Glückliche Scharfschützen

Wer im Krieg getötet hat, dem macht diese Tat schwer zu schaffen. Immerhin ist die Klarheit ihrer Schuld für die Täter aber eine Chance auf ehrliche Aufarbeitung.

Es ist seit Jahrhunderten das gleiche Spiel: Menschen werden im Krieg dazu verführt oder gezwungen, zu töten. Die meisten von ihnen reden sich ihre Tat schön, leugnen und verdrängen. Erhebliche psychische Probleme machen ihnen in der Folgezeit aber deutlich, dass man schwere Schuld auf diese Weise nicht wirklich loswird. Viele Kriegsveteranen fassen seelisch und sozial nie mehr wirklich im Leben Tritt. Eine Chance hat nur, wer sich seiner Schuld aufrichtig stellt und sich um Versöhnung mit den Angehörigen der Opfer bemüht. So ähnlich wie Einzelne reagieren auch Kollektive. Nationen, die — wie jetzt Israel — für schlimme Gewalttaten verantwortlich sind, leben wie unter einer dunklen Wolke, werden durch die Schuld niedergedrückt, bis ehrliche Aufarbeitung die Chance auf Heilung bietet. Dabei nennt Charles Eisenstein diejenigen, die selbst getötet haben, noch „glücklich“. Denn im Gegensatz zu den vielen Mitläufern und Zaungästen des Mordens, die eine mörderische Politik unterstützt haben, ihre konkreten Auswirkungen jedoch gut verdrängen können, werden Täter unausweichlich mit ihrer Tat konfrontiert, was immerhin die Chance bietet, sich in einem schmerzhaften Prozess aus ihrem Schatten zu befreien.

In seinem jüngsten, fesselnd geschriebenen Artikel beschreibt der Journalist Chris Hedges die Art von Trauma, das Gewalttäter befällt, die ihre Untaten verdrängen, leugnen, rationalisieren und sich schließlich doch der Wahrheit stellen.

Er beschreibt sehr anschaulich die Erfahrung eines Scharfschützen, der jemandem den Kopf wegschießt — in diesem Fall ein israelischer Scharfschütze, der die Friedensaktivistin Ayşenur Eygi ermordet. Der Scharfschütze ist der Letzte, der sie lebend sieht, und der Erste, der sie tot sieht, in intimer Nahaufnahme durch das Hochleistungszielfernrohr des Gewehrs. Dieses Bild nährt seine Schuldgefühle, es sickert in seine Albträume ein, so sehr er auch versucht, es durch Rationalisierung zu verdrängen oder sich in eine Sucht zu flüchten.

Was einzelnen Gewalttätern widerfährt, widerfährt auch Völkern und Nationen. Sie werden von denselben Leiden heimgesucht: psychische Erkrankungen, Sucht, Angst, Verzweiflung, Selbstmord, häusliche Gewalt.

Auf der Ebene einer Nation sind diejenigen, die unter diesen Bedingungen leiden, jedoch nicht unbedingt diejenigen, die die Gewalt ausüben. Stattdessen ziehen sich die Folgen durch das gesamte Staatswesen.

Die Quelle des Leidens ist nicht leicht zu erkennen. Stell dir vor, der Scharfschütze müsste nie das Gesicht des Menschen sehen, den er töten soll. Stell dir vor, er würde lediglich eine Datei in eine KI-Tötungsdrohne einspeisen. Stell dir vor, es wäre nicht einmal eine Person, die das tut, sondern die Tat wäre über eine ganze Befehlskette verteilt. Vielleicht haben Hunderte anonymer Personen die Zielsoftware geschrieben. Vielleicht wurde diese Software ursprünglich für einen anderen Zweck entwickelt. Diejenigen, die die Tötungsmaschine bauen, wissen vielleicht nicht, dass es sich um eine Tötungsmaschine handelt.

Der moderne imperiale Staat ist eine Tötungsmaschine. Er ist nicht nur eine Tötungsmaschine. Die Zivilisation in all ihren Ausdrucksformen ist vieles, manches davon von erlesener Schönheit. Aber sie ist auch eine Tötungsmaschine.

