Gesunder Selbstschutz
Politikverdrossenheit ist per se keine negative Eigenschaft; oft beruht sie auf Klarsicht und Sensibilität.
Politikverdrossenheit wird häufig mit Ignoranz und Desinteresse gleichgesetzt. Dabei sind die Ursachen und Gründe für mangelndes Interesse an der Politik oder gar die Scheu davor häufig ganz anderer Natur und lassen die Betroffenen in einem völlig anderen Licht erscheinen. Viele der politisierten Menschen sind nämlich in einer ganz anderen Hinsicht verdrossen.
„Kümmerst du dich nicht um die Politik, kümmert sich die Politik um dich!“, lautet ein bekanntes Sprichwort. Und in der Tat führt die Passivität der Bürger zur uneingeschränkten Durchsetzung politischer Maßnahmen, die nicht unbedingt im bürgerlichen Interesse liegen. Und obwohl wir in einer Zeit der massenhaften Repolitisierung leben, in Zeiten der Gelbwesten, den landesübergreifenden Protesten gegen Uploadfilter und die erstarkende „By 2020 we rise up“-Bewegung, ist der Anteil derjenigen nach wie vor groß, die die derzeitigen politischen Entwicklungen nicht oder kaum zur Kenntnis nehmen.
Da kommt es schon mal vor, dass manche Freunde und Bekannte äußern, sie hätten beispielsweise von den Gelbwesten-Protesten gar nichts mitbekommen, obwohl diese schon seit Monaten laufen. Da fassen sich politisierte Menschen schon mal an den Kopf, fassungslos darüber, wie man denn so weit hinterm Mond und noch weiter weg wohnen kann, dass man von den bürgerkriegsähnlichen Zuständen im Nachbarland nichts gehört oder gelesen hat.
Es bringt aber letzten Endes gar nichts, sich wutschnaubend darüber auszulassen, dass jemand „uninformiert“ ist oder nicht an denselben Demonstrationen wie man selbst teilnimmt. Stattdessen lohnt sich der Versuch, sich in diese Person hineinzuversetzen, um zu verstehen, warum die Weltpolitik diese Menschen scheinbar kalt lässt. Dieser Versuch führt zuweilen zu erstaunlichen Erkenntnissen.
„Die Wahrheit ist uns nicht mehr zumutbar“
So titelt der Öko-Thriller-Autor Dirk C. Fleck. Damit hat er allerdings nicht ganz recht, denn einigen, so scheint‘s, ist die Wahrheit eben schon zumutbar. Sehr viele, gerade aus der Truther-Szene, wühlen sich regelrecht durch den Morast aus negativen Nachrichten, Katastrophen und Elend. Das geht natürlich nicht ohne emotionale Schutzkleidung. Wer sich täglich und stundenlang mit dem sekündlichen Tod von verhungernden Kindern, Fehlgeburten durch Uranmunition und der immer weiter voranschreitenden Totalüberwachung beschäftigt, braucht und entwickelt eine sehr starke Resilienz — also die Fähigkeit, sich mit besorgniserregenden Inhalten zu beschäftigen, ohne persönlichen, psychischen Schaden davonzutragen.
Und genau über diese Fähigkeit zur Resilienz verfügen, so glaube ich, viele derjenigen nicht, die gerne voreilig als politikverdrossen bezeichnet werden. Sie können solche Schrecken nicht auf Dauer nüchtern betrachten oder analysieren, ohne daran kaputt zu gehen. Hier stellt sich nun die Frage: Wer ist wirklich verdrossen? Diejenigen, die sich ständig informieren und die Informationen aber schon gar nicht mehr fühlen können, oder jene, die sich kaum informieren, weil sie die Information zu stark fühlen?
