Gesichert totalitär
In seinem „Kritischen Wörterbuch“ dechiffriert Rudolph Bauer die Sprache eines neuen Faschismus.
Sprache und Schrift bringen Gedanken und Gefühle zum Ausdruck. Aus Worten geformte Sätze können schmeicheln oder auch verletzen. Geht es um den Gebrauch und den Sinngehalt von Begriffen, wird die Kommunikation zu einer scharfen Klinge. Das gilt für den privaten Bereich genauso wie für die Bühne der Politik, wo der Zweck längst die Mittel heiligt. Es wird geschimpft, beleidigt, übertrieben und oft genug gelogen, dass sich die Balken biegen. Schlimm ist es, wenn Aussagen nichts mehr mit den konkreten Handlungen zu tun haben. Verstecken sich in und hinter den benutzten Begriffen totalitäre Absichten, wird es für die Gesellschaft brandgefährlich. Im Juni dieses Jahres veröffentlichte der Bremer Künstler Rudolph Bauer im pad-Verlag sein „Kritisches Wörterbuch des Bunten Totalitarismus, Heft 1: A bis H“. In ihm dechiffriert er die Sprache eines neuen Faschismus, der sich Labels wie Gerechtigkeit und Freiheit an die demokratische Tarnjacke geklebt hat. Jetzt ist Heft 2 erschienen.
Das Arsenal der sprachlichen und inhaltlichen Verdrehungen, deren Anwendung im öffentlichen und politischen Raum längst erprobte Routine ist, hält Überraschungen bereit, die Bauer in seinem Nachschlagewerk akribisch entschlüsselt. Ein Beispiel soll als Orientierung genügen.
Individualisierung
Auf 100 Seiten analysiert Bauer von I bis N die aus den Reihen der situierten politischen Milieus ausgespuckten und nicht nur von urbanen, woken und bürgerlichen Subkulturen rezipierten Begrifflichkeiten und PR-Formeln, mit deren Hilfe beispielsweise Krieg als Weg zum Frieden verklärt wird oder das Sterben von Abertausenden im Bomben- und Kugelhagel als Mittel, um Leben vor dem Tod durch Terroranschläge zu retten.
Ein augenscheinlich harmloser Begriff wie Individualisierung beziehungsweise Individualismus, dem Rudolph Bauer in seinem Wörterbuch acht Zeilen und Querverweise zu Einsamkeit, Lebensstil und Identitätspolitik widmet, enthält ein sozialpolitisch brisantes Potenzial:
„Gegenbegriff zu Kollektivierung/Kollektivismus. Von vergleichbarer Relevanz wie Biologisierung; während letzterer Begriff den Menschen eindimensional auf seine biologische Beschaffenheit reduziert, bekräftigt die Betonung des Individualismus die Entfremdung von der Gesellschaft und die Atomisierung in der Gesellschaft. Gemeinsamkeiten werden ausgeblendet, Selbstoptimierung wird zum (selbst)auferlegten Zwang, gesellschaftliche Unterschiede erscheinen naturgegeben.“
Folgt man der gelegten Spur zur Identitätspolitik, zeichnet sich langsam das Bild eines gesellschaftlichen Umbaus ab, der im Zusammenhang mit der im Jahr 2007 in den USA einsetzenden Banken- und Immobilienkrise zu sehen ist, die sich zu einer globalen Finanzkrise ausweitete. Als Reaktion „hat der Staat die Politik des sozialen Ausgleichs zugunsten der Förderung von symbolischer Identitätspolitik aufgegeben“.
Diese Identitätspolitik sei eine verklausulierte „Politik der Privilegierung einer je spezifischen Gruppe von Menschen, die eine partikulare kulturelle, ethnische, religiöse, soziale oder sexuelle Besonderheit (Identität) aufweisen, welche sich zumeist auch als ein spezifischer Lebensstil äußert“. Erklärtes politisches Ziel sei es, „den Angehörigen dieser Gruppen pauschal ein höheres Maß an gesellschaftlicher Anerkennung, die Verbesserung ihrer sozialen Position und die Stärkung ihres politischen Einflusses zuteilwerden zu lassen“. Weiter heißt es:
„Wenn dabei die milieuspezifischen Präferenzen ökonomisch Bessergestellter in besonderer Weise berücksichtigt werden, entspricht diese Art von Identitätspolitik dem Machtprinzip des ‚Teile und herrsche‘.“
Die politische Konsequenz lässt sich aus diesen Erklärungen leicht herleiten, sofern sie noch nicht als Offensichtlichkeit wahrgenommen wurde: Innerhalb der Demokratie gewinnt die Herrschaft der Minderheit über die Mehrheit an Gestalt — also die Tyrannei.
