Geld oder Leben
Birgit Vanderbeke schildert in ihren Büchern, wie die großen Irrtümer unserer Gesellschaft ins Private eindringen.
In ihrem Buch „Geld oder Leben“ erzählt Birgit Vanderbeke von einer ostdeutschen Familie, die dem Ruf der Freiheit in den Westen folgt, und damit ein funktionierendes familiäres Gefüge verlässt, das sie nicht mehr mit Geld oder teuren Autos ersetzen kann. Im Literatursalon von Rubikon stellt Katrin McClean die ersten Seiten ihres Buches vor, das bereits 2003 erschien, und, wie alle guten Geschichten, seine Gültigkeit nicht verloren hat.
Geld oder Leben
von Birgit Vanderbeke
Es ist damit nicht anders als mit der Demokratie oder der großen Liebe oder der heilen Familie oder dem Weltfrieden. Früher gehörte der liebe Gott noch dazu, und es ist immer dasselbe Prinzip: Entweder man glaubt es, oder man glaubt es nicht. Wenn alle daran glauben, heißt es, es funktioniert.
Natürlich funktioniert es dann längst noch nicht unbedingt, aber das ist nicht so furchtbar wichtig. Wenn nur alle dran glauben, wird es schon funktionieren, und die, bei denen es nicht funktioniert, haben eben nicht stark genug dran geglaubt.
Das mit dem lieben Gott hatte sich weitgehend schon erledigt, als ich geboren wurde, jedenfalls mit dem lieben Gott, an den sie früher einmal geglaubt hatten, wo ich geboren wurde jedenfalls, es gibt ja noch andere.
Ich zum Beispiel glaubte als erstes an Schokolade. Manchmal kam eine alte Frau, die vielleicht eine Hexe gewesen sein könnte, so alt, wie sie war; sie brachte mir Schokoladenriegel und sagte, daß ihre Hühner an meinem Geburtstag sieben Eier gelegt hätten, weil mein Geburtstag auf einen Siebenten fiel, aber das war egal, weil ich noch lange nicht zählen konnte. Ihre Hühner legten für alle Kinder immer so viele Eier, wie die Geburtstage waren, bei manchen sogar zehn, und wer an einem Über-den-Zehnten Geburtstag hatte, bekam noch eine Zauberformel, nach der die Hühner ihre Eier genau so gelegt hatten, daß es dann auf den 21. oder den 16. hinauslief. Daran und an die Schokoladenriegel konnte ich glauben, lange bevor ich noch zählen konnte. Bei uns gab es weder Hühner noch Schokoladenriegel, aber in einer besseren Hexenwelt, in die mein Leben mich führen würde, würden sowohl Hühner als auch Schokoladenriegel vorkommen, und also wäre es wie im Himmel, zu dem ich abends immer beten mußte, ohne an seine Bewohner zu glauben, einfach weil niemand an diese Bewohner glaubte, schon bestimmt nicht meine Großmutter, die mir diese Gebete beigebracht hatte und abendlich abnahm.
Meine Großmutter glaubte an Hüte und Handschuhe. Im Herbst auch an Pfifferlinge. Normalerweise war sie einfach nur tüchtig. Sie kochte und machte die Wäsche und die Wohnung sauber, sie kümmerte sich um den Garten und sperrte ungezogene Enkelkinder ins Bad, und manchmal vergaß sie sie dort, weil sie so tüchtig war und rasch noch die Birnen ernten mußte, und während sie das tat, glaubte sie an gar nichts, aber sobald sie das Haus verließ, fing sie mit dem Glauben an: sie setzte einen Hut auf, zog sich ein Paar Handschuhe an, fummelte an ihren Haaren herum und schaute in den Spiegel. Dann bekam sie ein ganz spitzes Mäulchen, manchmal schüttelte sie den Kopf, nahm einen anderen Hut und andere Handschuhe, und es konnte eine ganze Weile dauern, bis sie den richtigen Hut und die richtigen Handschuhe hatte, aber dann hatte sie einen gewaltigen Glaubensakt vollbracht. Sie glaubte nämlich jetzt, es wäre wieder vor dem Krieg, sie wäre ein junges Mädchen, ein stattlicher Mann machte ihr den Hof und lüde sie zum Tanzen oder auf ein Schützenfest ein, sie hatte das spitze Mäulchen, das dem jungen Mann sagte, was für ein keckes Ding er sich da geangelt hatte, aber so ein Mäulchen hieß auch, daß das kecke Ding sich auf nichts Gewagtes vor der Hochzeit einlassen würde, weil es nämlich mit Hut und Handschuhen jedenfalls eine angehende Dame war.
Wenn meine Großmutter dann das Haus verließ, um beim Fleischer an der Ecke Schlange zu stehen, ging sie nicht etwa Fleisch holen, sondern sie sagte, ich gehe aus, und sie glaubte auch, daß sie ausginge, und ich konnte sehen, wie sie glaubte, daß sie ausginge, bloß weil sie Hüte und Handschuhe trug, während die anderen Frauen in der Metzgereischlange keine Hüte und Handschuhe trugen, sondern haargenau dieselben ausgebleichten Kittelschürzen, die meine Großmutter auch trug, solange sie nicht ausging.
An die Bewohner des Gebete-Himmels glaubte meine Großmutter nicht, einfach schon weil sie den ehemaligen stattlichen Mann nicht unbedingt nochmal treffen wollte, der zu ihrem Glück so früh gestorben war, daß sie noch nicht zu alt zum Ausgehen war, als sie plötzlich verwitwet gewesen war, aber da war ich noch lange nicht auf der Welt.
Wenn ich nicht gerade ungezogen und im Bad eingesperrt war, war ich immer um meine Großmutter herum, in der Küche oder im Garten oder, wenn Herbst war, im Wald, und also konnte ich schnell begreifen, daß sie an Pilze glaubte. Sie nahm, sobald es feucht wurde, aber noch nicht kalt war, andächtig ihr altes schwarzes Fahrrad mit dem Kindersitz raus, setzte mich vor die Lenkstange, und es war immer noch dunkel, wenn wir losfuhren, unterwegs pfiff sie, als wäre sie gar keine alte Frau, sondern ein junges Mädchen, und wenn wir heimkamen, war meistens schon Zeit fürs Mittagessen. Sie verstaute die Pilze in der Speisekammer und kochte, weil gegen Mittag ihre Kinder zum Essen kamen und an verschiedene komplizierte Dinge glaubten, aber bestimmt nicht an Pfifferlinge, und meine Großmutter fürchtete sich etwas vor diesen komplizierten Dingen und ihren Kindern, aber sobald die Kinder nach dem Essen wieder zur Arbeit gingen, fing die Andacht im Hause erst richtig an mit Putzen, Schneiden, Braten, Kochen, und bevor die Kinder am Abend wieder da waren und vor den belegten Broten saßen, die meine Großmutter Abend für Abend machte, war ein weiteres Kellerregal mit weiteren Pfifferlingsgläsern gefüllt, und als meine Großmutter später gestorben war, bin ich heimlich hinuntergegangen in ihren Keller, an ihren Kelleraltar, und habe ein paar von den Gläsern mitgenommen, bevor die anderen runterkamen und dort ausmisten würden, denn die Gläser waren nicht zum Ausmisten, sondern Reliquien aus vielen vergangenen Jahren, sorgfältig mit Etiketten beklebt, auf denen stand, wann sie dahingekommen waren, das erste stammte aus dem September '47. Gurkengläser standen auch da, aber sie waren nicht heilig gewesen, sondern wurden von Zeit zu Zeit aufgemacht, genau wie die Gläser mit Wurst und die Sauerkirschen, das Pflaumenmus und das Stachelbeerkompott, weil meine Großmutter daran nicht glaubte, sondern in ihrer Tüchtigkeit ungefähr alles in Gläser einmachte, was sie zwischen die Finger bekam.
Bloß mit den Pfifferlingen war es anders.
Mein Gott, sagte meine Tante Annemie, als sie zum Ausmisten von der Wohnung oben in den Keller runtergekommen waren, was mag sie sich dabei gedacht haben.
Es waren etliche hundert Pfifferlingsgläser, und mein Vater sagte, die müssen doch längst vergammelt sein. Dann erzählte er, wie er früher immer heimlich ans Pflaumenmus gegangen war. Mein Onkel Karl sagte, diese verfluchten Hungerjahre, schaut euch das an, der verdammte Krieg und die Hungerzeit, alles hier unten im Keller. Mein Onkel war noch ganz jung und schon Soldat gewesen, aber zuletzt desertiert.
Seine Frau, Tante Evchen, war nicht in den Keller mit runtergekommen, und als alle wieder oben in der halb leergeräumten Wohnung waren, sagte sie, und es klang, als wollte sie selbst sich einerseits für die Pfifferlingsgläser persönlich entschuldigen und als wäre sie gleichzeitig immer noch böse auf ihre Schwiegermutter, Tante Evchen sagte also, aber sie hat partout keine Tiefkühltruhe gewollt. Tante Evchen hatte eine Tiefkühltruhe, und sie und Onkel Karl hätten meiner Großmutter schon vor Jahren gern eine Tiefkühltruhe geschenkt, schon damit meine Großmutter den Kindern von Tante Evchen tiefgekühlten Spinat hätte machen können, wenn sie sie damals besuchten, aber meine Großmutter machte allen Enkelkindern Spinat aus dem Garten, und wenn es keinen Spinat gab, dann eben Mohrrüben oder Bohnen, oder was es gerade gab, und Salzkartoffeln, und im Winter holte sie Sauerkraut hoch oder kochte Wirsingkohlsuppe und machte sich nichts daraus, daß ihre Kinder an die Weltraumforschung und Tiefkühlkost glaubten, seit sie alle aus dem Haus waren und eigene Familien hatten, an die sie am Anfang geglaubt hatten und allmählich mit den Jahren nicht mehr so eifrig glaubten.
Ich kann mich nicht mehr erinnern, woran ich geglaubt habe, als meine Großmutter starb. Aber ich weiß noch, daß viele Jahre vorher schon die Zeit der Schokoladenriegel und der sieben Hexenhühnereier eines Tages plötzlich zu Ende gewesen war und das richtige Leben begann, als mein Vater beschloß, an die Freiheit zu glauben, und wir wegen der Freiheit aus dem Osten weg und in den Westen zogen, in ein winzig kleines Zimmer, und meine Großmutter nie wieder sehen durften, bis sie dann später sehr alt war und wir sie manchmal besuchten, kurz bevor sie starb.
Die Freiheit und das ganz kleine Zimmer brachten es also mit sich, daß es weder Schokoladenriegel noch Hühnereier mehr gab und mein Hexenglauben zusammenkrachte. In der Zeit waren wir dauernd mit meiner Mutter zusammen, und die hatte keine Hüte und keine Handschuhe, glaubte ganz offenbar nicht an Pfifferlinge und konnte vor allem nicht kochen, weil wir keinen Garten mehr hatten und sie vorher alles gegessen hatte, was meine Großmutter kochte, aber jetzt war meine Großmutter nicht mehr da, und statt des Gartens gab es eine Lebensmittelstelle. Wenn meine Mutter da hin ging, mußte sie auch in der Schlange stehen wie meine Großmutter, wenn sie ausging zum Metzger, bloß daß sie kein Fleisch mitbrachte und hinterher immer heulte und ich bis heute nicht vergessen habe, wie es riecht, wenn verschiedene Sachen zusammen in einen Topf getan werden, der Topf wird auf den Herd gestellt und vor lauter Heulen auf dem Herd so lange vergessen, bis die Luft im Zimmer ganz qualmig wird und stinkt und man die Fenster aufreißt, weil man denkt, man muß an dem Qualm ersticken. Das Zeug von der Lebensmittelstelle jedenfalls war kein Spinat, und es waren keine Mohrrüben, sondern es wurde beim Kochen schwarz und roch anders als das, was ich kannte.
Eines Tages gab es kein Geld. Ich erinnere mich daran. Es ist so ähnlich, wie ich mich auch an die Freiheit erinnere, an die mein Vater glaubte und die uns in das kleine Zimmer gebracht hatte. Freiheit und Kein-Geld waren beide da, obwohl man sie nicht anfassen konnte. Ich erinnere mich vor allen Dingen ganz genau daran, daß es Kein-Geld gab, bevor es Geld gab. Erst viel später gab es Geld - als erstes die Maria-Theresien-Münze, die meine Freundin Lu als Anhänger an einer Halskette trug, bevor sie später eine Kennedy-Münze hatte, nachdem Kennedy tot war und es deshalb die Kennedy-Münzen gab, und dann gab es auch die gelben und silbernen Metallscheiben, die man fest in die Faust einschließen mußte und nicht verlieren durfte, weil dafür der Schulkakao verteilt wurde, und die dem Busfahrer hingelegt wurden, damit er einen in die Stadt mitnahm, aber zunächst einmal gab es Geld nur als Kein-Geld, und das machte mich unruhig und mißtrauisch, weil Kein-Geld der Grund war, warum mein Vater meine Mutter anschrie und meine Mutter heulend zurückschrie, und das kleine Zimmer war nicht groß genug zum An- und heulenden Zurückschreien, und jedenfalls ging es immer hin und zurück, bis meinem Vater das Zimmer zu klein war. Ich brauche meine Freiheit sagte er, und meine Mutter erwähnte Kein-Geld, und dann ging mein Vater weg. Später sagte sie, ich habe an die große Liebe geglaubt, damals, aber seitdem glaubte sie nicht mehr an die große Liebe, die es gegen die Freiheit und Kein-Geld nicht geschafft hatte, obwohl mein Vater schließlich wieder zurückkam und viele Jahre nicht mehr von der Freiheit sprach, weil zunächst Kein-Geld in Geld umgewandelt werden mußte, damit die Kinder eine Zukunft hätten.
Kaum war er wieder zurück, glaubte er an Geld und die Zukunft der Kinder, und all dies klingt von jetzt aus gesehen geradezu völlig verdreht, obwohl auch jetzt immer noch eine Menge Leute an Geld glauben, aber das mit der Zukunft der Kinder hat sich inzwischen ausgeglaubt, und das mit dem Geld ist nur eine Frage der Zeit; von der heilen Familie oder der Demokratie oder der großen Liebe oder dem Weltfrieden ganz zu schweigen.
Birgit Vanderbeke, 1956 in der DDR geboren, wuchs nach der Übersiedlung der Familie nach Westdeutschland im Jahre 1961 in Frankfurt am Main auf, wo sie später Rechtswissenschaften, Germanistik und Romanistik studierte. Seit 1990 ist sie freie Autorin überwiegend literarischer Erzählungen und Romane, und seit 1993 lebt sie in Südfrankreich. Ihr neues Buch „Wer dann noch lachen kann“ erscheint am 1. August 2017 bei Piper. Weitere Informationen unter www.birgitvanderbeke.com.