Gegen die Barbarei
Die Philosophin Hannah Arendt bewunderte Rosa Luxemburg als mutige Revolutionärin, die mitunter auch ihr eigenes Umfeld provozierte. Teil 1/2.
Hannah Arendt rückte das über Rosa Luxemburg von ihrer eigenen Partei, der SPD, gefällte Urteil, sie sei eine Person, die „in allem irrte“, zurecht. Die wohl noch immer international wichtigste Totalitarismusforscherin stellte dieser Verzerrung mit ihrer Buchbesprechung der 1966 veröffentlichten Luxemburg-Biografie von John Peter Nettl das von diesem gezeichnete Bild der präzisen politischen Analytikerin und leidenschaftlichen Agitatorin „mit untrüblichem Wirklichkeitssinn“ und höchster moralischer Integrität gegenüber, die in — beinahe — allem recht hatte.
„Die“ Totalitarismusforscherin (1) nimmt die von dem englischen Historiker John Peter Nettl erstmals 1966 von Oxford University Press veröffentlichte Biografie über Rosa Luxemburg zum Anlass, ihre Begeisterung über die in Polen im Jahr 1871 oder 1870, geborene Revolutionärin zu bekunden. Das Geburtsdatum ist nicht eindeutig geklärt, Luxemburg selbst setzte unterschiedliche Dokumente zu verschiedenen Anlässen ein (2).
Ihre Rezension liest sich daher auch wie eine Hommage an diese, so Arendt „außergewöhnliche Frau“ (3). Ihre Buchbesprechung ist zuerst in der New York Review of Books unter dem Titel „A Heroine of the Revolution“ erschienen und mit der Dezember-Ausgabe der Zeitschrift Der Monat 1968 in deutscher Fassung publiziert. Kurz zuvor, im Oktober 1968, starb der im Jahr 1926 geborene Autor bei einem Flugzeugunglück in Vermont, USA (4). Die deutsche Übersetzung seines opulenten Werkes „Rosa Luxemburg“ mit mehr als 800 Seiten und vielen Originalzitaten hatte 1967 der Kölner Kiepenheuer & Witsch Verlag herausgegeben (5).
Arendts „persönlichste Arbeit“, ihr Essay über Rosa Luxemburg
Arendts Freundin, die US-amerikanische Autorin Mary McCarthy (1912 bis 1989), gibt ihr die Einschätzung ihrer gemeinsamen Bekannten, der Cembalistin Sylvia Marlowe, wieder, die nicht nur ganz „vernarrt“ in diesen Essay sei, sondern ihn für „Hannahs persönlichste Arbeit“ hält. Mit McCarthy pflegte die „politische Theoretikerin“ über Jahrzehnte bis an ihr Lebensende intensiven, vor allem auch Brief-Kontakt.
Marlowes Vorstellung, so schrieb McCarthy, die seit den 1950er in Italien und später in Frankreich lebte, in ihrem Brief von Oktober 1966 „daß du dich mit Rosa Luxemburg ‚identifiziert‘ hast und ihren Streit mit den deutschen Sozialisten als Deinen Streit mit den organisierten Juden ansiehst.“ McCarthy versichert allerdings, dass sie selbst „diese Identifizierungstheorie“ abgelehnt hätte, schränkt aber ein: „vielleicht irre ich mich“ (6).
Die Verbundenheit der beiden Freundinnen basiere, so heißt es bereits auf dem Klappentext der deutschen Veröffentlichung ihres umfangreichen Briefwechsels, darauf, dass sie jeweils im Wesen der Anderen das „enfant terrible“ erkannt hätten, das sein Leben lang, „den respektlosen Blick auf die Dinge wagt, das die offene, streitbare Rede, das ‚Denken ohne Geländer‘ (Arendt) übt.“ Arendt sei von Mary McCarthy fasziniert gewesen, weil diese „sich das Staunen des Kindes bewahrt hat, das entdeckt, daß ‚der Kaiser keine Kleider anhat‘“ und McCarthy „bewunderte Hannah als den einzigen Menschen, ‚dem sie beim Denken zugeschaut‘ hat.“
„Wie“, so stellt Arendt in ihrem Essay einleitend die Frage, „hat Peter Nettl seine Aufgabe nur erfüllen können — mit dieser Frau, die ganz jung aus ihrem heimatlichen Polen in die sozialdemokratische Partei verschlagen wurde, die weiterhin eine entscheidende Rolle in der halb unbekannten, vernachlässigten Geschichte des polnischen Sozialismus spielte und die dann ungefähr zwei Jahrzehnte, ohne je offiziell anerkannt zu werden, die umstrittenste und mißverstandenste Gestalt der deutschen Linken werden sollte?“
Und beantwortet sich ihre Frage selbst, indem sie ausführt, dass „der geniale Einfall“ des Autoren mit der speziellen Herangehensweise in England bei diesem Genre zusammenhängt, bei dem der Verkaufserfolg eines solchen Werkes weniger von der Berühmtheit der porträtierten Person die entscheidende Rolle spiele, als vielmehr das Geschick des Biografen, durch den dargestellten Protagonisten gleichzeitig dessen geschichtlichen Kontext auszuleuchten. Dies, so führt Arendt aus, im besten Fall auf eine Weise, „als würde das farblose Licht der historischen Zeit durch einen bedeutenden Charakter hindurchgeschickt und von ihm, wie in einem Prisma gebrochen, so daß sich in dem entstehenden Spektrum die völlige Einheit des Einzellebens und der Welt verwirklicht“ (7).