Nur wenige, die Teil von ihr sind, haben die direkte Erfahrung gemacht, einen Abzug betätigt zu haben und dann zuzusehen, wie ein lebender menschlicher Kopf in rosa Nebel explodiert. Es gibt kein Gesicht, das ihre Albträume (unsere Albträume) heimsucht oder ihre (unsere ... meine) Angst überhaupt erst in Albträume verwandelt.

In gewisser Weise sind die Scharfschützen Glückspilze. Das Gewissen hat einen roten Faden, an dem es die Quelle seiner Qual identifizieren kann. Aber diejenigen, die nur Bürger, Arbeiter, Diener einer mordenden Nation sind, wissen nicht, was sie tun.

Ich versuche hier nicht, ihre Schuld — meine Schuld — an dem Mord, der in ihrem Namen begangen wurde, festzustellen. Ich versuche auch nicht, sie — mich — von der Schuld freizusprechen. Ich möchte lediglich eine Konsequenz aufzeigen: Eine Nation, die Krieg führt, die Waffen baut, um Mörder zu bewaffnen, die Gefangene foltert und Dörfer dem Erdboden gleichmacht, wird in ihrer Bevölkerung ein hohes Maß derselben Zustände erleben, die den pensionierten Scharfschützen plagen. Keine noch so hohen Sozialausgaben, Drogenverbote, öffentliche Bildung oder Überwachung können dies aufhalten.

Für eine solche Nation ist der Weg der Heilung, der Weg der Erlösung, im Wesentlichen derselbe wie für den Scharfschützen. Hedges beschreibt es folgendermaßen:

„Aber das bedeutet ein Leben in Reue. Es bedeutet, dass du dein Verbrechen öffentlich machen musst. Es bedeutet, dass du auf Knien um Vergebung betteln musst. Es bedeutet, dass du dir selbst vergeben musst. Das ist sehr schwer. Es bedeutet, dass du jeden Aspekt deines Lebens darauf ausrichten musst, Leben zu fördern, anstatt es auszulöschen. Das ist deine einzige Hoffnung auf Erlösung. Wenn du sie nicht wahrnimmst, bist du verdammt.“

Was bedeutet das auf der Ebene einer Nation? Die Nation muss sich der Wahrheit über das, was sie getan hat, stellen. Sie muss ihre Rechtfertigungen, Rationalisierungen und falschen Geschichten ablegen.

Sie muss mit Trauer und Entsetzen auf ihre Werke blicken und beschließen, ebenso stark für Frieden und Heilung einzutreten, wie sie sich für Krieg und Zerstörung eingesetzt hat. Dieser letzte Schritt folgt unweigerlich aus dem ersten. Das ist der Schlüssel — Ehrlichkeit. Eine Nation muss hinsichtlich ihrer Geschichte und Gegenwart ehrlich zu sich selbst sein.

Worum geht es bei der Bitte um Vergebung? Es bedeutet nicht, persönliche Schuld für die Verbrechen der Vorfahren zu übernehmen oder sich bei den Nachkommen der Opfer zu entschuldigen. Die meisten von uns haben noch nie den Abzug eines Scharfschützengewehrs betätigt oder einer Person eine Schlinge um den Hals gelegt. Ein riesiges, unpersönliches, alles umfassendes System lässt uns zu Mittätern werden. Vielleicht zahlst du dein Gehalt bei einer Bank ein, die dieses Geld zur Erfüllung ihres Eigenkapitalbedarfs verwendet, um ihr Kreditportfolio zu erweitern, das dann verbrieft und an einen institutionellen Investor verkauft wird, der den Gewinn in einen Fonds investiert, der ein Logistikunternehmen finanziert, das die Lieferketten für die Waffenherstellung koordiniert ... und so weiter, bis zu fünfzig Schritte, die darin münden, dass ein Kind neben seinen toten Eltern in den Trümmern ihrer Wohnung wimmert.

Freunde, wir sind tief in die Maschinerie des Mordens verstrickt. Es ist auch eine Maschinerie der Erniedrigung und des Ökozids und der Auslöschung von Kultur, Gesundheit und des menschlichen Geistes. Nur wenige von uns können ihr Unbehagen auf eine einzige Handlung zurückführen. Wie sollen wir dann Chris Hedges’ Formel zur Erlösung befolgen?

Der Schlüssel liegt darin, zu verstehen, dass persönliche Schuld keine Rolle spielt. Wenn ich mir das Bild von Ayşenur Eygi ansehe, tut sie mir schrecklich leid. Dieses Gefühl hängt nicht an meiner Mittäterschaft bei dem Verbrechen, und auch meine Nicht-Mittäterschaft würde es nicht lindern. Es spielt keine Rolle, ob ihr Tod meine Schuld ist oder ob ich im Unrecht oder im Recht bin. Wie kleinlich doch solche Argumente angesichts des Auslöschens ihres kostbaren Lebens sind. Es tut mir trotzdem leid, weil ich weiß, dass der Scharfschütze, der sie erschossen hat, ein Mensch war, und ich bin ein Mensch. Deshalb hätte dieser Scharfschütze ich sein können, wäre ich in seine Familie, sein Land, seine Umstände hineingeboren worden.

Deshalb ist jeder von uns in der Position, sich für jede Tat zu entschuldigen.

Eine Entschuldigung, die aus einem solchen Wissen heraus erfolgt und in dem Augenblick gefühlt wird, ist eine Bitte um Vergebung. Heutzutage ist eine Entschuldigung zu einem Akt der Unterwürfigkeit verkommen. „Sag, dass es dir leidtut!“, sagen die Eltern. „Es tut mir leid“, murmelt das Kind, das durch dieses Mini-Ritual der Demütigung nun aus dem Schneider ist, egal, welchen Ärger es verursacht hat.

Ebenso wenig, wie eine echte Entschuldigung mit Unterwürfigkeit gleichzusetzen ist, ist Vergebung ein Akt der Nachsicht. Sie ist ein Akt der Demut. Sie erkennt an: Der Täter hätte ich sein können.

Selbstvergebung ist dasselbe, nur umgekehrt: Der Täter hätte jeder sein können. Deshalb führt Selbstvergebung zur Vergebung anderer.

Vergebung bedeutet nicht, das Geschehene zu leugnen. Sie bedeutet nicht, zu vergessen, und sie bedeutet nicht, dass jemand „aus dem Schneider“ ist. Was ist der wahre Grund für die Bitte um Vergebung? Es ist: „Bitte sieh mich. Bitte sieh, dass das Verbrechen nicht meine wahre Natur ist. Bitte sieh mich als jemanden, der sich vom Auslöschen des Lebens zum Pflegen des Lebens gewandelt hat. Es ist wichtig, dass du das in mir siehst, damit es wahr werden kann.“ Wenn man jemandem vergibt, hasst man ihn nicht mehr. Das Bild deines Hasses löst sich auf und du siehst den Menschen dahinter, die Person, die er sein könnte. Die meisten von uns brauchen Hilfe, um den wahren Menschen in sich selbst zu entdecken. Das ist es, was wir suchen, wenn wir um Vergebung bitten.

Die Taten der Reue, der Wiedergutmachung und des Schadensausgleichs, die auf die Vergebung folgen, zeigen die Wahrheit, die Vergebung erkennen lässt.

Ich bin mir nicht sicher, wie es genau aussieht, wenn eine Nation um Vergebung bittet. Ich bin mir nicht sicher, ob das notwendig ist, und es reicht sicherlich nicht aus, dass das Staatsoberhaupt auf die Knie sinkt. Aber der Vorläufer der Bitte um Vergebung muss genau das sein, was Chris Hedges vorschreibt: „dein Verbrechen öffentlich machen“. Mit anderen Worten: Es bedarf der Offenlegung, der Freigabe aller schändlichen Geheimnisse der Nation in die reale Welt. Dann kann sich die Nation vor aller Welt entschuldigen — und im Namen der Welt, denn es sind Menschen, die das getan haben. Dann kann die Nation wieder lebendig werden. Und wenn die verhüllenden Schleier der Lügen und Geheimnisse fallen, finden die Schönheit, Güte und Größe der Nation ihre lang erwartete Erfüllung.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „The Snipers are the Lucky Ones“ auf dem Substack von Charles Eisenstein. Er wurde von Bobby Langer, Ingrid Suprayan und Vanessa Groß übersetzt und korrekturgelesen. Er ist unter einer Creative-Commons-Lizenz (Namensnennung — Nicht kommerziell — Keine Bearbeitungen 3.0 Deutschland) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen darf er verbreitet und vervielfältigt werden.