Gefleckte Diamanten
Dirk C. Flecks Miniaturen spüren die Sinnlichkeit inmitten einer Trümmerlandschaft auf. Exklusivauszug aus „Gefleckte Diamanten“. Teil 1 von 3.
„Die Bewusstseinslage in einer Zeit: Das heißt doch nicht, dass man die Sätze nachspricht, die eine Gesellschaft spricht, sondern sie muss sich anders zeigen. Und sie muss sich radikal anders zeigen.“ Das sagte die Dichterin Ingeborg Bachmann vor vielen Jahrzehnten. Das Sprechen der Bewegungen und Strömungen, die aus der Coronadissidenz hervorgegangen sind, aber ebnet sich mehr und mehr im Nachsprechen ein. Zweifelsohne werden Schuldige und Missstände benannt — mit der Sprache des Systems. Der Kern ist das Replizieren. Man weiß schon, welche Sätze folgen, bevor man einen Beitrag liest, eine Debatte hört. Ein Ausbruch rückt in weite Ferne. Nicht allzu viele Geister sind es, die Bachmanns Postulat ernst nehmen und der Todesgefahr der Angleichung und Glättung begegnen. Umso kostbarer die wenigen. Der Schriftsteller und Poet Dirk C. Fleck ist einer davon. Seine Sprache zeigt sich radikal anders. Mit „Gefleckte Diamanten“ hat er ein Buch geschrieben, in dem diese Radikalität gleich einer Kette aus tausend Perlen zur Schönheit kulminiert. Für alle aber, die nicht glauben können, dass radikale Kritik und radikale Schönheit zusammenfinden, und für alle, die das schon wissen, davon aber nie genug bekommen, publiziert der Literatursalon den buchtitelgebenden Text aus der Sammlung „Gefleckte Diamanten“ in drei Folgen. Das Vorwort zum Buch beendet Marina Silalahi mit „Shine On You Crazy Diamonds“ – und schon ist der Klang in allen Räumen. Es ist der Klang der Heilung. Here we go zum Ersten.
Gefleckte Diamanten
„Alles, was ich finde, habe ich selbst einst verloren“ (Peter Handke).
Wir reißen das Theater ab! Wir denken nicht mehr, wir wollen Hände und Umarmungen. Wir wollen uns auf den Boden schmeißen und uns lieben, die Häftlinge aus den Anstalten stürmen lassen. Lasst uns atmen, geben wir uns hin. Wir bitten um den Wahnsinn des Wahnsinns wegen.
Das Sprechen ist schon Luxus, Exzess, Überbau. Nimm den einen Pulsschlag mit, verbirg dich darin.
Warum mache ich mich plötzlich zum Anwalt der Banalität, der Dummheit, des unnützen Zeitvertreibs, des kleinen Alltags? Ganz einfach: weil es ihn noch gibt, den kleinen Alltag. Er ist meine Heimat, mein Leben. Zwar ist bereits die Lunte an ihn gelegt, und nichts von ihm wird übrig bleiben, aber er atmet noch. Noch sind in ihm alle Missverständnisse geborgen, noch wird in ihm gelogen und betrogen, gehasst und manchmal sogar geliebt. An Tagen wie diesen reicht das aus, um mit ihm Frieden zu schließen — um die Wunden zu kühlen, die ich mir im Umgang mit ihm zugezogen habe. An Tagen wie diesen liebe ich unser aller Entsetzen in meiner kleinen Straße, in der sich jeden Abend zur Tagesschau der Widerschein aus den Fernsehapparaten in den Zweigen der kranken Kastanien bricht. An einem Tag wie diesem kann ich halt lieben nur, und sonst gar nichts …
Wenn du nicht genügend Energie für die Faulheit aufbringen kannst, die dich das Leben entspannt betrachten lässt, dann setze deine Neugier und Wachheit ruhig weiter dafür ein, der vorbeiziehenden Zeit Gedanken und Bilder zu entreißen, die du dir als Erkenntnistapete ins Wohnzimmer deiner Seele kleben kannst.
Die simple Tatsache, dass wir endlich sind, wird nicht etwa als Chance begriffen, den uns geschenkten Augenblick zu lieben und zu leben, sondern dient dazu, uns ausschließlich mit „Erdarbeiten“ zu beschäftigen. Wir errichten einen Wall aus Illusionen um die Wahrheit der eigenen Endlichkeit, hinter dem wir dann in Angst verharren. Als amorphe ängstliche Verfügungsmasse, die keinen Sinn mehr für die Schweinereien entwickelt, die ihr unverblümt zugefügt werden. Die eine Lüge nach der anderen wie Glückspillen schluckt, die nie erprobt wurden.
