Gekämpft ein ganzes Leben lang
Die Vita eines über 90-jährigen Mannes zeigt, wie wertvoll die Erfahrungen von Älteren für die Einschätzung aktueller politischer Entwicklungen sein kann.
„Eine überalterte Gesellschaft“? Wenn man sich anschaut, wie gut manche Senioren drauf sind, könnte man im Gegenteil zu dem Schluss komme, das Land sei „überjüngt“. Etwa der über 90-jährige Hubert, ein Bekannter der Autorin, von dem dieser Artikel handelt. Hubert war sein Leben lang politisch wach gewesen und hat nie aufgehört, sich einzumischen. Das Gute an seinen Statements zum Zeitgeschehen ist: Er weiß, wovon er redet, denn er hat viel erlebt und kann vergleichen. Manchmal kommt Hubert zu dem Urteil, dass vieles, was uns als neu verkauft werden soll, im Grunde nur eine Wiederholung von Altem in neuem Gewand ist — ein historisches Echo der Nazizeit etwa. In anderen Fällen analysiert er messerscharf, dass sich das Land in einem Verfallsprozess befindet. Dass also angeblich alternativlose Entwicklungen durchaus nicht selbstverständlich sind, weil er ja weiß, dass früher manches anders gewesen ist und sogar besser funktioniert hat. Vielleicht auch deshalb werden Ältere in unserer Gesellschaft gern ausgegrenzt, verspottet und weggesperrt. Ihre Weisheit ist unbequem und provoziert. Gerade deshalb sollten wir wieder anfangen, alten Menschen mehr zuzuhören. Ein Beitrag zum „Alt und Jung“-Spezial.
Ich war ganz „weg“ gewesen. Völlig berührt. Als ich die Einladung erhielt. Ich durfte zum Geburtstag kommen. Zum 90. Geburtstag. Dabei kannten wir uns gar nicht so gut. Ich hatte Hubert, er heißt anders, aber nennen wir ihn so, zwar schon oft getroffen, wir waren mittlerweile auch per Du. Ich hatte ihn öfter interviewt. Aber so gut kannten wir uns nicht. Bis dahin hatte ich ihn noch nie rein privat besucht. Doch ich durfte zu seinem Geburtstag kommen. Zu seinem 90. Geburtstag. Ich war aufgeregt.
Ich möchte von Hubert erzählen. Ich möchte erzählen von einem alten Mann, der als Kind der Indoktrinierung zum Opfer gefallen war. Und danach nie wieder. Bis heute nie wieder. Ich möchte von einem alten Mann erzählen, der im Kopf tausendmal beweglicher ist als die meisten Kids an der Uni, mit denen ich journalistisch immer wieder mal zu tun habe. Ich möchte von einem erzählen, der inzwischen deutlich über 90 Jahre alt ist. Und sich völlig auf sein Gefühl verlassen kann. Da können alle schreien: „So ist es! So muss es sein!“ Und er sagt: „Das ist doch bar jeden Sinnes. Das ist doch abartig. Das ist nicht gut. Das darf nicht sein!“
Es war so ein Geburtstag, ich liebe das, wo das Geburtstagskind irgendwann aufsteht und vor versammelter Mannschaft erzählt, wen er wie und wo und wann in seinem Leben kennengelernt hat. Das ist interessant. Das ist natürlich, gerade wenn viele Leute zusammenkommen — und bei Huberts 90. Geburtstag waren eine Menge Leute da —, auch eine gute Möglichkeit, die Menschen in Kontakt zu bringen. Dann hat Hubert von mir berichtet. Wie er mich kennengelernt hat. Dass er mich schätzt. Als Journalistin. Als Mensch. Ich war berührt. Ich war noch sehr viel berührter als an dem Tag, als mir die Einladung zum Geburtstag ins Haus flatterte.
Danach haben wir uns angefreundet. Seitdem haben wir viel Kontakt. Und ich darf an seinen Erinnerungen, an seinen Gedanken, an seinen Gefühlen teilnehmen. Inzwischen kommt Hubert nicht mehr viel raus. Zu seinem großen Leidwesen. Mit über 90 geht es einem nicht mehr so gut. Zum Glück ist er im Kopf absolut klar. Aber die Beine machen nicht mehr richtig mit. Seiner Frau geht es nicht gut. Nur noch selten kommen die zwei raus. An Friedensdemos teilzunehmen, wie früher oft, daran ist nicht mehr zu denken. Aber wenn irgendwo eine Friedensdemo stattfindet, ist Hubert in Gedanken dabei. Mit vielen Gedanken.
Sie sind ein Schatz
Selten ist von alten Menschen Positives zu lesen. Alte Menschen sind ein Problem. Ein demographisches Problem. Es sind zu viele alte Menschen da. Die Gesellschaft gilt als „überaltert“. Wie infam, wie brutal eine solche Aussage ist.
Wie man auf die Idee kommen kann, das überhaupt so zu sehen. So darzustellen. So medial immer wieder zu problematisieren. Alte Menschen sind ein Schatz. Also das gilt natürlich nicht immer und überall und für jeden. Journalistisch arbeite ich allerdings tatsächlich unglaublich gern mit alten Menschen zusammen. Die können sagen, was sie denken. Die müssen nicht mehr loyal sein. Nicht mehr vorsichtig. Die haben nicht mehr viel zu verlieren. Sie sind frei.
Und ich sehe immer wieder diesen Unterschied, der bei Hubert besonders deutlich ist: Während die Jüngeren unablässig in dieselbe Kerbe schlagen, ohne Veränderungen zu checken, bemerkt jemand wie Hubert untrüglich, dass die Karten völlig neu gemischt sind. Dass es nun in andere Kerben zu schlagen gilt. Dringend. Der Grüne, der heute der Regierung angehört, ist nicht mehr der Grüne aus jener Zeit, als man noch ziemlich sicher sein konnte, dass jede Latzhosenträgerin den Frieden will.
Hubert gehörte sein Leben lang niemals zu jenen, die allein froh darüber sind, dass man sich wenigstens sein Teil denken darf. Man muss ja nicht gleich alles ausspucken.
Hubert verstand sich stets als Teil einer Gegenbewegung zu dem nach seinen Erfahrungen und Beobachtungen niemals ausgerotteten Nazifaschismus. Hubert trat immer für das Menschliche ein. Für den Frieden.
Das kann ich als seine journalistische Wegbegleiterin bezeugen.
Und er nahm immer hin, dass die Einforderung von Menschlichkeit, von Frieden Nachteile mit sich bringt. Diffamierung. Schon einst. Spricht man mit ihm, liest man seine Aufzeichnungen, bewahrheitet sich der alte Satz: Es gibt wenig Neues unter der Sonne.
Beleidigt und bespuckt
Niemals sollten wir wieder Feinde haben, niemals wieder Feinde hassen müssen, nie wieder sollte irgendwer ein Gewehr in die Hand nehmen, um zu üben, gegen potentielle Feinde zu kämpfen. Das war Huberts großer Wunsch. Davon war er beseelt. Dafür setzte er, der — noch nicht volljährig — kurz vor Ende des letzten großen Krieges noch zur militärischen Ausbildung abkommandiert wurde, sich ein. Dass es wieder eine Bundeswehr geben sollte, war ein Schock für ihn gewesen. „Ich stand vor den Türen in der damaligen Zentralschule, wo die Bundeswehr ihre Schäfchen registriert und beraten hat, wollte dagegen was tun, wurde beleidigt und bespuckt“, erinnert er sich.
Dass genau da der Hase im Pfeffer liegt, warum sah das niemand? „So wie ich geglaubt habe, dass die Menschen nichts mehr mit den Nazis am Hut haben, erwartete ich auch, dass meine Landsleute nicht mehr in die Kasernen strömen“, sagt Hubert. Da sieht also einer sehr früh: Das ist der erste Schritt zu etwas, was nie mehr sein soll. Doch Zweifel regen sich nirgends sonst. Fast nirgends. Es wird hingenommen. Mitgemacht. Heute sehen wir: Es war der erste Schritt.
„Als die Bundeswehr eingeführt wurde, war‘s für mich gelaufen“, erzählt Hubert. Seitdem sieht er sich als „heimatlos“ an. Ein Heimatloser zu Lebzeiten. Doch auch das betont er: „Niemals habe ich aufgegeben, Stellung zu nehmen, meine Meinung zu sagen und zu schreiben.“
Seine alten Freunde irritiert das. Seine alten Freunde, mit denen er viele Jahre lang Seite an Seite kämpfte gegen alles, was menschenverachtend, menschenfeindlich, lebensverachtend ist, kommen nicht mehr mit. Seine alten Freunde, die nicht so beweglich sind im Kopf wie er — die meisten auch ein paar Jahre jünger —, sind von ihm völlig irritiert.
„Das ist keine SS“
Der Knackpunkt ist die AfD. Nun ist Hubert todsicher kein fanatischer Anhänger dieser Partei. Er ist gar kein Anhänger dieser Partei. Er sieht vieles in dieser Partei kritisch. Aber er hat viel gelesen. Viel beobachtet. Er hat sich Gedanken gemacht. Und kommt zu dem Schluss: „Die AfD ist keine SS.” Vor allen Dingen: Wir haben sehr viel größere Probleme, nach seiner Überzeugung, als die AfD.
„Das Überhandnehmen des Militärischen wird bei uns einfach hingenommen, während sich das tumbe Volk einreden lässt, wir hätten jetzt ein Wahnsinnsproblem mit Rechtsextremismus”, sagt Hubert. Und: „Ich lebe in einer Masse von Lebewesen, die gar nicht merken, dass sie gelebt werden.“ Leben. Wach leben. Aus einem untrüglichen Gefühl heraus. Denken. Selbst denken. Selbst Schlüsse ziehen.
Für Hubert, der aus einfachen Verhältnissen kommt, war das nach 1945 immer selbstverständlich gewesen. Er hat ja einen Kopf. Und der Kopf ist zum Denken da. Bei jedem. Dafür musst du kein Akademiker sein. Auch Hubert durchlief nur acht Volksschulklassen. „Ich bin das, was man den ‚Kleinen Mann’ nennt, kein ‚Gebildeter’, durch Promotion geadelter Bürger“, sagt er. Womöglich ist das sein Glück. Denn ob Medienpolitik oder Bildungspolitik: Selbstdenker wollen „sie“ ja ohnehin nicht.
Folgendes schrieb Hubert seinen Freunden über die AfD:
„Indem wir sie ausgrenzen, ihnen Rechte im Parlament vorenthalten, machen wir sie zu Opfern. Ich denke, wenn wir mit ihnen reden, ihnen zuhören, mit ihnen streiten, können wir auch ihre Strukturen verändern. Die Abgeordneten der AfD sind von uns Bürgern gewählt worden. Und wenn einer im Parlament was Richtiges sagt, sollte man das akzeptieren. Mit Ausgrenzen hat man bisher nur den Radikalen zugearbeitet.”
Besser ignorieren
So etwas wird ignoriert. Man wendet sich lieber ab. Warum soll man einen über 90 Jahre alten, kranken Mann zusätzlich kränken. Unwahrscheinlich, dass man ihn wieder auf den richtigen Weg zurückbringen kann. Wahrscheinlich hat bei ihm der Altersstarrsinn eingesetzt. Für die alten Freunde ist hundertprozentig klar: Kein AfDler dieser Welt könnte jemals irgendetwas Richtiges sagen. Wenn ein AfDler das Maul aufmacht, gilt es reflexartig zu kontern: Verbreite nicht solche Latrinengerüchte! Undenkbar, dass ein guter Kern in irgendeinem AfDler steckt. So was glaubt jemand wie Hubert? Mensch, der hat ja eine blühende Fantasie!
Im Grunde wundert Hubert das alles nicht. Denn er erkennt ein Muster.
Das ist das Faszinierende im Kontakt mit alten Menschen, mit alten, wachen Menschen: Sie können dir davon erzählen, dass das, was geschieht, so neu gar nicht ist.
So war es ja auch nach dem letzten großen Krieg, erzählt Hubert: „Die Medien waren vollauf damit beschäftigt, die Kommunisten im Zaum zu halten.“ Dass die Nazis überall Einzug hielten, davon wurde abgelenkt.
Allein fühlt sich Hubert heute. Einsam. Immer wieder, wenn wir reden, spricht er davon. „Immer mehr und heftiger spüre ich, ich bin fast allein“, sagte er neulich erst wieder. Die ganz engen Freunde, die wahrscheinlich bis heute mit ihm am gleichen Strang ziehen würden, sind tot. Die anderen haben sich abgewandt. Von einem, wie sie überzeugt sind, der auf seine alten Tage das Lager gewechselt hat. „Doch auch wenn man mich steinigt: Ich habe mit meinem ganzen Lebenslauf gezeigt, dass ich kein Nazi bin“, sagt Hubert.
Die großen Redner
Es gibt so wenig Hoffnung. Das macht Hubert fertig. Das war früher anders gewesen. Gut war es ja nie gewesen. Das hat Hubert erfahren, das hat er beobachtet, das hat er am eigenen Leib erlebt. Aber es gab zumindest Gutes im Schlechten. Es gab zum Beispiel Diskussionen im Bundestag, erzählt er mir, wo man die Ohren aufsperren musste. Kein dummes, seichtes Palaver. Redebeiträge mit Substanz: „Herbert Wehner, Erhard Eppler, Fritz Erler, bei ihren Reden und Diskussionen fieberte ich mit.“
Wirklich einschätzen, dass es eine verdammt dekadente Epoche ist, in der wir leben, kann im Grunde nur jemand, der selbst schon sehr viel erlebt hat.
Durch sehr viel gegangen ist. Als Kind ist Hubert begeistert mitmarschiert. Natürlich, sagt er, sei er in der Hitlerjugend gewesen. Wer wäre daran vorbeigekommen. Ein Lehrer hat ihn vom Nationalsozialismus begeistert: „Durch seinen Einfluss hing bei uns daheim die Hakenkreuzfahne raus.“
Nichts, kein allerwinzigster Rest von dem, was das Kind begeistert hatte, ist geblieben nach 1945. Seitdem hat Hubert immer alles getan, bei den unterschiedlichsten Organisationen, jahrzehntelang, um für die Abwendung der allerersten kriegerischen Tendenz zu kämpfen. Vergebens. Nun rückt er wieder näher und näher. Der Krieg.
„Der Krieg wird heute behandelt wie etwas, was es nun mal gibt“, meint er. Und: „Ich sage: Er ist unmenschlich, er ist der Menschen unwürdig. Und wer den Krieg beginnt, ihn fördert, fordert oder unterstützt, begeht ein Verbrechen. Diejenigen, die schuld sind an solchen Konflikten, sind Verbrecher, genauso wie die, die daran verdienen. Jene Menschen, die im oder durch Krieg verletzt, getötet, verwaist, verarmt oder heimatlos geworden sind, das sind die Opfer, und nur ganz selten ist einer der Kriegstreiber mit dabei.“
Hubert hat gekämpft, er hat für Frieden gekämpft sein Leben lang, jedoch ohne Erfolg. „Das Kartell steht“, schreibt er mir. „Man schlägt gegen Gummiwände.“