Gesellschaft der Selbstgerechten
Die Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen, verhindert vor allem eines: Gerechtigkeit.
Ungerechtigkeit gilt als eine der tiefsten Wunden, die Menschen einander zufügen können. Neben Verletzungen wie Zurückweisung, Verlassen, Demütigung oder Verrat ist die Ungerechtigkeit immer wieder Anlass, uns gegeneinander aufzulehnen. Wo sie geschürt wird, finden wir keinen Frieden. Immer wieder ziehen wir erneut in den Krieg, um vergangenes mit neuem Unrecht zu vergelten. So sind wir im Laufe der Zeit nicht gerechter geworden, sondern vor allem selbstgerecht. Mehr denn je versperren wir uns heute den Weg in eine ausgewogene Gesellschaft, in der alle ihren Platz haben.
Selbstgerechtigkeit, der Stolz auf die — vermeintlich — eigene moralische und sittliche Untadelbarkeit, gilt als typischer Charakterzug narzisstischer Persönlichkeiten: Menschen, die Fehler stets bei anderen und nicht bei sich selbst suchen und die nicht oder wenig dazu in der Lage sind, sich in andere hineinzuversetzen. Wie der Bigotte fordert der Selbstgerechte die Einhaltung bestimmter Regeln nur von anderen. Im ständigen Vergleich kommen selbstgerechte Menschen immer wieder zu der Überzeugung, dass sie selbst die Sitten strenger einhalten als andere und daher moralisch besser dastehen.
Komme, was wolle: Der Selbstgerechte hat letztlich immer recht. Er macht es richtig. Er hat den Impfpass in Ordnung, umgibt sich nur mit den staatlich zulässigen Personen und fährt E-Auto oder Lastenfahrrad. Er ist für verordnete Vielfalt und grüßt die richtige Fahne. Der Selbstgerechte weiß Bescheid. Er kennt sich aus. Nichts kann ihn von der Überzeugung abbringen, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben.
Der Selbstgerechte ist sich sicher: Er folgt dem richtigen Gott, der richtigen Ideologie, der richtigen Partei. So macht er sich unantastbar. Unerreichbar. Stets positioniert er sich über den Dingen. Sein ideologischer Panzer schützt ihn vor jeder Art von Berührung. Alles, was seine Position als falsch, verdreht oder überholt enthüllen könnte, prallt von ihm ab und zerschellt zu Füßen eines Gegenübers, das sich entscheiden muss, die Flucht zu ergreifen oder der Sache auf den Grund zu gehen.
Eiserne Klammer
Das Bestreben, sich unangreifbar zu machen, ist kein Zeichen von Stärke, sondern von Schwäche. Etwas will geschützt werden. Eine Verletzung ist so tief gegangen, dass der Betroffene hier nie wieder berührt werden will. Gefühle verschwinden hinter Gedankengebäuden. Dicke Mauern schließen ein, was einst gelitten hat. Das Herz wird undurchlässig und verhärtet hinter fixen Ideen, die jeden wirklichen Kontakt mit der Umgebung unmöglich machen.
Voraussetzung für Selbstgerechtigkeit ist ein gestörter Zugang zur eigenen Gefühlswelt. Selbstgerechte Menschen sind stolz auf ihren Verstand, ihre vermeintliche Objektivität, ihre Überzeugung, „die“ Realität zu sehen. Anstatt individueller Wahrnehmung gibt es für sie nur eine Wahrheit, die für alle gleich ist. Die Möglichkeit, dass jemand die Dinge anders sieht, wird mit allen Mitteln bekämpft: Verschwörungstheoretiker, Rechtsextremer, Antisemit. Ganz legitim wird heute mit schärfster Munition auf die geschossen, die das eigene Weltbild ins Wanken bringen könnten.
Das Bedürfnis, sich selbst immer wieder aufzuwerten und nur den eigenen Standpunkt gelten zu lassen, erwächst aus einer versteckten inneren Unsicherheit heraus. Wer mit sich selbst eins und im Reinen ist, braucht es nicht, andere abzuwerten.
Hier ist es wie mit dem Mundgeruch: Der Betroffene merkt es nicht. Während er selbst glaubt, lupenrein zu sein, verpestet er seine Umgebung mit seiner Härte, seiner Unnachgiebigkeit, seiner Sturheit und seiner Ungerechtigkeit.
