie als „aufgegeben.“ Daran wird auch keine ZDF-Reportage etwas ändern.

„Macht euern Dreck alleene!“

Dieser Ausruf wird dem letzten sächsischen König, Friedrich August III., anlässlich seiner Abdankung zugeschrieben. Bewiesen ist das nicht. Aber immer mehr Bürger im Freistaat scheinen die Worte verinnerlicht zu haben und wenden sich von den sogenannten etablierten Parteien ab, die bis auf die CDU in Sachsen nie wirklich etabliert waren.

Es ist eine Mischung aus Politikverdrossenheit, Resignation und Wut, die sich in Sachsen Luft macht: bei AfD, bei „Freien Sachsen, dem „III. Weg“ oder der „Heimat“. Selbst wenn insbesondere im Erzgebirge eine Reihe von Städten ähnlich betroffen ist: Die wirtschaftliche Lage Zittaus ist der extreme Ausdruck jahrelanger verfehlter Standortpolitik unter Verantwortung der sächsischen CDU.

Aber nicht allein der Niedergang der Wirtschaft, auch der Niedergang des Spitzensports, vor allem aber das Erstarken der Neofaschisten kennzeichnen 34 Jahre CDU-geführte Politik. Es wäre an der Zeit, dass die sächsische CDU sich den Bürgern im Land gegenüber ehrlich macht und die Verantwortung für 34 Jahre Fehlentwicklung übernimmt.

Es wäre an der Zeit, nicht allein mit salbungsvollen Worten, sondern mit durchdachter Standortpolitik all die Regionen wieder ins Boot holen, die wir heutzutage gern als „ländlichen Raum“ bezeichnen, als sei das die Ursache für das Gefälle zwischen Dresden, Leipzig und dem Rest des Landes.

Es wäre Zeit einzugestehen, dass die demografische Entwicklung nicht schuld an der Misere ist, sondern nur die Folge einer katastrophalen Wirtschaftspolitik. Dann bestünde die berechtigte Chance, dass der sächsische Wähler nicht mehr Protest wählt.

Die Landtagswahl 2024 dürfte die letzte Chance gewesen sein.

P.S. Mit dem Landes-Freilichtmuseum wird das schon noch was. Wenn es so weiter geht, haben wir das größte von ganz Deutschland. Die Rest-Bevölkerung gibt die Statisten. Mit Mittelalterfesten haben die Zittauer lange Erfahrungen.