Die Ermordung Rosa Luxemburgs war der Scheitelpunkt zum Faschismus
Und exakt das sei Nettl mit seiner Biografie über Rosa Luxemburg gelungen: Sie kenne, schreibt Arendt, „kein Buch, das mehr Licht auf diese entscheidende Epoche des europäischen Sozialismus wirft (…) bis zu den verhängnisvollen Tage im Januar 1919, an dem Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die beiden Führer des Spartakus-Bundes, des Vorläufers der Kommunistischen Partei Deutschlands, in Berlin ermordet wurden, vor den Augen und möglicherweise mit dem Einverständnis des an der Macht befindlichen Regimes.“ Um gleich darauf „Roß und Reiter“ dieser politischen Morde zu nennen: Es „waren Mitglieder des ultra-nationalistischen und offiziell verbotenen „Freikorps“, eine paramilitärische Organisation, aus deren Reihen Hitlers SA bald ihre verheißungsvollen Totschläger rekrutieren sollte.“ Die Mörder, so Arendt, genossen die „volle Unterstützung“ der seinerzeit von der Mehrheits-SPD unter Reichskanzler Friedrich Ebert geführten Regierung (8).
Diese Schuld ist in der Bundesrepublik, anders als in der ehemaligen DDR, nie aufgearbeitet, die Morde sind nie gesühnt worden. Arendt kritisierte die Haltung der damaligen Bonner Regierung unter Konrad Adenauer (CDU), die zu verstehen gegeben hatte, „daß es sich bei der Ermordung von Liebknecht und Rosa Luxemburg um eine Hinrichtung in Übereinstimmung mit den Kriegsgesetzen und somit um einen legalen Vorgang gehandelt habe“ (9).
Arendt hingegen sieht in den Morden den Wendepunkt, der in den Faschismus führte, dessen „historische Funktion“, Rudi Dutschke (1940 bis 1975) zufolge, darin lag, „die proletarische Revolution zu verhindern“. Daraus leitete der an den Spätfolgen des auf ihn von einem „Einzeltäter“ verübten Attentates gestorbenen „Studentenführer“ und Revolutionär in seiner 1968 auf dem „Internationalen Vietnam-Kongreß in West-Berlin“ gehaltenen Rede ab:
„Der heutige Faschismus steckt in den autoritären Institutionen und im Staatsapparat. Den letzteren zu sprengen ist unsere Aufgabe, und daran arbeiten wir“ (10).
Über den Weg in Deutschland, der nach dem Ersten Weltkrieg in den Faschismus führte, schreibt Arendt:
„Da dieses frühe Verbrechen von der Regierung geduldet und unterstützt worden war, leitete es den Totentanz im Nachkriegsdeutschland ein. Die Mörder der extremen Rechten begannen damit, die hervorragenden Führer der extremen Linken zu liquidieren – Hugo Haase und Gustav Landauer, Leo Jogiches und Eugen Leviné — und gingen zur Mitte und zu den Halb-Rechten über – zu Walther Rathenau und Mathias Erzberger, die beide zur Zeit ihrer Ermordung Regierungsmitglieder waren.“
Es wurde eine „Art Scheitelpunkt zwischen zwei Epochen der deutschen Geschichte und außerdem zu einem point of no return für die deutsche Linke“ (11).