Der beste Weg zur Heilung der Gesellschaft ist, wenn wir auf die Schönheit unseres eigenen Ichs zugehen. Schließlich haben wir nur uns, aber das ist ja mehr als genug.
Es ist gut, dass nicht jedem unserer Wünsche entsprochen wird. Sie stellen uns nur ins Abseits, solange sie nicht eine tief empfundene Sehnsucht zum Ausdruck bringen.
Eure Feuer sind ohne Glut. Verstehste?
Koexistenz: Wer errät die Albträume der Kinder, die sich an Erwachsenen entzünden? Da wir nur selten zu ihnen sprechen, wenn wir ihnen etwas sagen, schlüpfen sie aus der Rolle des Zuhörers und beginnen uns zu umkreisen. Sie sehen uns reden, sie registrieren unsere überzogene Mimik, sie glauben uns nicht, sie erraten unsere Absichten, noch ehe wir sie verbergen können. Wie schmutzig seine Schuhe sind und wie gelb seine Finger! Warum glänzt seine Stirn so speckig? Das blöde Haar am Ohrläppchen, wie sieht denn das aus? Er lügt (Lüge, Lüge, Lüge...!), er hat gestern Nacht gefickt (bäh ...), er ist genau wie alle anderen, er hat keine Ahnung (er merkt nicht einmal, dass ich Idiot denke ... Idi, Idi, Idi ..!). Die Stimme des Vaters wabert durch den Raum, sie ist etwas, das sich das Kind von den Ohren reißen möchte. Wie er die Lippen bewegt! Alles, was er sagt, ist wawa ...Wawa-Brei ...
„Hörst du mir überhaupt zu?!“
Erwachsene sind Höllenhunde.
Danke! Kein anderes Wort hat eine solche Bürde auferlegt bekommen. Es ist klein, bescheiden, alles andere als pompös und muss doch als Instrument herhalten, wenn wir den überwältigenden Aufruhr unseres Herzens, das auf unerwartete Weise berührt wurde, denjenigen beschreiben wollen, die dafür verantwortlich waren.
Ich streichle die Palme, die ich vor acht Jahren als „Wohnungswächter“ geschenkt bekam. Damals war die Yucca fünfzig Zentimeter hoch, inzwischen greift sie nach der Decke. Ihr stetiges Wachstum war mir zu keiner Zeit bewusst. Die Palme war immer nur so groß, wie ich sie gerade vorfand. Angenommen, ich hätte sie über acht Jahre mit statischer Kamera gefilmt, dann stünden jetzt 70.000 Stunden Film zur Verfügung. Aufschluss über ihr Wachstum gäbe das Material nicht. Eine Menge anderer Dinge würde ich in der Wiederholung sehen, mich zum Beispiel. Ich würde ständig durchs Bild laufen, ich wohne ja hier. Wir würden mich essen, arbeiten, trinken und lieben sehen, eins zu eins, aber das Wachstum der Palme bekäme ich nicht zu Gesicht. Dazu müssten die acht Jahre durch den Zeitraffer gejagt werden. Erst wenn ich sie zu einer Stunde verdichtete, könnte man den Wohnungswächter sich entwickeln sehen. Das wäre dann immer noch ein bedächtiges „Aufbäumen“. Zentimeter für Zentimeter würde die Pflanze ihre Kraft entfalten, während die reale Zeit zu einem nervösen Lichtgeflacker verkäme. Von mir, der ich mit der Palme gelebt habe, fehlte gar jede Spur. Meine Bewegungen wären nicht registriert. Sie wären allenfalls als dubioser Nebel erkennbar. Ich wäre ausgelöscht. Obwohl wir beide, die Pflanze und ich, zwei körperliche Wesen sind, obwohl wir beide zur selben Zeit am selben Ort existierten, wäre ich im Zeitraffer unsichtbar. Für die Palme war ich eine Ahnung, ein Hauch, mehr nicht. Es gibt auch Menschen, die wir aufgrund ihrer anders gearteten Geschwindigkeit nicht zu erkennen vermögen, während sie ihrerseits ganz praktisch mit uns umgehen. Wir nennen sie Geister.
Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben. Dieses Leben scheint unerträglich, ein anderes unerreichbar. Man schämt sich nicht mehr, sterben zu wollen; man bittet, aus der alten Zelle, die man hasst, in eine neue gebracht zu werden. „Ein Rest von Glauben wirkt dabei mit, während des Transportes werde zufällig der Herr durch den Gang kommen, den Gefangenen ansehen und sagen: Diesen sollt ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu mir“ (Franz Kafka, 1883 bis 1924).
Der tief vergrabene kleinbürgerliche Hass auf alles Reine und Schöne.
Unserer pornografischen Epoche liegt eine Entwicklung zugrunde, die sich in der Menschheitsgeschichte von Anfang an aufgebaut hat und die wie ein reißender Strom über alle humanistischen Ideale hinweggefegt ist. An seinen Ufern liegen die Leichen unzähliger Mahnwesen, die der Schlammlawine unserer Zivilisation zum Opfer gefallen sind.
Ich hatte einen Traum. Er war komplett menschenfrei, was ich merkwürdig fand, denn für gewöhnlich begegnen einem Legionen menschlicher Gestalten im Traum. Man findet sich beispielsweise in einer Stadt wieder, in Fußgängerzonen, an Kreuzungen, in Restaurants. Die Menschen haben klar erkennbare Gesichter, wie im richtigen Leben. Sie benehmen sich wie im richtigen Leben, jeder auf seine Art. Wo kommen sie her? Es sind doch keine Erinnerungen, die uns dort präsentiert werden. Wir sind diesen Wesen noch nie zuvor begegnet. Oder doch? Nein, sind wir nicht. Nicht in diesem Leben. Also: Wo kommen sie her, die Traumfiguren in ihren Autos, im Kaufhaus, am Würstchenstand, die Paare und Passanten, die Gehetzten und Lachenden, die Bettler und die feinen Leute mit den Sektgläsern in der Hand, die einem sogar manchmal zuprosten? Keine Ahnung, aber jedes ihrer Gesichter ist bis ins Detail ausgeprägt. Die Traumwelt präsentiert sich so vielschichtig und real, wie wir es auch im Wachzustand erleben. Aber die Frage bleibt: Wo kommen all die Menschen her, die als Statisten durch unsere Träume geistern? Handelt es sich um Wesen, die vor uns hier zu Gast waren und nun anstehen, um wiedergeboren zu werden, damit sie ihre Lektion zu Ende lernen? Eine Lektion, die unterbrochen wurde durch Kriege und Krankheiten, durch Mord und Selbstmord oder weil einfach nur die Herzen im Überlebenskampf stumpf und empathielos geworden waren. Herzen, die den eigentlichen Sinn des Lebens nicht mehr begreifen und greifen konnten. Und dieser Sinn besteht darin, eins zu werden mit der Schöpfung, zu verstehen, was Liebe meint. Liebe — der Feinstoff, der die Welt im Innersten zusammen hält. Nur wer das verstanden hat, wird davon befreit, sich erneut in diesen gigantischen Wartesaal zu begeben, aus dem sich meine Traumfiguren rekrutieren.
Ich glaube, dass wir alle „entrümpelt“ werden mit der Zeit, bis wir uns nicht mehr als die Person wahrnehmen, für die wir uns so lange gehalten haben.
Er war einen Kopf kleiner als ich, und dennoch gelang es ihm, auf mich herabzublicken.
Was nützt es zu fliehen, wenn das Unglück in einem steckt.
Schau auf die Blätter, schau auf die Gräser. Sie bewegen sich im Wind, sie tanzen nach seiner Pfeife. Und jetzt schau dir den Wind an. Kannst du ihn sehen? Du musst dich von den Pflanzen leiten lassen, sie tun nur, was der Wind ihnen einhaucht. Man kann ihn sehen. Er ist es doch, der die Bewegungen formt. Man kann ihn sogar streicheln. Wenn er mit unserem Haar spielt, uns ins Gesicht peitscht oder zärtlich über die Arme fährt, dann können wir ihn sehen, am besten bei geschlossenen Augen.
Wir schlagen Pflöcke in den Fluss des Lebens, um Orientierung zu haben und urteilen zu können. Jemand hat seine Großmutter umgebracht, also ist er ein Mörder. Aber jeder Mord hat wie alles andere eine Vorgeschichte, und die spricht frei. Sie wird aber nicht erzählt und will auch nicht gewusst werden. Weil die Verstrickungen weit zurückreichen in die Zeit und eventuell auch uns tangieren?
