Generation Schuldgefühl

In einem Vortrag erklärt der Künstler und Buchautor Raymond Unger, wie eingebildete Handlungsoptionen in der Klimafrage zu Hypermoralismus führen.

Sich schuldig fühlen — das ist eigentlich eine unangenehme Sache. Man sollte annehmen, dass Menschen versuchen, dieses Gefühl möglichst zu vermeiden. Manchmal hat man jedoch den Eindruck, dass viele Zeitgenossen sich geradezu darum reißen, Schuld zu übernehmen. Ob es die mit Corona-Patienten überfüllte Intensivstation ist, der hilflos auf einer Eisscholle treibende Eisbär, ob es das Leid der ukrainischen Bevölkerung ist oder das der Opfer lange zurückliegender Taten der Nazis — immer bin „ich“ es, der sich dafür verantwortlich zu fühlen hat. Wo ich nicht selbst der Täter war, habe ich die Tat vielleicht zugelassen — oder ich gehöre einem Täterkollektiv an. Speziell innerhalb des Lagers, das sich grün, links oder woke nennt, ist geradezu eine Art Schuldhabsucht festzustellen. Zu tun hat dies auch mit der speziellen seelischen Prägung der Babyboomer-Generation. In unserer Kindheit lernen wir leider eine Menge nutzloser und schädlicher Dinge: sich minderwertig fühlen, übermäßige Identifikation mit Autoritäten oder angemaßte Handlungsoptionen, die wir in Wahrheit gar nicht haben. Mit der jetzt dominierenden Generation wurde ein kollektives psychisches Störungsmuster nun auch politisch zum Problem. Denn natürlich wollen Nachkriegskinder jene Schuldgefühle, die sie ohne wirkliche Notwendigkeit auf sich genommen haben, irgendwann auch wieder loswerden. So werden sie zu Hypermoralisten, zu Chefanklägern ihrer Mitmenschen. In einem öffentlichen Vortrag legte Raymond Unger diese destruktive Psychodynamik bloß. Wer sie versteht, wird künftig nicht mehr so leicht zu manipulieren sein.

„Ganz ehrlich, so’n richtiger Mutmacher bin ich eigentlich nicht“, sagte Raymond Unger aus Anlass seiner Einladung zu einer Vortragsreihe unter dem Titel „Narrative der Mutmacher in Kloster Zinn“ am 1. Oktober 2023. Allerdings ist Unger einer, der die dunklen Flecken der kollektiven Psyche so einleuchtend darstellt, dass allein diese Erkenntnishelle uns Zuhörern das Gefühl gibt, dass die Menschheit noch nicht verloren ist. Unger gehört wahrscheinlich zu den besten Sachbuchautoren der letzten, der dunklen Jahre, und er lief infolge der sich überlagernden Krisen — Flüchtlinge, Corona, Klima … — erst zu seiner vollen Form auf. Immer verstand er es glänzend, Persönlich-Biografisches mit Sachinformationen, Politik mit Psychologie sowie Elementen der Philosophie, der Kulturgeschichte sowie der Wissenschaft zu vermischen. „Nebenbei“ ist Raymond Unger ein erfolgreicher Maler, der in der Berliner Kulturszene auch durch vermischte Events — Ausstellungen mit musikalischen Darbietungen anderer Künstler — von sich reden machte. Damit aktivierte Unger natürlich auch die Diffamierungsmaschinerie politischer Glaubenskrieger gegen sich.

Auch bei seinem Auftritt in Kloster Zinn beginnt Raymond Unger mit einem persönlichen Statement. Er sei ein „klassischer Babyboomer“ und hätte daher mit transgenerationalen Kriegstraumata zu kämpfen gehabt. Bald aber kommt der Autor der Sachbücher „Der Verlust der Freiheit“ und „Die Heldenreise des Künstlers“ auf die politische Situation zu sprechen: „Diese Gesellschaft wird aktiv manipuliert und vorsätzlich angegriffen im Sinne des Freiheitsabbaus.“ Dieser Angriff erfolge vorsätzlich. Wichtig sei es dabei aber, den Fokus auf jene zu lenken, die diesen Freiheitsabbau mit sich geschehen lassen, also auf fast alle von uns. Zu fragen sei also: „Wer wird angegriffen? Wie reif ist diese Gesellschaft? Warum funktionieren bestimmte Angstnarrative im Westen so gut und speziell in Deutschland?“ Hierzu zitiert Unter eine Studie der Universität Oxford. Demnach habe Deutschland die Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemiebekämpfung von allen Staaten, die untersucht wurden, am mustergültigsten erfüllt. Ungers Schlussfolgerung: „Sobald ein Narrativ moralisch geframt wird, ist Deutschland immer die Nummer eins in der Erfüllung oder Übererfüllung.“ Beispiele seien Fukushima, die Flüchtlingskrise und Corona.