Rosa Luxemburg und Clara Zetkin — „die letzten beiden Männer der SPD“
Unmittelbar nach dem Tod Luxemburgs, „nachdem alle konfessionellen Schattierungen der Linken schon beschlossen hatten, daß sie immer ‚geirrt‘ habe, (…) fand eine merkwürdige Veränderung in ihrer Beurteilung statt,“ schreibt die Rezensentin. Zerstört wurde „das falsche Bild von der blutdurstigen ‚Roten Rosa‘ (…) wenigstens außerhalb der engstirnigen antisemitischen und reaktionären Kreise.“ Es entstand hingegen, auch durch die Herausgabe ihrer privaten Briefe, ein gleichfalls falsches Bild von der „Blumen- und Vogelfreundin“.
Diesen Kitsch greift Nettl in seiner Biografie nicht auf, merkt Arendt dankbar an. Er verdeutlicht deren Charakterzüge vielmehr beispielhaft durch die Beschreibung von einzelnen, für sie bezeichnenden Begebenheiten wie diese: Als sich Luxemburg 1907 in Begleitung ihrer Freundin Clara Zetkin durch ihren ausgedehnten Spaziergang bei einer Verabredung mit dem bereits um sie besorgten August Bebel verspätete, „schlug Rosa als Grabinschrift für die beiden Verlorengegangenen vor: ‚Hier ruhen die letzten beiden Männer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands‘“ (11).
Sieben Jahre später, so Arendt, „im Februar 1914, hatte sie Gelegenheit, den grausamen Scherz wahrzumachen, als sie sich in einer großartigen Rede vor der Strafkammer verteidigte, vor der sie wegen Aufwiegelung und Aufforderung zum Ungehorsam im Kriegsfall stand“. Dies sei im übrigen kein schlechtes Zeichen für eine Frau die ‚immer unrecht hatte‘“, fügt Arendt hinzu, „fünf Monate vor Ausbruch des Weltkrieges, den die meisten ‚ernstzunehmenden‘ Menschen für unmöglich hielten, unter solcher Anklage vor Gericht zu stehen.“ Nettl, so Arendt, „hat dankenswerterweise den vollständigen Text der Ansprache abgedruckt; an ‚Männlichkeit‘ hat er in der Geschichte des deutschen Sozialismus nicht seinesgleichen“ (12).
Dennoch, so Arendt, nichts von dem, was Luxemburg geschrieben oder gesagt hatte, überlebte „mit der Ausnahme ihrer überraschend genauen Kritik an der bolschewistischen Politik während der frühen Stadien der Russischen Revolution“. Und diese, so die Interpretation der Autorin, auch nur, „weil sie von enttäuschten Exkommunisten als bequeme, wenn auch völlig unzulängliche Waffe gegen Stalin verwendet werden konnte“. Tatsächlich hätten „ihre neuen Bewunderer (…) ebensowenig mit ihr gemein wie ihre Verächter“. Luxemburgs „hochentwickeltes Verständnis für die eigentlichen Unterschiede und ihr untrügliches Urteil, ihre persönlichen Neigungen und Abneigungen“, stellt Arendt klar, „würden es ihr unter keinen wie immer gearteten Umständen erlaubt haben, Lenin und Stalin in einen Topf zu werfen“ (13).
Auch hätte Luxemburg niemals zu „den Gläubigen“ gehört. Sie hatte Politik niemals „als Religionsersatz aufgefaßt und sich immer gehütet, die Religion als solche anzugreifen, wenn sie sich gegen die Kirche wandte“. Vollkommen zu Recht hätte Nettl daher herausgestellt:
„Wenn für sie ‚die Revolution ebenso nah und wirklich war wie für Lenin‘, so galt sie ihr doch genausowenig als Glaubensartikel wie der Marxismus.“
„Lenin war in erster Linie ein Mann der Tat und würde sich in jedem Fall politisch betätigt haben“, schreibt Arendt. Luxemburg dagegen, „die nach ihren eigenen halb ernstgemeinten Aussagen ‚zum Gänsehüten‘ auf die Welt gekommen war, hätte sich genauso gut in Botanik oder Zoologie vertiefen können oder in Geschichte, Nationalökonomie, Mathematik, wenn nicht die Zeitläufe ihren Sinn für Gerechtigkeit und Freiheit verletzt hätten“.