Eine Barrikade
Imperialismus, Faschismus, Nationalsozialismus, zwei Weltkriege und industrieller Massenmord haben Europa ethisch, spirituell und sozial nachhaltig beschädigt. Der intellektuelle Aderlass im 20. Jahrhundert ist derartig massiv ausgefallen, dass er kaum zu kompensieren war. In der abstrakten Gegenwart droht dem Verständnishorizont für politische, ökonomische und soziale Zusammenhänge die Nivellierung auf eine Nulllinie.
Der entfesselte Neoliberalismus, den sich ein Großteil der vormals antiimperialistischen und antikapitalistischen Subkulturen seit den 1980er-Jahren als Lebenssinn einverleibten und der selbst die ihm feindlich gesinnten Weltanschauungen von Revolutionären wie Wladimir Lenin oder Che Guevarra neutralisierte, indem er ihre Manifeste, Ideen und Gesichter in käufliche Ware verwandelte, vollendet als globale Diktatur des Profits im 21. Jahrhundert und in einer ersten Hochphase der vierten industriellen Revolution das Gesamtkunstwerk durch die Zerstörung des kritischen Denkens.
Die sprachliche und zunehmend auch gedankliche Gleichschaltung der Bevölkerung manifestiert sich im Konzentrat der sogenannten Eliten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Medien, die trotz angeblicher Vielfalt und politischer Unterschiedlichkeiten als Einheitsfront auftreten.
Verpackt als Expertokratie, die selten ohne Widerspruch im Ausspruch auskommt, aber mit viel Konjunktiv daher, trachtet sie danach, durch propagandistische Vereinfachung komplexer Zusammenhänge, der Akzentuierung von Randaspekten und durch die Überhöhung von kleinsten Fragmenten, jede tiefere Auseinandersetzung mit den geopolitischen und innerstaatlichen Entwicklungen einzuschläfern. Keywords übertönen Argumente, Parolen erdolchen den Diskurs und Diffamierungen den Widerspruch.
Ahnungslosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber den Konsequenzen, die sich aus dem Handeln des herrschenden Regimes ergeben, als politisches Niveau in der Bevölkerung zu kultivieren, um bei der Gestaltung einer neuen Totalität freie Hand zu haben, ist als strategisches Ziel unverzichtbar. In den Köpfen die grundsätzliche Offenheit zur Auseinandersetzung mit kontroversen Positionen durch eine radikale Ablehnung jedes begründeten Einwands zu ersetzen und damit zum Kampf gegen die politische Lebendigkeit anzustiften, ist das taktische Element. Rudolph Bauers „Kritisches Wörterbuch des Bunten Totalitarismus“ ist insofern eine Goldgrube, als sich in ihm unerforschtes Terrain erkunden lässt und Vergessenes erinnert werden kann.
Seine Erklärungen der politischen Stichwörter sind auf der anderen Seite als notwendige Sprachkritik anzusehen, die den Aufbau geistiger Barrikaden erleichtert, um dem Sturmangriff der Totalität auf Verstand und Menschlichkeit standzuhalten. Dass Bauer seinen ersten beiden Heften noch weitere folgen lassen wird, liegt auf der Hand. Das Alphabet endet schließlich erst bei Z wie „Zeit zum Widerstand“.
Informationen zum Buch
Titel: Kritisches Wörterbuch des Bunten Totalitarismus, Heft 2: I bis N
Schriftenreihe des Forum Gesellschaft und Politik e. V.
Autor: Rudolph Bauer
Redaktion: Peter Rath-Sangkhakorn
Sprache: Deutsch
Seiten: 100
Erscheinung: September 2024
Verlag: pad-Verlag
Bestellung: www.pad-verlag.de (pad-verlag@gmx.net)
Preis: 7,-- Euro
ISBN: 978-3-88515-370-2
Das Buch kann beim Pad-Verlag bestellt werden.