Gipfel der Ratlosigkeit
Das NATO-Treffen in Vilnius zeigte, dass der Westen seines Erzfeinds einfach nicht Herr werden kann. Globalstrategisch kann Russland derzeit sogar Punkte sammeln.
Die Erwartungen an das Treffen der NATO-Staaten am 11. und 12. Juli dieses Jahres waren hoch. Entsprechend groß war am Ende die Enttäuschung angesichts der dürftigen Ergebnisse. Es gab deutliche Misstöne. Wären die Teilnehmer ehrlich gewesen, hätten sie eingestehen müssen, dass Russland derzeit auf keinem Feld zu schlagen ist. Die Ukraine, deren geplante Offensive gescheitert ist, hält sich zwar noch, ihr Widerstand wäre aber tot, würde er nicht durch westliche Waffen künstlich beatmet. Währenddessen zeigt sich eine große Stärke der russischen Strategie: die Fähigkeit, sich mit den Ländern des Südens gut zu stellen, die von westlicher Arroganz genug haben.
Draußen vor der Tür
Das Bild ging durch die hauptsächlich nicht-westlichen Medien und war bezeichnend für die Situation: Wolodymyr Selenskyj stand verloren in seinem olivfarbenen Kampfdress, rundum stand die feine Gesellschaft des Westens, herausgeputzt in Abendgarderobe (1). Den Ausputzer der regelbasierten Ordnung beachtete niemand. Auf dem Gruppenbild mit Damen für das NATO-Familienalbum (2) war er nicht zu finden, nicht einmal am Rand.
War das schon ein Abgesang auf seine Rolle, die er und sein Land bisher im Interesse dieses Westens und seiner besseren Gesellschaft gespielt hatten? Tuschelte man vielleicht sogar schon hinter vorgehaltener Hand, wie man das Schmuddelkind durch jemand anderes ersetzen könnte, der vorzeigbarer war – besonders gegenüber den Russen? Jedenfalls schien Selenskyj nicht willkommen. Wen wundert's, hatte er sich doch aufgedrängt und mehr oder weniger selbst eingeladen.
Er soll für sie die Kohlen aus dem Feuer holen, aber dazugehören darf er nicht. Er ist der Mann fürs Grobe, den man fallen lässt, wenn er nicht mehr gebraucht oder zur Belastung wird.
Und Selenskyj wird allmählich zum Problem. Seine Offensive, für die der Westen erhebliche finanzielle und militärische Mittel bereitgestellt hatte, erfüllt bei weitem nicht die in sie gestellten Erwartungen und mit seiner Forderung nach Wiederherstellung des ukrainischen Territoriums in den Grenzen von 1991 erschwert er Verhandlungen mit Russland.
Am Ende konnten dann doch Erfolge vorgewiesen werden. Die Türkei hat dem NATO-Beitritt Schwedens zugestimmt und ein NATO-Ukraine-Rat wurde ins Leben gerufen, der zu schnelleren und genaueren Entscheidungen führen soll. Aber letztlich ist er nur ein weiteres Trostpflaster, das die schwärende Wunde der mangelnden Unterstützung durch NATO-Truppen nicht heilt. Auch dieser Rat kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gegenoffensive in der Ukraine nicht vorankommt und der Westen den Konflikt mit angezogener Handbremse fährt.
Denn nicht einmal die Meuterei der Wagner-Gruppe hatten die Ukraine und der Westen zu nutzen gewusst, nicht zuletzt weil die USA umgehend den Russen beteuerten, nichts mit diesem Putsch zu tun zu haben. Sie hatten keine Anstalten gemacht, diese Schwäche Russlands zum Vorteil der Ukraine zu nutzen. So gehen Russland und Putin gestärkt aus dieser Krise hervor (3).
Auf verlorenem Posten
Schon vor dem Treffen in Vilnius hatten die USA und andere bedeutende NATO-Staaten deutlich gemacht, dass für sie eine Aufnahme der Ukraine in das Bündnis wegen der daraus entstehenden Beistandsverpflichtung derzeit nicht in Frage kommt. Die Amerikaner scheuen die Auseinandersetzung mit Russland wie der Teufel das Weihwasser, wissen sie doch, dass sie diesen immer weniger entgegenzusetzen haben.
Für sie steht China ganz oben auf der Tagesordnung. Vermutlich bereut man in Washington inzwischen, in diesen Konflikt mit Russland überhaupt so tief eingestiegen zu sein. Es ist nicht auszuschließen, dass man in westlicher Überheblichkeit der eigenen Propaganda geglaubt und mit einer stärkeren Wirkung der Sanktionen sowie einem schnellen Sieg über Russland gerechnet hatte.