Die Revolutionärin war keine orthodoxe Marxistin, es ließe sich sogar bezweifeln, „ob sie überhaupt Marxistin war“. Arendt stimmt dem Biografen zu, wonach Marx in den Augen Luxemburgs „nichts anderes war als ‚der beste aller Ausdeuter der Wirklichkeit‘“.
Als Beleg für ihren Nonkonformismus führt Nettl unter anderem den Brief an ihren Freund Hans Diefenbach vom März 1917 an. Darin schreibt Luxemburg: Ihr sei „der vielgerühmte erste Band des Marxschen ‚Kapital‘ mit seiner Überladung an Rokoko-Ornamenten im Hegelschen Stil jetzt ein Greuel (wofür vom Parteistandpunkt 5 Jahre Zuchthaus und 10 J. Ehrenverlust verwirkt sind)“. Arendt folgert daraus, dass Luxemburg über alles die Wahrheitssuche stellte und es ihrer Meinung nach „mehr noch als auf die Revolution“ darauf ankam „die Wirklichkeit in allen ihren erschütternden Aspekten“ zu erfassen.
Ihre Unorthodoxie sei „unbefangen und unpolemisch“, greift Arendt Nettls Beschreibung auf. Ihren Freunden empfahl Luxemburg, „Marx zu lesen ‚wegen der Kühnheit seiner Gedanken, der Weigerung, irgend etwas als feststehend anzunehmen’, eher als um seiner Schlußfolgerungen willen, seine Irrtümer waren augenscheinlich“. Deshalb, so Arendt, machte sich Luxemburg „gar nicht erst die Mühe einer ausführlichen Kritik“.
All das tritt, so die Autorin, in der „Akkumulation des Kapitals“, ihrem großem Buch über den Imperialismus, deutlich zutage, das „allein Franz Mehring vorurteilsfrei genug war, ‚einfach genial‘, eine ‚wahrhaft großartige hinreißende Leistung‘ zu nennen, ‚die seit Marx‘ Tode ihresgleichen nicht habe’“. Von Seiten ihrer Partei, der SPD, sei ihre Analyse „immer mit einem Achselzucken beiseite geschoben worden“. Und, so Arendt: „Der ‚Luxemburgismus‘, der postum aus polemischen Gründen von Partei-Schreiberlingen erfunden worden war, (…) galt als harmlose Kinderkrankheit“ (14).
„Akkumulation des Kapitals“: Der Kapitalismus muss, um zu überleben, vorkapitalistische Sektoren verschlingen
„Die Hauptthese dieses“, von Hannah Arendt so bezeichneten „eigenartigen, genialen Werkes“ sei einfach genug — diese fasst die Autorin wie folgt zusammen: „Da der Kapitalismus keine Anzeichen des Zusammenbruchs ‚unter dem Druck seiner ökonomischen Widersprüche‘ gebe, begann sie nach einer äußeren Ursache für sein fortdauerndes Bestehen und Anwachsen zu suchen.“ Diese entdeckte Luxemburg „in der sogenannten ‚Dritte-Mann-Theorie‘, das heißt in der Tatsache, daß der Vorgang des Anwachsens nicht allein die Folge von der kapitalistischen Produktion innewohnenden Gesetzen, sondern auch dem Vorhandensein von vorkapitalistischen Sektoren des betreffenden Landes ist, die der ‚Kapitalismus‘ erobert und in seinen Einflußbereich einbringt“.
Sobald sich dieser Prozess auf das ganze Land ausgedehnt hat, „werden die Kapitalisten gezwungen nach anderen Gebieten der Erde Ausschau zu halten — nach weiteren vorkapitalistischen Gebieten — und diese in den Vorgang der Kapitalakkumulation einzubinden, der sich sozusagen von allem ernährt, was außerhalb seiner liegt: ‚Faktisch ist die Kapitalakkumulation als geschichtlicher Prozeß in allen ihren Beziehungen auf nicht-kapitalistische Gesellschaftsschichten und -formen angewiesen‘“.
Anders als Marx’ Idee von der „ursprünglichen Akkumulation des Kapitals“ war sie gerade nicht „ein Einzelereignis, ein einmaliger Akt der Expropriation durch die entstehende Bourgeoisie“, der, wie die Erbsünde, „einen Prozeß der Akkumulation auslöst, der dann ‚mit eiserner Notwendigkeit‘ das ihm innewohnende Gesetz bis zum endgültigen Zusammenbruch erfüllen muß“.