Abmoderierte Sinngewissheiten

Eine entscheidende Rolle spielen in dieser Dynamik die Medien. Dazu schrieb der Journalist Milosz Matuschek: „Wer die Information kontrolliert, bestimmt die Realität.“ Dies ist wichtig, weil gemeinhin angenommen wird, Information bilde die Realität nur ab. Es geht also nicht nur um das Beschreiben, das Ordnen, die Schwerpunktsetzung innerhalb einer objektiv gegebenen Realität — es geht um deren Konstruktion oder noch drastischer: Erschaffung. Umso gefährlicher ist die Bündelung von Medienmacht, denn dann wird die Realität, in der wir leben, ja nur von einem kleinen Kreis mächtiger Menschen bestimmt. In den letzten Jahren nutzten reichweitenstarke Medien und Medienverbände ihre Kontrolle über die von den Menschen wahrgenommene Realität, so Raymond Unger, zum „Abmoderieren ehemaliger Sinngewissheiten“. Obsolet wurden zum Beispiel die Geschlechteridentität sowie nationale Identitäten — alles, was Menschen bisher in ihrem Selbstgefühl stützen und ihnen Wurzeln geben konnte. Die Folge: „Der Mensch steht atomisiert und nackt in einer schönen neuen Welt.“

Ein wesentlicher Hebel, um die Menschen in die gewünschte Richtung zu lenken, ist die Angst. Die größte Angst ist jene vor dem Tod, weshalb diese während der letzten Krise auch besonders fleißig geschürt wurde. Eine tödliche Viruserkrankung oder der Hitzetod wurden an die Wand gemalt. Warum ist Angst der Schlüssel zur Beherrschung von Menschenmassen? „Im Angstzustand kommt es zur Lähmung des logischen Denkens. Alle möglichen Absurditäten werden ‚gekauft‘.“ Dies kann den öffentlichen Diskurs auch ethisch in eine fragwürdige Richtung bewegen. Der Theologe und Pazifist Eugen Drewermann fragte pointiert: „Kann ein Mensch gut sein, der Angst hat?“ Mit Drewermann antwortet Unger: Das kann er nicht. Menschen, die Angst haben, tun böse Dinge. Dieses Böse erzeugt bei anderen neue Angst — eine Spirale, die sich immer weiterdreht.

Versäumte Reifungsschritte

Wieder sollten wir uns aber nicht nur mit den Angstmachern aus Politik und Medien befassen, sondern auch mit jenen, die sich diese Angst immer wieder einreden lassen. Wem kann man am leichtesten Angst machen? Die Antwort ist: Kindern. Umgekehrt gilt: „Um Angst abwehren zu können, müssen Menschen einen bestimmten Grad von Bewusstsein und Ausreifung erreicht haben.“ Wie wird man also so erwachsen, dass man nicht jedes Angstnarrativ sofort kauft? Die Erfahrung zeigt: 80 Prozent der Menschen „lassen sich über die Angstnarrative in die Massenbildung hineinziehen“. Das klingt zunächst einmal entmutigend. Aber da sind ja noch die anderen 20 Prozent. Warum erweisen sie sich als resilient, trotzen einer ausgefeilten, auf allen Kanälen ausgestrahlten Manipulationsmaschinerie wie auch dem Gruppendruck, der auf sie ausgeübt wird?

Wie so oft bei psychologischen Themen liegt die Ursache in der Kindheit. In den ersten fünf bis sechs Lebensjahren entsteht in Kindern das Urvertrauen. Es entsteht durch „authentische Spiegelung“, durch die Zuwendung der Eltern, die dem Kind ein Gefühl von Gesehenwerden, Geliebtwerden, Selbstwirksamkeit vermitteln und es somit überhaupt erst als sozial verbundenes Wesen in der Welt verankern. Der psychologische Sachbuchautor Burkhard Hoffmann spricht speziell vom „Glanz im Auge der Mutter und des Vaters“. Sie vermitteln einem Kind das Gefühl „Ich bin o. k.“.