Bei den militärischen Fachleuten in den USA scheint sich nun aber immer mehr die Erkenntnis durchzusetzen, dass die NATO in einem konventionellen Krieg gegen Russland nicht bestehen kann. Und die Amerikaner wollen sich schon gar nicht ein atomares Duell mit den Russen liefern.
Insofern wurden Selenskyjs Hoffnungen auf eine wirksamere Unterstützung durch die NATO enttäuscht. Keine NATO-Truppen werden ihm zu Hilfe kommen. Man hat zwar weitere Militärhilfen zugesagt, aber nichts, was die Schwelle zum Atomkrieg überschreiten könnte.
Entweder hatte Selenskyj die Kräfteverhältnisse innerhalb der NATO falsch eingeschätzt oder aber seine Lage ist mittlerweile so verzweifelt, dass sich seine Verbitterung in heftiger Kritik an der Unschlüssigkeit und Schwäche entlud, die er im Verhalten der NATO sieht. Doch wurde er bald wieder kleinlaut, als man ihn auf die bisherige finanzielle und militärische Unterstützung durch den Westen hinwies und ihm damit auch seine Abhängigkeit vor Augen führte. Denn ohne westliche Waffenlieferungen ist der Krieg in wenigen Tagen beendet.
Diese Unnachgiebigkeit gegenüber Selenskyjs Forderungen macht aber auch die Nervosität deutlich, die sich im Westen immer mehr ausbreitet. Der Krieg will nicht enden und verschlingt gewaltige Summen, die Ukraine kommt mit ihrer Gegenoffensive nicht voran, die Waffenarsenale der NATO leeren sich und die westlichen Sanktionen zeigen sich nicht nur immer stumpfer, sondern schlagen auch gegen die eigenen Wirtschaften zurück. Außer weiteren Waffenlieferungen ist kein strategischer Lichtblick zu erkennen, der das Blatt wenden könnte. Und Russland will partout nicht zerbrechen oder zumindest kapitulieren.
Fußball-Weisheiten
Nicht genug damit, dass der Westen keine Ideen hat, wie er das Kriegsgeschick wenden kann, die Russen scheinen an diesem Krieg sogar zu wachsen trotz aller scheinbaren Auseinandersetzungen in der militärischen Führung. Die Wirksamkeit ihrer Waffen steigt. Das zeigt sich im Einsatz ihrer Artillerie, aber auch in der vermehrten Produktion und Verwendung von Drohnen für Aufklärung und Angriff.
Zudem erweitert die russische Armee ihre taktischen und strategischen Fähigkeiten in diesem Krieg mit einem nahezu ebenbürtigen Gegner. Solche Erfahrungen konnten weder die NATO noch einer ihrer Vertrags-Staaten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs machen. Deren Armeen dürften nicht nur in ihrer Bewaffnung sondern auch in ihrer Kampferfahrung der russischen auf absehbare Zeit nicht gewachsen sein.
Nachdem die ukrainische Gegenoffensive weitgehend zum Stillstand gekommen ist, scheinen die Russen nun ihre Gegen-Gegen-Offensive zu starten. Dabei nutzt man wie beim Fußball den scheinbaren Heimvorteil der Ukrainer. Von denen wird als Heimmannschaft offensives Vorgehen erwartet, denn sie wollen ja erklärtermaßen die Russen aus dem Donbass vertreiben.
Diese verstärkten aber ihre Abwehr und ließen den Gegner kommen, der sich an dieser Abwehr unter gewaltigen Verlusten aufreibt, was selbst die westlichen Medien mittlerweile zugeben müssen. Die neuesten Meldungen aus dem Kriegsgebiet deuten nun darauf hin, dass die Russen mit massiven Gegenschlägen kontern, jetzt wo die ukrainische Armee durch den Aderlass an der Kontaktlinie sich immer mehr erschöpft.
Die ukrainischen Drohnenangriffe auf russisches Hinterland wie der Anschlag auf die Krimbrücke erscheinen in diesem Zusammenhang als der verzweifelte Versuch, den Bären durch Nadelstiche zu erlegen.
Man nutzt die wenigen militärtechnischen Möglichkeiten, die man noch hat, ohne jedoch große strategische Vorteile zu erzielen. Und ganz egal, wie die Russen darauf antworten, die NATO riskiert keinen Krieg mit Russland. Sie befindet sich selbst immer mehr in der Defensive.