Im Gegenteil, die Ausbeutung und Aneignung „muß immer wieder von neuem wiederholt werden, um das System in Gang zu halten. Daraus folgt, daß der Kapitalismus kein in sich geschlossenes System ist, das seine eigenen Widersprüche hervorbringt, und ‚mit Revolutionen schwanger‘ geht; er lebt von äußeren Faktoren, und sein automatischer Zusammenbruch kann, wenn überhaupt, erst dann erfolgen, wenn die gesamte Erdoberfläche von ihm erobert und verschlungen worden ist“.
Wladimir Iljitsch Uljanow (Lenin, 1870 bis 1924) hatte sofort begriffen, schreibt Arendt, dass diese Darstellung „dem Wesen nach unmarxistisch ist“. Er wies darauf hin, „daß vom Standpunkt des dialektischen Materialismus ‚ihre These, daß eine verbreitete kapitalistische Vervielfältigung innerhalb einer geschlossenen Wirtschaft unmöglich sei und andere Wirtschaftsformen verschlingen müsse, um überhaupt zu funktionieren (…) ein grundlegender Irrtum’ sei“. Das Dumme ist nur, so Arendt, „daß das, was innerhalb der abstrakten marxistischen Theorie sich als Irrtum ausnimmt, in Wahrheit eine außerordentliche wirklichkeitsnahe Analyse der Verhältnisse liefert“ (15).
Einzigartiger moralischer Hintergrund der peer group um Luxemburg
Die „größte und originellste Leistung“ Nettls aber sieht Arendt in dessen „Entdeckung der polnisch-jüdischen ‚Gruppe von Ebenbürtigen‘ (peer group) und Rosa Luxemburgs lebenslängliche enge und sorgfältig verborgen gehaltene Verbindung zur polnischen Partei, die daraus hervorging“. In dieser Verbindung, dem eigenständigen „Milieu“, läge „eine hochbedeutsame und gänzlich vernachlässigte Quelle, nicht so sehr für die Revolution als für den revolutionären Geist des 20. Jahrhunderts“.
Den Kern dieser „peer group“, so Arendt, bildeten „assimilierte Juden aus bürgerlichen Familien, deren kultureller Hintergrund deutsch war“. Luxemburg, stellt die Rezensentin heraus, „kannte Goethe und Mörike in- und auswendig und ihr literarischer Geschmack war hervorragend, dem ihrer deutschen Freunde weit überlegen“. Ihre politische Orientierung hingegen sei russisch gewesen und „ihre Moralbegriffe im privaten wie im öffentlichen Bereich [waren] ihre eigenen.“
Sie hatten so gut wie „keine wie auch immer gearteten Vorurteile [… und in ihrer] splendid isolation so etwas wie einen Ehrenkodex entwickelt“, zu denen sich auch Nicht-Juden hingezogen fühlten, „darunter Julian Marchlewski und Felix Dshersinski, die sich beide später den Bolschewisten anschlossen“. Und, so Arendt, genau „dieses einzigartigen moralischen Hintergrundes wegen hatte Lenin Dshersinski zum neuen Chef der Tscheka* [*den Bereich für Kindererziehung und Sozialfürsorge] ernannt – nämlich jemanden, den seiner Meinung nach keine Macht der Welt korrumpieren konnte“ (16) — und der damit so unbestechlich wie Lenin selbst war (17).
Nettl, so Arendt, unterstreicht mit Recht auch „die ausgezeichneten Beziehungen, die Rosa Luxemburg zu ihrer Familie hatte“, deren Mitglieder „allesamt niemals die geringste Neigung zu sozialistischen Anschauungen oder revolutionären Aktivitäten zeigten, die aber für sie alles taten, was sie nur konnten, wenn es galt, sie vor der Polizei zu verstecken, oder wenn sie im Gefängnis saß“. Das, so die Autorin, „verdient hervorgehoben zu werden, denn es vermittelt einen Einblick in dieses einzigartige jüdische Familienmilieu, ohne das die Herausbildung der ethischen Standards der peer group so gut wie unbegreiflich wäre“.
Angelegt sei die sie verbindende Authentizität ihrer Moral „in einer Kindheit, in der wechselseitige Achtung und uneingeschränktes Vertrauen, eine allumfassende Menschlichkeit und eine echte, fast naive Verachtung für alle sozialen und nationalen Unterschiede als Selbstverständlichkeit betrachtet wurde“. Sie wuchsen in einer Welt auf, die „nicht aus den Fugen war. (…) In diesem Milieu, und niemals in der deutschen Partei, war und blieb Rosa zuhause.“ Zu einem gewissen Maß sei diese „Heimat“ beweglich gewesen. Und weil „sie in erster Linie jüdisch war, fiel sie mit keinem bestimmten Vaterland zusammen“ (18).