Der Glanz in den Augen der Eltern

An dieser Stelle wird Raymond Ungers Vortrag für das Verständnis kollektiver gesellschaftlicher Vorgänge eminent interessant. Was geschieht nämlich, wenn eine ganze Generation ohne diesen Glanz in den Augen der Eltern aufwachsen muss — oder mit einer sehr reduzierten „Dosis“ davon? Dies ist das Problem der Babyboomer, die oft auch als Kriegsenkel bezeichnet werden. Gemeint sind hier nicht die klassischen 68er, die mittlerweile schon teilweise über 75 Jahre alt sind, sondern die etwas Jüngeren, geboren überwiegend in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Sie hatten überwiegend nicht mit Eltern zu kämpfen, die Nazi-Täter waren, wohl aber mit Vätern und Müttern, die durch ihre Erfahrungen von Krieg und Vertreibung schwer traumatisiert waren. Dies bedeutetet — und ich ziehe hier Informationen aus anderen Bücher Raymond Ungers sowie aus der „Kriegsenkelliteratur“ heran —, dass Menschen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit Eltern wurden, so stark mit ihren Verarbeitungsprozessen eigener traumatischer Erfahrungen beschäftigt waren, dass sie auf ihre Kinder emotional nicht adäquat eingehen konnten. Bemüht, ihnen ein „behütetes“, materiell abgesichertes Leben zu ermöglichen, was unter den Bedingungen des Wirtschaftswunders meist gelang, vermochten sie für die innere Welt ihrer Kinder kein Verständnis aufzubringen.

Babyboomer waren Kinder, die — materiell gut versorgt — dennoch auf subtile Weise litten, sich aber von ihren Eltern vorwerfen lassen mussten, dafür keinen zureichenden „objektiven“ Grund zu haben, also nur aufgrund weichlicher Überempfindlichkeit im Leben oft nicht richtig in die Gänge zu kommen. „Unter bestimmten Bedingungen“, sagt Raymond Unger in seinem Vortrag, „können Eltern diesen Glanz nicht haben.“ Er verweist als Beispiel auf seine eigenen Eltern. Diese wurden in ihrer Kindheit selbst so traumatisiert, „dass sie die Erziehung versachlichen mussten.“ Die Kinder wurden formal gut versorgt, aber auf Abstand gehalten. Warum diese Unfähigkeit, sich auf die Innenwelt des eigenen Kindes einzulassen? „Dies hätte bedeutet, sich mit den eigenen Gefühlen aus der Kindheit auseinanderzusetzen. Bestimmte Ereignisse können Erwachsene so stressen, dass sie den Glanz in den Augen nicht aufbringen können.“

Drei verhängnisvolle Wirkmechanismen

Raymond Unger leitet aus diesen Überlegungen in einem faszinierenden Abschnitt seines Vortrags drei Muster der Entstehung von Schuldgefühlen und Scham ab.

Als Erstes ein Gefühl einer tiefen Wertlosigkeit. Kinder beziehen alles auf sich und besitzen somit — wertneutral gesprochen — eine natürliche Form von Egozentrik. Das hat oft tragische Folgen, denn selbst wenn ein Elternteil stirbt, können Kinder unbewusst annehmen, dies sei ihre Schuld. Auch wenn Kinder überwiegend nicht in einer Atmosphäre liebender Aufmerksamkeit seitens ihrer Eltern aufwachsen, sehen sie die Schuld dafür mitunter bei sich selbst. „Wen wir lieben, dem schenken wir Zeit. Der Schock, dass Eltern uns keine Zeit schenken, erzeugt Wertlosigkeitsgefühle.“

Die zweite, besonders tragische Dynamik ist die Übernahme elterlicher Schuld. Eltern, die ihren Kindern, wie unter Punkt 1 dargelegt, nicht genügend Aufmerksamkeit schenken, empfinden durchaus etwas wie Schuldgefühle. Auch diese übernehmen Kinder mitunter. Dies wird auch als Täteridentifizierung bezeichnet. Warum tun Kinder dies? Aufschluss hat unter anderem die systemische Familientherapie gegeben, wie sie von Bert Hellinger und anderen geschaffen wurde: „Kinder wollen das System immer maximal stabilisieren, weil sie von diesem abhängig sind.“ Vereinfacht also: Kinder leiden nicht nur unter dem Entzug von Aufmerksamkeit durch vielfach kriegstraumatisierte Eltern, sie nehmen auch noch die Schuldgefühle für „Taten“ beziehungsweise Versäumnisse auf sich, deren Opfer sie geworden sind. Denn Kinder wollen, dass sich Eltern, von denen sie existenziell abhängig sind, wohl fühlen und stabil sind. Sie sorgen für die psychische Entlastung ihrer Eltern sogar um den Preis, selbst dadurch über Gebühr belastet zu werden.