Mit unerschütterlicher Arroganz unterdrückt er alles, was nicht in sein Denkschema passt. Da er sich von den eigenen Gefühlen abgeschnitten hat, kann er auch die Gefühle anderer nicht nachvollziehen. Gefühle sind ihm suspekt. Er versteht gar nicht, warum sich ein Gegenüber so betroffen zeigt. Er selbst ist doch das Opfer. Dieses Anrecht hat er gepachtet und lässt es nicht wieder los.
Es reicht!
Es sind unsere individuellen Eigenschaften und Verhaltensweisen, die den Boden für totalitäre Strukturen bereiten. Keine Macht von oben könnte greifen, wenn wir nicht dauernd versuchen würden, uns selbst über andere zu stellen. Niemand könnte aus dem Verborgenen heraus wirken, wenn wir uns nicht selbst ständig verstecken. So beginnt Unterdrückung bei uns, in unseren verschlossenen Herzen, mit unserer Empathielosigkeit, unserer Unfähigkeit, andere Standpunkte als den eigenen zu akzeptieren, unserem Irrglauben, moralisch besser dazustehen als andere.
Wenn wir abwenden wollen, was sich überall abzeichnet, wenn wir der globalen Zerstörung und Unterdrückung ein Ende machen wollen, dann müssen wir uns jetzt anhören, wenn jemand uns sagt, es stinkt ihm.
Es reicht mit der Überheblichkeit, mit dem Moralisieren, mit der Selbstgefälligkeit, der Wehleidigkeit, der Opferhaltung, der Verbissenheit, der Härte. Es reicht mit der Selbstgerechtigkeit und dem Unrecht, das sich daraus ergibt.
Es reicht mit der Weigerung, für das eigene Handeln einzustehen. Es reicht, sich hinter Ideologien zu verbergen, hinter Verordnungen und Gesetzen, hinter dem, was die meisten sagen und tun. Es reicht, sich nur im Mainstream zu informieren und so zu tun, als gäbe es keine unabhängigen Informationsquellen. Es reicht, sich nicht dafür zu entschuldigen, andere Menschen, die sich kritisch gegenüber Corona, Krieg oder Klima äußern, als Nazis zu bezeichnen, als Leugner, Blinddarm, Aasgeier, Gefährder, Mörder, Sozialschädlinge oder dumme Sau. Es reicht, das zugelassen zu haben.
Es reicht, Streubomben für moralisch vertretbar zu halten, wenn sie die vermeintlich Richtigen treffen. Es reicht damit, mit zweierlei Maß zu messen. Es reicht mit der Scheinheiligkeit. Es reicht mit der Feigheit. Jetzt sind wir alle dran. Ohne Ausnahme. Jetzt stehen wir alle vor der Frage, ob wir Gerechtigkeit oder Selbstgerechtigkeit fördern, ob wir nur selbst möglichst gut dastehen wollen oder ob uns daran gelegen ist, dass es allen Bewohnern auf diesem Planeten gut geht, auch denen, die nicht unserer Meinung sind.
An die eigene Nase gefasst
Wer wirklich Gerechtigkeit will, der fängt jetzt bei sich an. Kann ich mir einen anderen Standpunkt anhören, ohne abwertend, beleidigend, zynisch oder beschuldigend zu werden? Kann ich überhaupt zuhören? Lasse ich mein Gegenüber ausreden? Kann ich mich in andere hineinversetzen? Kann ich davon ablassen, recht haben und in einer Diskussion gewinnen zu wollen, als handle es sich um ein Fußballspiel? Halte ich Vorträge oder bin ich im Austausch mit anderen? Lasse ich mich berühren? Habe ich Zugang zu meinem Herzen, zu meinen Gefühlen?
Von der individuellen Haltung des Einzelnen hängt es ab, ob wir kollektiv in die Gerechtigkeit finden oder ob wir in der Selbstgerechtigkeit stecken bleiben. Was fördern wir? Abwertung, Arroganz und Hass? Oder Gleichwertigkeit, Respekt und Liebe? Tun wir es wirklich oder tun wir nur so? Ist unser Friedensangebot echt oder wollen wir nur unseren Frieden zu unseren Bedingungen, nach unseren Vorstellungen? Von dieser Entscheidung hängt unser aller Überleben ab.
So haben wir die Wahl, ob wir weiterhin die Welt mit unserer Selbstgerechtigkeit tyrannisieren oder ob wir in die Demut kommen, die Weichheit, die Begegnung im Herzen. Wollen wir recht haben oder wollen wir leben?
Schaffen wir durch den Stau unserer Gefühle eine Art alles verschlingende Sintflut, oder öffnen wir die Schleusen und bringen die Dinge erneut ins Fließen? Jetzt kommt es auf uns an.