Es ist zu abstrakt
Ein weiterer Grund für das Handtuchwerfen angesichts der Politik ist die Abstraktion und die Entfernung des Politischen. Wer sich für Politik und die finsteren Machenschaften im Hintergrund interessiert, blickt meist weit in die Ferne, in fremde Länder, in rohstoffreiche Gebiete oder in die Abgründe tiefer Staaten. Dabei laufen wir Gefahr, unser direktes Umfeld zu vergessen. Umgekehrt lässt sich — meiner persönlichen Beobachtung zufolge — eine Korrelation zwischen der „Politikverdrossenheit“ einer Person und einem regen Interesse an dem Wohlbefinden seines direkten Umfeldes erkennen. Die Mehrzahl interessiert sich für ihre Nächsten, um die Menschen um sie herum, weniger für das Wohlergehen der zehntausend Kilometer entfernten venezolanischen Regierung, die gerade weggeputscht werden soll.
Manch einer kennt vermutlich diese Situation: Man sitzt am Rechner und informiert sich auf mehreren Seiten und mit aufgeschlagenen Büchern über irgendwelche Schweinereien elitärer Kreise, da blinkt das Handy auf: „Hey, wie geht‘s? :)“, fragt ein „Politikverdrossener“ über einen Nachrichtendienst.
Viele derjenigen, die man voreilig als „politikverdrossen“ bezeichnet oder gar beschimpft, wissen nicht, mit welchen fiesen Tricks einschlägige Medien und Spin-Doktoren die Masse manipulieren, denken bei dem Begriff „false flag“ vielleicht an den Verwechslungsfehler eines schusseligen Praktikanten im Landtag, der vor dem Regierungsgebäude aus Versehen die falsche Flagge hisst. Doch viele von ihnen eint eine entscheidende Eigenschaft: Sie haben das Herz am richtigen Fleck.
Hingegen schlägt das Herz vieler Politiker, die sich programmatisch der Gerechtigkeit und dem Sozialen verschrieben haben, nur für Posten, Prestige und Diäten. So manchen Politiker der Linken könnte man wohl morgens um halb 4 aus dem Schlaf klingeln und erfolgreich fragen, zu welchen Schlussfolgerungen Karl Marx auf Seite 342 des Kapitals gekommen ist. Zahlreiche linke und sozialdemokratische Politiker haben vielleicht das Thema rund um Gerechtigkeit und Soziales verstanden — mit Betonung auf Verstand, aber wirklich fühlen können sie das nicht mehr. Sie leben fernab der Bevölkerung in den Filterblasen ihrer Regierungsgebäude, ihren Parteibüros und schicken Cafés in Yuppie-Vierteln, und lamentieren dann über die Politikverdrossenheit der Wähler.
Und ist es nicht allzu verständlich, dass sich viele von der Politik abwenden, wenn sie erleben, wie die Menschen innerhalb der Parteien miteinander umgehen? Besonders deutlich zu sehen ist das in der Links-Partei hierzulande, oder bei Labour in Großbritannien. Bei all den Lügen, Intrigen, Betrügereien, dem Mobbing und Gerangel um Posten! Wer möchte da noch einer Partei beitreten? Gerade, wer noch etwas näher am Wasser gebaut ist und sich nicht schon emotional in der Wüste des Verstandes befindet.
Und wer kann schon großartiges Interesse für Politik aufbringen, wenn Wahlversprechen just mit dem Einwurf des Stimmzettels verpuffen? Oder beispielsweise der Schulz-Zug entgegen aller Versprechen rückwärts und damit zurück auf das Abstellgleis der Großen Koalition fährt? Schlussfolgernd lässt sich sagen: Die Scheu und die Distanz dieser Menschen zu politischen Themen ist oftmals nicht durch eine intellektuelle Hürde, sondern vielmehr durch eine emotionale Hürde bedingt.
Wechselseitiges Lernen
Und nun? Die vorgebrachten Argumente sollen keine Absolution für Politikverdrossenheit sein. Natürlich gibt es auch die vollumfänglich Desinteressierten, die sich weder für Politik, noch für die Belange ihrer Mitmenschen interessieren. Aber wie gelingt Aufklärung und Widerstand zusammen mit den oben beschriebenen, empfindsamen Menschen? Deren Fähigkeit zur Empathie ist eine unentbehrliche Eigenschaft für eine lebenswerte Zukunft.