Das dritte psychologische Muster, das hier greift, nennt Raymond Unger den „Benefit einer eingebildeten Handlungsoption“. Dies ist ein sehr interessanter Punkt. Denn worin besteht die offenbar vorhandene Anziehungskraft, die Schuldgefühle auf Kinder ausübt? Es handelt sich doch um eher unangenehme Gefühle, von denen man meinen könnte, jeder würde ihnen möglichst aus dem Weg gehen. Tatsächlich aber liegt der „Reiz“ bei der Akquise einer Schuld, die eigentlich nicht zu uns gehört, in der Illusion der eigenen Wirkmächtigkeit, die damit zusammenhängt. Ist der andere schuld, kann ich nichts tun; bin sich selbst schuld, kann ich etwas ändern.

Ich bin nicht o. k., du bist nicht o. k.

Unger sagt hierzu: „Wenn ich als Kind ursächlich für Probleme bin, kann ich diese ändern. Ich bin wirkmächtig.“ Sofern aber die von Unger beschriebenen Schuldkomplexe über viele Jahre bestehen bleiben, erzeugen die drei psychologischen Wirkmechanismen im Individuum „toxische Scham“. Der vom amerikanischen Psychologen John Bradshaw geprägte Begriff bedeutet, dass die Schuldgefühle auf der Identitätsebene verinnerlicht werden. Schließlich glaubt der Betreffende: „Ich bin nicht o. k. Ich bin nicht mächtig.“ Mit dieser Scham können jedoch nicht alle leben. Ein „neurotischer Charakter hilft sich, indem er Schuld und Scham nach außen projiziert. (…) Die anderen sind nicht o. k. Die innere Stimme, die kritisiert und niedermacht, wird gegen andere gerichtet.“ Der auf andere gerichtete Zeigefinger hat für den Projizierenden weitere positive Effekte. So gehört es zu den verbreiteten Machttechniken, bei anderen Schuldgefühle zu erzeugen. Und das kann — speziell in einem Umfeld, das durch Hypermoral gekennzeichnet ist — karrierefördernd sein. Dazu Raymond Unger: „Ein narzisstischer Charakter entdeckt: Wenn er sich in die erste Reihe der Moralisten stellt, wird er erstens nicht angegriffen, zweitens macht er Karriere.“

Besonders aufschlussreich ist nun die Anwendung dieser Psychodynamik auf kollektive, also vor allem politische und gesellschaftliche Themen. Um das Gefühl grundlegender Wertlosigkeit zu bewältigen, greifen Menschen zu Methoden psychischer Entlastung, die Raymond Unger so benennt: „Überkompensation, Konformismus, Autoritätshörigkeit, Hypermoral, Schuldstolz, Hexenjagden, Blockwart-Mentalität“. Wir werden auf einige davon noch zurückkommen.

Analog zur Übernahme elterlicher Schuld kommt es beim Kind-Bürger zu Formen der Überidentifizierung mit Autoritäten. In der Coronakrise konnte man beobachten, wie manche einen Angriff Dritter auf „ihre“ Regierung sehr persönlich nahmen, als gelte diese Kritik ihnen selbst. Auf das Übertreten einer Regel, die ein Normalbürger gar nicht selbst aufgestellt hat und die nicht einmal sinnvoll sein muss, reagierten die neuen „Blockwarte“ sehr empfindlich. Versäumtes Persönlichkeitswachstum und das Verharren in kindlichen Verhaltensmustern zeigten sich unter anderem in Formulierungen wie „Mutti Merkel“. In seinem Vortrag sagte Unger dazu: „Diese Charaktere ertragen die Wahrheit über die Autoritäten nicht. Man will das alles nicht hören.“ Würde man sich eingestehen, dass Autoritäten korrupt sind oder destruktive Absichten verfolgten, „müsste man sich diese Fragen auch bezüglich der eigenen Eltern stellen“.

