Gemeinsam einsam
Das Akzeptieren des Alleinseins führt zu wirklicher Verbundenheit.
Alleinsein macht Angst. Wir sind soziale Wesen und brauchen die Verbindung zu anderen. So schließen wir uns zu zweit oder in Gruppen zusammen. Wir gegen den Rest der Welt. Wer sich außerhalb unserer jeweiligen Blase befindet, den nehmen wir zumeist entweder überhaupt nicht wahr oder beäugen ihn misstrauisch. Aus diesem Verhalten heraus ist eine Gesellschaft entstanden, die von Gleichgültigkeit, Aggressivität und Gewalt geprägt ist. Erst wenn wir uns dem Alleinsein stellen, können Gemeinschaften entstehen, in denen die Menschen einander frei, authentisch und friedlich begegnen.
Allein an einem dunklen Ort. Ausgesetzt in feindseliger Umgebung. Keine Menschenseele, die einem helfen kann. Es gibt wohl kaum eine Vorstellung, die uns in größeren Schrecken versetzt. Bei sozialen Wesen wie uns lösen Alleinsein, Einsamkeit und Bindungslosigkeit tiefe Angstgefühle aus. Ob in einem unbekannten Raum, auf einem weiten Platz, einer fremden Party — das Gefühl der Unsicherheit ist für uns alle unangenehm.
Wir können uns hinter niemandem verstecken. Während alle anderen sich bestens zu kennen und zu amüsieren scheinen, schiebt uns niemand einen Drink zu. Allein unser Smartphone vermittelt uns den tröstlichen Eindruck, nicht von allen guten Geistern verlassen zu sein. Wir können immer noch jemanden anrufen oder so tun als ob, unsere alten SMS und Fotos durchsehen oder recherchieren, wie das Wetter morgen wird.
Um derartige Situationen zu vermeiden, treten die meisten Menschen mindestens zu zweit auf: mit dem Partner, mit einer Freundin, mit der Clique, mit einem niedlichen oder gefährlich aussehenden Hund. Allein wagen sich viele nur zum Einkaufen und zur Arbeit. Die wenigsten setzen sich alleine in ein Café oder ein Restaurant, gehen alleine ins Kino oder auf Reisen oder einfach nur spazieren.
Einzelhaft gilt als Folter. Aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden bedeutete früher den sicheren Tod. Tief sitzen diese Erinnerungen in uns und sind bis heute aktiv.
Alleinsein erinnert uns auch daran, dass wir einmal so gehen werden, wie wir gekommen sind: allein durch einen engen Tunnel. Den Gedanken daran schieben die meisten von uns weit von sich. Tröstlich ist allein der Gedanke, dass wir ja heute länger leben. Da ist es hoffentlich noch eine Weile hin.
Vom Wir zum Du
Vielleicht halten wir es deshalb so lange in Bindungen aus, in denen wir nicht glücklich sind. Besser das als nichts. Auch ich kenne es gut, dort zu verweilen, wo ich längst hätte gehen sollen. Doch heute konfrontieren mich die Lebensumstände mehr denn je damit, mich mit dem Alleinsein auseinanderzusetzen. Es gibt so viele Trennungen! Partnerschaften, Freundschaften und Familien zerbrechen, viele Menschen sterben.
Ich mag es, alleine zu sein, und brauche es, mich zurückzuziehen. Doch ich bin auch gerne unter Menschen. Unangenehm wird es, wenn das „Wir“ eine Mauer bildet. Wenn ich Menschen begegne, die, anstatt von sich selbst, ausschließlich von „unserer neuen Stehlampe“ oder „unserem Rhododendron“ sprechen, von ihren Kindern, Enkelkindern und Familientraditionen, wenn ich auf Verschlossenheit stoße, auf Codes, Gewohnheiten, Meinungen, die niemand anderen hineinlassen, wenn sich ein Kreis nicht öffnet, wenn jemand Neues hinzukommt, wenn es beim Smalltalk bleibt — dann bin ich lieber allein.