Aber ohne ein intellektuelles Immunsystem gegen propagandistische Eindringlinge geht es eben auch nicht. Gerade die Menschen, die die Welt sehr emotional wahrnehmen, sind besonders anfällig für Propaganda-Lügen und Manipulationen, die oftmals auf eine Schock-Wirkung abzielen. Ein prominentes Beispiel — und ein guter Einstieg in das Feld der großen politischen Lügen — ist die sogenannte Brutkastenlüge (1), die den Beginn des Irak-Krieges befeuerte.
Der emotional abgestumpfte Truther riecht natürlich sofort den Braten, wenn er eine Lüge für einen Kriegseintritt à la Brutkastenlüge oder „Giftgasangriff“ hört, während die Reflexion beim sehr empathischen Menschen schon komplett aussetzt und er nur noch sehen will, dass diesen Barbaren (gerade wenn sie angeblich Kinder getötet haben) augenblicklich mit allen militärischen Mitteln das Handwerk gelegt wird. Über genau diesen Mechanismus hat die Brutkastenlüge so perfekt funktioniert (1).
Zukünftig lässt sich nur Abhilfe schaffen, wenn „Truther“ und „Verdrossene“ miteinander ins Gespräch kommen. Das heißt, dass man als gut informierter Zeitgenosse mit Freunden und Verwandten spricht, sollte es mal wieder zu einer Kriegslüge von diesem Schlag kommen. Und zwar respektvoll und nicht belehrend. Viele bisherige, vorgebliche Kriegseintrittsgründe — von der Bucht von Tonkin über die Brutkastenlüge, die Massenvernichtungswaffen im Irak bis zu den vorschnellen Giftgas-Beschuldigungen Assads — sind gut mit Fakten dokumentiert. Und meist sind diese Lügen auch so banal und simpel, dass man kein Politologe sein muss, um sie zu durchschauen. Die Brutkastenlüge zum Beispiel lässt sich ganz simpel vermitteln:
Der Irak verfügt über große Ölvorkommen, von denen die USA abhängig sind. Um dort einzumarschieren, benötigten die USA jedoch einen Grund, der den Einmarsch vor der Bevölkerung rechtfertigt. Daraufhin hat eine PR-Agentur die Tochter eines kuwaitischen Botschafters angeheuert, die daraufhin die Welt vor laufender Kamera anlog und behauptete, irakische Soldaten wären in ein kuwaitisches Krankenhaus eingedrungen, hätten Babys aus ihren Brustkästen gerissen, auf den Boden geworfen und somit getötet. So hat man den zunächst kriegskritischen US-Senat sowie die westliche Bevölkerung in Entsetzen und Zorn versetzt, sodass diese einem Eintritt der USA in den 2. Golfkrieg zustimmten.
Professor Rainer Mausfeld bringt es in einem Interview sehr gut auf den Punkt, wenn er sinngemäß sagt, die Menschen würden meist das Falsche denken, aber das Richtige fühlen. Auch Dr. Daniele Ganser schlägt in seinen Vorträgen immer wunderbar den Bogen vom Denken zum Fühlen. Anstatt seine Vorträge allein auf das Vermitteln von Wissen und Fakten zu reduzieren, hält er seine Zuhörer auch immer dazu an, die empathische, emotionale Komponente nicht zu vernachlässigen und sich in Achtsamkeit zu üben.
Politikverdrossenheit mag durchaus ein Problem der heutigen Zeit sein. Gleichzeitig herrscht unter den (dogmatisch) Politisierten häufig — wenn auch nicht immer — ein ganz anderes Problem: Gefühllosigkeit — oder besser noch, Gefühlsverdrossenheit. Um beides zu überwinden, lohnt es sich, miteinander zu sprechen.
Quellen:
(1) https://www.medienverantwortung.de/wp-content/uploads/2009/07/Wernicke_Forschungsarbeit-Feindschaft.pdf, S.30-31