Lieber schuldig als machtlos

Bezüglich der „eingebildeten Handlungsoption“ sind die gesellschaftlichen Folgen besonders fatal. Für Menschen, die gern für möglichst viel verantwortlich sind und sich deshalb lieber schuldig als völlig machtlos fühlen, gibt es „nichts Schlimmere als die Annahme, dass es andere Ursachen geben könnte als das eigene Verhalten“. Eine gewaltige Welle vorher nicht vorhandener Schuldgefühle löste die Annahme aus, alle Umwelt- und Klimaprobleme seien auf vom Einzelnen verschuldeten übermäßigen CO2-Ausstoß zurückzuführen. Wie Raymond Unger berichtet, gab es zur Klimaerwärmung früher einmal eine ganze Reihe unterschiedlichster Hypothesen. Im Laufe von Jahren verengte sich das Feld der als akzeptabel geltenden Erklärungsversuche jedoch extrem, bis nur noch die These vom menschengemachten, durch CO2 verursachten Klimawandel übrigblieb.

Interessanterweise setzte sich also gerade jene Variante durch, die dem Menschen am meisten Handlungsoptionen und in der Folge am meisten Schuld zuweist. Der Hinweis auf in der Erdgeschichte zyklisch vorkommende Wärme- und Kälteperioden, die es lange vor der Industrialisierung und Massentierhaltung, ja sogar lange vor der Entstehung des Menschen gab, wurde von der vereinten Macht von Wissenschaft, Politik und Medien zurückgewiesen. Wer so denkt, gilt heut als „Leugner“. Es wirkt fast, als seien die meisten Menschen verliebt in das Sich-schuldig-Fühlen und reagierten verärgert auf alle, die ihnen die Last dieser Schuld ein wenig leichter machen wollen, weil dies natürlich auch ihre Gestaltungsmacht schmälern würde. „Eigene Wirkmächtigkeit befriedet Ohnmachtsgefühle“, schreibt Unger.

Die Ersatzreligion

Das Szenario eines globalen Klimakollapses, der durch die Taten einer verschworenen Heldengemeinschaft in letzter Minute abgewendet werden könnte, ist zu reizvoll, um es durch allzu viel Nüchternheit zu verwässern. Der Themenkomplex ist, so Unger, die „perfekte Voraussetzung für Ersatzreligion“. Denn: „Menschen können nicht nicht religiös sein.“ Bröckeln die traditionellen Glaubensbindungen, so wird etwas eigentlich ganz Weltliches zur Religion erhoben. In einer Welt, die ohne den Trost metaphysischen Aufgehobenseins auskommen muss, wird die Erlösungshoffnung, zu der die menschliche Seele neigt, auf die Technik übertragen. Letztlich steht hinter allem die Hoffnung auf Unsterblichkeit.

Gleichzeitig steht hinter dem gerade bei „grünen“ Themen beobachtbaren Hypermoralismus ein „tiefes Gefühl der Illegitimität“. Denn jedes grundlegende Bedürfnis des Menschen — wie Essen, Trinken, eine warme Wohnung oder Fortbewegung — wird Klimagläubigen durch das Bewusstsein vergällt, dass damit CO2-Ausstoß verbunden ist. Das Lebensgefühl des Klimabewussten besagt also: „Die Welt wäre ohne mich besser dran.“ Es wäre besser, wenn es weniger Menschen oder annähernd gar keine gäbe. Der Unglücksfall meiner Existenz kann nur aufgewogen werden durch ein rigides Kompensationsprogramm. Dazu gehört mitunter auch der Wunsch nach Kinderlosigkeit. Lebenssinn gibt dem qua Geburt in Schuld gefallenen CO2-Ausstoßer auch der erbitterte Kampf gegen all jene, die sich der Nichtswürdigkeit ihrer Existenz nicht mit der gebotenen Schärfe bewusst sind.

Durch moralischen Stolz versüßtes Opfer

Auch wenn Raymond Unger dies in seinem rund 45-minütigen Vortrag nicht mehr genau ausführen kann: Diese Mentalität erinnert auch an das Verhalten von „Linientreuen“ in der Coronakrise. Das Außer-Haus-Gehen, das Menschen-Treffen, ja selbst das Atmen — all dies entpuppte sich als schuldhaftes Handeln. „Gelöst“ wurde dieses Dilemma vielfach durch unbedingte unterwürfige Solidarisierung mit denjenigen, die die Coronaregeln verhängen, durch das mit moralischem Stolz versüßte Opfer all dessen, was bisher ein wirklich lebendiges Leben ausgemacht hat, und nicht zuletzt durch erbitterte Abwertung und Sanktionierung all derer, die „nicht verstanden haben“. Für Machthaber erweisen sich solche Menschen indes als ideale Untertanen: Loyal bis zum Äußersten, lassen sie sich widerstandslos quälen, weil sie unbewusst glauben, nichts Besseres verdient zu haben.

Eine Psychodynamik, die ihre Ursache in den toxischen Familiensituationen vieler Angehöriger der heute dominierenden Generation hatte, wird so zur Quelle zeitlich unbegrenzten Leidens. Der Radius dessen, was ich beeinflussen kann, ist notgedrungen klein, also auch meine Gestaltungsmacht. Damit unzufrieden, erweitere ich sie zunächst auf das eigene Umfeld, auf Verwandtschaft, Freunde und Arbeitsplatz, in der Hoffnung, meine Ausstrahlung und mein Handeln würden zur Schaffung gesunder sozialer Systeme beitragen. Sodann erweitere ich den Radius meiner vermeintlichen Handlungsoptionen auf das eigene Land oder auf die Weltregion, in der ich lebe — Europa, „der Westen“. Hier gilt: Auch wenn ich es nicht getan habe — schon dass ich es nicht verhindert habe, macht mich mitschuldig. Meine möglichst weitgreifende Schuldakquise erstreckt sich dann weiter auf die Taten meiner Vorfahren (Nazizeit, Kolonialismus).

Schuldlos schuldig

Ich beginnen mich für immer mehr verantwortlich zu fühlen, auch wo definitiv keine reale Handlungsoption besteht. Wo ich zum Beispiel nicht aktiv an der Diskriminierung von Migranten beteiligt bin oder diese stets freundlich und fair behandle, bin ich dennoch nicht aus dem Schneider, denn ich mache ich mich des Privilegien-Genusses schuldig. Wie komme ich aus der Schuldfalle heraus? Gar nicht. Denn selbst wenn ich in jeder Hinsicht den Opferkollektiven angehörte, wenn ich also zum Beispiel ein lesbischer Transmann „of Color“ wäre, wohnhaft weit im Osten und zigmal geimpft, wäre ich deshalb keinesfalls unschuldig. Noch immer wäre ich mit einem nicht wiedergutzumachenden Makel behaftet: ein Mensch zu sein und somit CO2-Ausstoßer.

Schuldtilgung also gibt es nie; Schuldentlastung immerhin ist möglich: zunächst durch andauernde Selbstbezichtigung, mit der ich „Sensitivity“, Schuldeinsicht und ein gewisses, zumindest theoretisches Potenzial zur Umkehr dokumentiere. Weiter auch durch Sühneopfer, also besonders schmerzhafte Einschränkungen meiner Lebensqualität: Einhaltung von Coronaregeln, Konsumverzicht, eine kalte Wohnung als Fanal des tapferen Widerstands „gegen Putin“… Kurz: Nur wenn ich — fast — nicht mehr lebe, lebe ich richtig. Ich kann mich jedoch dem schuldbehafteten Kollektiv zumindest teilweise durch zur Schau gestellte Bußfertigkeit entziehen und dadurch, dass ich vom Angeklagten zum Kläger werde. Mein natürlicher Aufenthaltsort ist die Anklagebank, bis in alle Ewigkeit. Es sei denn, ich schaffe es, auf den Stuhl des Anklägers zu wechseln. Dann werden andere die Last tragen, die mich drückt, obwohl ich sie eigentlich nie hätte auf meine Schultern nehmen müssen.

Wir zahlen und zahlen — mit Geld oder mit reduziertem Lebensglück, ohne dass die Schuld jemals auf null schrumpfen könnte. Dieses Konzept erinnert klar an die religiöse Idee der Erbsünde. Der Unterschied zu ökologisch-moralischer Schuldbewirtschaftung ist jedoch: Religionen liefern zum Ausgleich und als Trost auch Narrative der Schuldentlastung gleich mit. Diese gibt es im Kontext von Umwelt, Gesundheit und anderen Correctness-Themen nicht unbedingt. Gott kennt Gnade, woke Moralisten nicht.


Quellen und Anmerkungen:

Raymond Unger gibt in seinem hörenswerten Vortrag noch weitere Anregungen, die ich hier unerwähnt gelassen haben. Es lohnt sich, reinzuschauen:


Impulsvortrag Raymond Unger: "Psychologie der Angst - Warum Schuld- und Angstnarrative wirken"

Literatur:
Raymond Unger: Die Heldenreise des Bürgers, Europa Verlag
Raymond Unger: Der Verlust der Freiheit, Europa Verlag
Raymond Unger: Die Wiedergutmacher, Europa Verlag