Wie kann man sich inmitten dieses Weltfestes des Todes, das heute besonders lärmend begangen wird, behaupten, ohne dauerhaften Schaden zu nehmen?
Verkehrt an dieser Welt sind nicht die realen Einblicke eines Hieronymus Bosch, es sind wir, die das Leben ins Fratzenhafte verwandeln. Solange wir unsere wahre Natur verleugnen, solange wir nicht mehr die Sprache des Herzens sprechen und uns stattdessen in mörderischer Konkurrenz gegenseitig die Zeit stehlen, um schließlich als willfährige Erfüllungsgehilfen einer gut organisierten, über die nötigen Narkotika verfügenden Eliten zu enden, werden wir miteinander nie frei sein. Wird sich an dem Höllenritt, der uns vom wahren Leben entfernt, nichts ändern.
Keine Vorstellung mehr von sich zu haben, nicht mehr verhaftet zu sein durch Verstand und Intellekt, zu leben, was man im Kern ist, nämlich ein mit allem verbundenes Wesen, welches sich zu Hause fühlt — das ist die wahre Befreiung. All die Zeit hinter uns, als wir Schatten eines Schattens waren, versunken im Schlamm von Ehrgeiz, Meinung, Eitelkeit, Angst und Vorurteil, gleitet dahin, wie eine verlorene Badeente auf dem Meer.
Man möchte sich ins Moos schmeißen und ein paar Jahrhunderte schweigen …
Ich bin gerne allein. Dieses Alleinsein ist keine schmerzvolle Verlassenheit, sondern die Einsamkeit alles Lebendigen, sein unverdorbenes, reiches und ganzes Für-sich-Sein.
Um auf den Grund aller Dinge zu kommen, müssen wir ihre Finsternis akzeptieren.
Ja, es ist mir schwer ums Gemüt. Ein Senkblei in der Schwerelosigkeit, das sich auf den Grund aller Dinge setzen möchte und sich doch nur in endloser Finsternis verliert. Ich kann mich nicht einmal mehr an der Zeit festhalten …
Ich blättere in alten Adressbüchern und fühle einen zarten und fühle einen zarten Fliederschmerz beim Andenken an diese Menschen, um die ich mich nie gekümmert habe.
Kennen Sie das, wenn Sie im Traum denken, shit, das habe ich doch alles schon einmal geträumt!? Ich besteige eine mir wohl vertraute Wendeltreppe, sogar die in die Kalkwand geritzten Namen und Herzen sind mir vertraut, auch das Knarren der Holzstiegen. Irgendetwas treibt mich immer wieder auf den geheimnisvollen Dachboden, von dem kolportiert wird, dass sich dort nur unnützes Gerümpel befindet. Außerdem bestünde Einsturzgefahr, weshalb von einem Besuch dringend abzuraten sei. Aber eine innere Stimme sagt mir, dass es sich bei diesem Dachboden um einen Fundus für die gesamte Menschheit handelt, voll gepackt mit Artefakten aller Art, mit zeitlosen Möbeln, Gemälden, Musikinstrumenten, Truhen, Partituren, Totems, einer Sammlung kostbarer Bücher in verschiedenen Sprachen, Skulpturen, Schreibwerkzeugen et cetera et cetera. Allerdings mag sich dort schon lange niemand mehr bedienen, weshalb man die Kostbarkeiten unter einem weißen Laken bedeckt hält, um sie vor totaler Verstaubung zu schützen. Meine Neugier führt nun dazu, dass ich an der einen oder anderen Stelle vorsichtig am Linnen zupfe. Dabei habe ich das untrügliche Gefühl, als würde wieder Leben in den Raum gespült, der durch das Desinteresse von Generationen in Vergessenheit geraten war. Mit jedem Zentimeter, den ich das schützende Leinentuch einhole, wird es heller und klarer um mich herum, wobei die ans Licht tretenden Gegenstände energetisch im Verbund wirken. Bald weiß ich nicht mehr, was ein Klavier ist, eine Vase, ein Ring, eine Münze oder ein Renoir, weil all dies vor meinen Augen in einen Strudel gerät und abgesaugt wird, um schließlich in einem Schmelztiegel zu verschwinden, in dem die Zeugnisse sämtlicher Kulturen – der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen — eins werden: atemberaubend und jeden Gedanken im Keim erstickend.
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