Arendt stimmt der Aussage des Philosophen Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900) zu, der, soviel sie wüsste, als einziger „klar gesehen hat, nämlich, daß die Position und Funktion der Juden in Europa sie unweigerlich zu den ‚guten Europäern‘ par excellence machen mußte“.
Der jüdische Mittelstand in den europäischen Metropolen war nach Arendts Ansicht „in Wirklichkeit weder kosmopolitisch noch international, obwohl sich die Intellektuellen in seinen Reihen dafür hielten“. In ihrem Glauben, dass sie kein Vaterland hätten, „lag die Selbsttäuschung der intellektuellen Juden (…) während ihr Vaterland in Wahrheit Europa war“.
So konnten sie auch niemals ganz begreifen, „warum das Schlagwort: ‚Das Vaterland der Arbeiterschaft ist die sozialistische Bewegung‘ sich als so katastrophal falsch für die arbeitenden Klassen erweisen sollte“. Und es sei, so die Rezensentin, „mehr als beunruhigend, daß Rosa Luxemburg selbst mit ihrem untrüglichen Wirklichkeitssinn und ihrer Ablehnung jeden Klischees nicht herausgehört hat, was an dem Schlagwort grundsätzlich falsch war“.
Denn, so erklärt es Arendt, „ein Vaterland ist schließlich in erster Linie ein Land, und eine Organisation ist eben nichts dergleichen, nicht einmal im metaphorischen Sinn“. So läge tatsächlich „eine grimmige Berechtigung in der späteren Abwandlung des Schlagwortes: ‚Das Vaterland aller Werktätigen ist die Sowjetunion‘, denn Rußland war wenigstens ein Land, und damit war dem utopischen Internationalismus dieser Generation ein Ende gesetzt“ (19).
Verachtung für Karrieremacher und Statusgläubige
Nettls Porträt von „dieser außergewöhnlichen Frau“, lese sich, so Arendt, als habe Luxemburg „in ihm ihren letzten Verehrer gefunden“. Ganz gewiss aber irre er sich, „wenn er ihren Ehrgeiz und das Interesse für eine Karriere unterstreicht. Hält er“, fragt Arendt, „ihre heftige Verachtung für die Karrieremacher und Statusgläubigen innerhalb der Partei und für deren Entzücken, in den Reichstag einziehen zu können, einfach für unehrlich?“ Und glaubt er, „daß ein wirklich ‚ehrgeiziger‘ Mensch es fertiggebracht hätte, so generös wie Rosa zu sein?“ Wobei sie Nettls Recherchen, die Luxemburgs Großherzigkeit unterstreichen, exemplarisch heranführt.
„Und wie kann Nettl das“, fragt Arendt weiter, „wenn er nicht Unaufrichtigkeit oder Selbsttäuschung voraussetzt, mit dem bezeichnenden Satz aus einem ihrer Briefe an ihren langjährigen Lebensgefährten Jogiches vereinen: ‚Ich habe eine verdammte Sehnsucht nach Glück und bin bereit, um meine tägliche Portion Glück mit der ganzen Beharrlichkeit eines Maultieres zu feilschen‘“.
Was Nettl „fälschlich für Ehrgeiz hält“, stellt Arendt klar, „ist die natürliche Kraft eines Temperaments, das nach ihren eigenen Worten imstande war, ‚eine ganze Prärie in Brand zu setzen.‘“ Dieses Temperament hätte sie ins öffentliche Leben hineingestoßen und war sogar bestimmend für ihre meisten intellektuellen Unternehmungen. Arendt schlussfolgert:
„Obwohl Nettl immer wieder die hohen moralischen Grundsätze der ‚peer group‘ hervorhebt, scheint er doch noch immer nicht eingesehen zu haben, daß diese Standards solche Dinge wie Ehrgeiz, Karriere, Status und sogar den bloßen Erfolg unter ein striktes Tabu setzen.“
Auch einen weiteren Aspekt ihrer Persönlichkeit hätte Nettl nicht entdeckt, schreibt Arendt: Luxemburg war „ganz bewusst Frau“. Und: „Das allein schon setzte ihrem Ehrgeiz gewisse Grenzen“ (20).