Solche Provokationen und der Misserfolg der ukrainischen Offensive befördern im Westen vielmehr die Diskussionen über eine Alternative zu Selenskyj. Wird er immer mehr zum Hemmschuh für eine Einigung mit Russland? Zwar verspricht er seinen Geldgebern und Waffenlieferanten, die Offensive voranzutreiben und bald Erfolge zu liefern, allein der Glaube daran scheint im Westen zu schwinden. Wer weiß, wie viel Zeit ihm noch bleibt?
Strategische Offensive
Nicht zu übersehen ist, dass die Russen nach dem sich andeutenden Scheitern der ukrainischen Offensive den Druck erhöhen. Immer häufiger wird in der russischen Öffentlichkeit der Einsatz von Atomwaffen gegen den Westen gefordert, was die russische Regierung jedoch immer wieder ablehnt. Dennoch scheint sich darin ein Stimmungswechsel in der russischen Öffentlichkeit zu zeigen: Man hat keine Angst mehr vor dem Westen und seiner NATO.
Auch der Forderung nach Vergeltungsschlägen wegen des Anschlags auf die Krimbrücke gibt die russische Regierung nicht nach. Sie lässt sich nicht zu emotionalen Reaktionen hinreißen, was bedeuten würde, dass die ukrainische Führung durch ihre Handlungen Einfluss auf russische Entscheidungen hätte. Russland verfolgt seine eigene Agenda nach den eigenen strategischen Überlegungen und entscheidet danach den Einsatz seiner Mittel.
Dazu gehört die Kündigung des Getreideabkommens. Damit schlägt Russland mehrere Fliegen mit einer Klappe. Hat man bisher die ukrainischen Häfen verschont, um die Getreideverschiffung zu ermöglichen, so scheinen sie nun das bevorzugte Angriffsziel der russischen Streitkräfte zu sein. Laut Angaben des Kreml war das Getreideabkommen auch zur Lieferung von Waffen und sonstigem Kriegsmaterial missbraucht worden, dem man nun einen Riegel vorschieben will.
Nach russischer Darstellung war das Abkommen einerseits geschlossen und bisher verlängert worden in der Hoffnung, dass auch die russischen Forderungen erfüllt werden. Es ist aber nicht zu erwarten, dass man im Kreml so naiv war, daran zu glauben, der Westen würde russische Interessen respektieren. Die Ereignisse der Vergangenheit haben Russland sicherlich eines Besseren belehrt.
Vielmehr dürfte die Versorgungssicherheit der ärmeren Länder im Vordergrund gestanden haben, wie Russland des Öfteren erklärt hatte. Man wollte Hungerkatastrophen durch den Anstieg der Getreidepreise vermeiden. Das kann man glauben oder nicht. Jedenfalls hatte Russland mehrmals angekündigt, den ärmeren Ländern Getreide zu schenken und bisher haben westliche Medien diese Ankündigungen nicht Lügen gestraft, was sie sich sicherlich nicht hätten entgehen lassen.
Das soll laut Zusicherungen aus Moskau auch nach der Kündigung des Abkommens so bleiben.
Denn der globale Süden spielt in der Politik Russlands eine bedeutendere Rolle als in der westlichen, weshalb man dort keinen Kredit durch unerfüllte Zusagen verspielen will. Die reichen Länder des Westens, die hauptsächlich von der Vereinbarung profitiert hatten, sollen nun die höheren Getreide-Rechnungen zahlen.
Bisher sind die Preise an den Börsen nur moderat gestiegen, aber sie steigen. Russland erhöht jedoch durch das Ausbleiben der ukrainischen Lieferungen seinen Anteil am globalen Getreidemarkt auf zukünftig 22 Prozent. Die Gewinne aus Getreide ersetzen damit Einbußen an den Energiemärkten. Aber auch die Obergrenzen für russisches Öl sind unlängst gefallen.
Offensichtlich kann der Westen Russland weder militärisch noch wirtschaftlich in die Knie zwingen. Im Gegenteil: Russland scheint allmählich Oberwasser zu bekommen, zumindest was die Auswirkungen seiner strategischen Entscheidungen angeht. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Westens dagegen nehmen zu.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.blick.ch/ausland/leere-nato-versprechen-fuehren-zu-wutausbruechen-selenski-beisst-die-hand-die-ihn-fuettert-id18743237.html
(2) https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f3/Family_photo_from_2023_NATO_Vilnius_summit_(53038388599).jpg
(3) https://ruedigerraulsblog.wordpress.com/2023/06/28/wagner-konflikt-starkt-russland/