Wenn mehr als zwei oder drei zusammenkommen, sind wirkliche Begegnungen selten. Nur allzu schnell lösen wir uns in der Gruppe auf und verhalten uns oft anders, als es uns eigentlich geht. Um niemanden vor den Kopf zu stoßen oder gar den Ausschluss zu riskieren, sagen wir, was wir nicht wirklich denken, und tun, was wir nicht fühlen. Die Gemeinschaften, die auf diese Weise entstehen, sind so verdreht wie ihre einzelnen Mitglieder. So müssen wir zurück zu denen, die wir sind, wenn wir uns nicht über unsere Position und unsere Funktion in der Gruppe definieren.
Ich sehe dich
Eine wirkliche Begegnung kann dann stattfinden, wenn wir uns zeigen. Das Vertrauen, das dies ermöglicht, schöpfen wir aus uns selbst, aus unserer Bereitschaft, allein zu sein und unser Alleinsein anzunehmen. Diese Bereitschaft hat etwas von dem Einlassen auf die Enge des Tunnels, durch den wir bei unserer Geburt und bei unserem Tod müssen. Wir konfrontieren uns mit etwas Unbekanntem.
Ich übe, alleine hinauszugehen in die Welt, und träume von Orten, an denen die Menschen sich freundlich und aufmerksam begegnen, gerade weil sie sich nicht kennen: Hallo, schön, dass du auch da bist! Ich werde kühn. Wie wäre es, wenn es nicht mehr zum guten Ton gehört, besonders beschäftigt zu tun oder anderen die kalte Schulter zu zeigen, sondern neugierig und wohlwollend aufeinander zuzugehen? Hej, du hast eine schöne Ausstrahlung.
Zugegeben: Als mir das jemand Unbekanntes auf Tamera sagte, war ich verlegen (1). Doch wie gut es tut, wenn es ehrlich rüberkommt, einfach so, ohne Erwartungen! Wie schön es sich anfühlt, wenn ich jemandem sagen kann: Kannst du mich bitte einmal in die Arme nehmen? Wie geradezu heilsam es sein kann, sich bei jemandem anzulehnen, sich bei der Begrüßung oder beim Abschied lange im Arm zu halten oder bei einem Gespräch an die Hand zu nehmen und ganz da zu sein für den anderen.
Die Sonne geht auf
Aus solchen offenherzigen Begegnungen heraus entstehen Verbindungen voller Vertrauen, die nicht dazu da sind, sich hinter ihnen zu verstecken. Jeder steht für sich und strahlt auf seine Art. Wir brauchen keine bestimmte Position oder Funktion mehr, um uns wertgeschätzt, keine Clique und keinen Club, um uns in Sicherheit zu fühlen. Wir sind einfach wir selbst. Ohne Ansprüche, ohne Rockzipfel, ohne Erwartungen, ohne Bedauern, ohne Angst.
Danach sehne ich mich. Ich möchte hin zu Gemeinschaften, in denen die Menschen nicht ihre Zeit damit verbringen, ihre Fassade zu polieren und sich selbst ins rechte Licht zu rücken, sondern ihren Wunsch nach authentischen, respekt- und liebevollen Bindungen Wirklichkeit werden lassen.
Im Bewusstsein ihrer Kraft und ihrer Bedeutung strahlen sie wie Sonnen, von denen keine die anderen in den Schatten stellt. Jede Sonne strahlt für sich, doch gemeinsam werden wir immer heller. Der Einzelne wird nicht dem Kollektiv geopfert, sondern bleibt wie in einem Mosaik als besonderer Lichtpunkt erhalten, der dem Ganzen fehlen würde, wäre er nicht da.
In einer solchen Gemeinschaft müssen wir unsere Partner, unsere Kinder, unsere Freunde nicht mehr mit unseren Erwartungen erdrücken. Wir stehen für uns selbst. Wir müssen uns an niemanden mehr klammern, wenn wir nach draußen gehen, und uns hinter niemandem mehr verstecken. Wir treten in die Welt als die, die wir sind, frei, neugierig und voller Vertrauen, wundervolle neue Menschen kennenzulernen.
Quellen und Anmerkungen: