Geiser

Eine Kurzgeschichte des Poeten Peter Fahr beschäftigt sich mit einer selten gestellten Frage: Wie steht es um die Psyche der Durchführenden von Tierversuchen?

Wie gehen wir mit Menschen um? Wie gehen wir mit Tieren um, an denen wir wissenschaftliche Versuche durchführen? Über die Grausamkeit von Tierversuchen macht man sich entweder gar keine Gedanken, oder man hält die Beteiligten schlicht für Unmenschen, deren Verhalten ein Rätsel bleibt. Wie könnte die innere Entwicklungsgeschichte solcher Personen verlaufen? Und gibt es eine Möglichkeit, aus der Routine gewordenen Unmenschlichkeit auszusteigen? Die Fragen, die in dieser Kurzgeschichte beleuchtet werden, stellen sich auch bei den noch immer in großer Zahl verübten Grausamkeiten von Menschen gegen Menschen.

Ungewöhnlich lange hat man ihn in der Eingangshalle nicht mehr gesehen. Der Mann am Empfang weiß es genau. Seit drei Tagen hat sich der Herr von Zimmer 19 nicht gezeigt. Der Schlüssel am Brett fehlt und das Fach unter dem Haken ist leer. Auf der Anmeldekarte steht in schwungvoller Schrift „Geiser“. Der Mann am Empfang beschließt, mit der Überprüfung des abwesenden Gastes einen weiteren Tag zuzuwarten.

Das Zimmermädchen

Als er auch am nächsten Tag nicht auftaucht, wird ein Zimmermädchen nach oben geschickt. Die Frau klopft an die Tür. Drinnen bleibt es still. Sie öffnet und betritt das Zimmer. Es ist hell und macht einen ordentlichen Eindruck. Ein Blick ins Bad genügt, um festzustellen, dass der Gast nicht abgereist ist.

„Was suchen Sie hier?“

Die Frau fährt zusammen. Im Gegenlicht des Fensters bemerkt sie den vermissten Gast. Hingestreckt auf dem Bett wie ein verwundetes Tier, blickt er in ihre Richtung. Sein Gesicht ist kaum zu erkennen, es scheint verzerrt, obwohl der Mund lächelt.

„Wer sind Sie?“, fragt die Stimme etwas sanfter.

„Ich bin das Zimmermädchen. Man hat mich beauftragt, nach Ihnen zu sehen, ob alles ...“

„Ob ich noch nicht abgekratzt bin. Seien Sie beruhigt, ich lebe noch. Ich stell mir vor, noch zu leben.“ Der Mann beugt sich über den Bettrand. „Sie werden Ihr Geld schon bekommen. Geiser ist nur ein bisschen müde. Wie heißen Sie?“

„Selina.“

„Ach ...“

Der Mann richtet sich auf. Er ist etwa vierzig Jahre alt, trägt einen dunklen Bart und hat schlanke Hände. Von der Stirn rinnt ihm der Schweiß, das offene Hemd klebt an der Brust.

„Bitte“, seine Stimme klingt jetzt sanfter, „lassen Sie mich in Ruhe.“

„Ist Ihnen nicht gut? Soll ich einen Arzt rufen?“

„Lassen Sie mich allein.“

In der offenen Tür bleibt die Frau stehen. „Haben Sie noch einen Wunsch?“ Da der Mann schweigt, grüßt sie und geht.

Die Geliebte

Geiser hört, wie sich die Schritte entfernen. Regungslos liegt er da. Die Stille legt sich schwer auf ihn. Sein Blick schweift von der Reproduktion an der Wand, dem Sämann van Goghs, zum Fenster. Draußen schweben große Flocken zur Erde. Die Welt wird weiß, denkt er, die Dächer, die Gärten, die Straßen, alles wird weiß. Er horcht und vernimmt ein dumpfes Rauschen. Der Verkehrslärm erstickt im Schnee.

Gegen Abend erwacht Geiser aus einem tiefen Schlaf. das Kissen ist feucht vom Schweiß. Er erhebt sich, wankt zum Waschbecken und lässt es volllaufen. Im Spiegel entdeckt er seinen Kopf. Bin das ich? Strähniges Haar, gerötete Augen, eingefallene Wangen. Kein Wunder, dass sie mich verlassen hat.

Er erinnert sich genau an die Zeit mit Selina. Sie lernten sich an einem Kongress kennen. Thema der Tagung: Internationale Krebsforschung. Beim Mittagessen unterhielten sie sich, am Abend fragte er, ob sie sich wiedersähen. Selina nickte. Ein Laborant machte einer engagierten Ärztin den Hof. Später zogen sie zusammen und heirateten.

Geiser trocknet sein Gesicht.

Ich habe sie geliebt, ihr ausgelassenes Wesen, ihre heitere Ernsthaftigkeit, ihre launischen Einfälle. Ich sehe sie vor mir — große, wache Augen, eine etwas zu spitze Nase, aufgeworfene Lippen, hochgestecktes Haar — ein vornehmes Aussehen, beinahe aristokratisch. Selina arbeitete in der Krebsforschung. Sie lebte für ihren Beruf. Verglichen mit ihr, kam ich mir oft vor wie ein Verräter an der guten Sache. Meine Zweifel am Sinn der Pharmaindustrie, für die ich Tierversuche durchführte, festigten sich von Jahr zu Jahr. Ich gelangte zur Einsicht, meine besten Jahre damit zu vergeuden, barbarische Experimente durchzuführen, teure Medikamente zur Bekämpfung des vorbestimmten Schicksals zu entwickeln und diese dann an Freiwilligen, zumeist Sträflingen und Asylsuchenden, zu testen.

Die Dunkelheit breitet sich langsam im Zimmer aus. Geiser steht am Fenster, vornübergebeugt, und sieht auf die verzuckerte Straße hinab. Die Autos schwimmen mit eingeschalteten Scheinwerfern durch die Nacht. Auf dem Gehsteig drängen sich die Menschen. Sie sind lautlos, aber hektisch, eingepackt wie die Mumien, anonyme Geschöpfe, die von irgendwoher kommen und nach irgendwohin gehen.

Und schließlich mein Ausbruch, vor einem Monat, der Entschluss, das Labor nie wieder zu betreten. Selina brachte kein Verständnis auf, sie begriff nichts. So gefühllos und fremd hatte ich sie noch nie erlebt. Außer sich vor Wut schrie sie mich an: „Der winzige Laborant wagt es, die Medizin in den Schmutz zu ziehen! Du hast ja keine Ahnung, wovon du sprichst. Glaub mir, wir werden den Krebs auch ohne deine Hilfe besiegen. Wie kannst du dich nur auf die Seite der Krankheit stellen?"

Der Arzt

Ein heftiges Pochen reißt Geiser aus den Gedanken. Er schleppt sich zum Bett, schlägt die Decke zurück und kriecht zwischen die Laken.

„Herein!“

Ein alter Mann betritt den Raum. In der einen Hand trägt er eine Tasse, in der anderen einen kleinen Koffer. Verwundert bleibt er stehen. Dann macht er Licht.

„Entschuldigen Sie die Störung, aber ich glaube, die Kamille wird Ihnen guttun.“ Er stellt die Tasse auf den Tisch, rückt den Stuhl ans Bett und setzt sich. „Mein Name ist Schmitt, ich bin Arzt. Man hat mir gesagt, Sie seien krank.“ Geiser schweigt. „Haben Sie irgendwelche Beschwerden: Husten, Kopfschmerzen, Brechreiz?“

„Glauben Sie immer, was man Ihnen sagt?“

„Ich tue meine Pflicht.“ Der Alte schmunzelt. „Erlauben Sie?“ Er legt Geiser die Hand auf die Stirn. „Sie haben Fieber. Ich nehme an, es hat Sie erwischt.“

Jetzt muss Geiser schmunzeln. „Kann man wohl sagen.“

„Sind Sie schon lange krank?“

„Elf Jahre war ich krank, ohne es zu merken. Elf Jahre lang habe ich im Namen Ihrer heiligen Wissenschaft Tiere gequält und umgebracht, habe Menschen benutzt und misshandelt, elf Jahre lang habe ich mich aufgelehnt gegen das Leid, gegen die Qual, gegen den Tod. Und dabei habe ich meine Menschlichkeit verloren.“

Schmitt schweigt.

„Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?“ Geiser sieht den alten Mann an. Der blickt zur Seite und kramt im Koffer, setzt die Brille auf und kramt weiter. Von der Straße ertönt ein Hupkonzert. Geiser stößt den Alten an, ihre Blicke treffen sich erneut. „Täten Sie es, wären Sie nicht Arzt geworden.“

Der Arzt stellt ein Fläschchen mit Pillen auf den Tisch. „Schonen Sie sich. Ich lass Ihnen etwas gegen das Fieber da.“ Er reicht Geiser die Hand: „Sie sind übermüdet, brauchen Pflege. Ich werde das Nötige veranlassen. Mehr kann ich für Sie nicht tun.“

Der Abteilungsleiter

Wieder allein, drückt Geiser die Zigarette aus und zündet sich eine neue an. Erinnerungen an die letzten Tage im Labor steigen in ihm hoch. Er versuchte, die Kollegen von der Sinnlosigkeit ihrer Arbeit zu überzeugen. Bald erschien Abteilungsleiter Stieglitz und wies ihn vor den Kollegen zurecht. Am Tag darauf, im Anschluss an die Auseinandersetzung mit Selina, blieb er dem Arbeitsplatz fern. Es folgten Wochen der Zwietracht, bis Selina ihn schließlich verließ.

Und zuletzt das Theater der Rechtfertigung: Erwartungsgemäß wurde ich vor den Abteilungsleiter zitiert, dass ich mich für mein Wegbleiben verantworte. Stieglitz war ein rundlicher Mann, jünger als die meisten seiner Untergebenen und stets tadellos gekleidet. Weiß war seine Lieblingsfarbe. Die Einrichtung seines Büros bestand aus einem weißen Schreibtisch, weißen Ledersesseln und weißen Aktenschränken. Stieglitz kommt ohne Umschweife zur Sache. Was ich mir dabei gedacht habe, ob ich ahne, was für Konsequenzen mein Verhalten heraufbeschwöre, ob ich dieses Unternehmen für einen Rummelplatz halte, wo jeder kommen und gehen könne, wann es ihm beliebe, wie ich mir denn meine Zukunft vorstelle ... Ich höre wortlos zu, bis Stieglitz, die Hilflosigkeit in Person, mich anfährt: „Oder sind Sie etwa krank?“

Da stehe ich auf und leere den Inhalt einer mitgebrachten Tasche, Kadaver von Versuchstieren, über den Schreibtisch aus. Eine Katze mit freigelegtem Hirn, Mäuse und Ratten voller Geschwüre, ein Äffchen mit Kropf, zwei Kaninchen, denen die Eingeweide aus den Bäuchen hängen. Stieglitz springt auf, „Mein Gott!“ stammelnd und ruft nach der Assistentin. Die kommt angerannt und stürzt kreischend wieder hinaus und rückt mit einigen Mitarbeitern im Schlepptau wieder an und es entsteht ein Tumult, in dessen Verlauf ich mich vor Stieglitz aufpflanze und brülle: „Ich kündige!“

Jetzt liegt Geiser in einem fremden Bett, in einer fremden Stadt, und wundert sich, wie gegenwärtig alles ist. Selina, die Kollegen vom Labor, Stieglitz, das Zimmermädchen, Schmitt — sie alle stehen um sein Bett herum und schauen voller Mitleid auf ihn herab. Und er füllt die Lungen mit Rauch, bläst Ringe zur Decke und sieht zu, wie sie sich in nichts auflösen. Auf einmal begreift Geiser das Bild an der Wand. Auf einmal überkommt ihn eine seltsame Zufriedenheit. Auf einmal ist ihm klar, richtig gehandelt zu haben. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlt er sich wirklich frei. Endlich frei. Und erfüllt vom Verlangen, zu Ende zu führen, was er begonnen hat.