Gefangene eigener Narrative

Auch wenn Donald Trump kein lupenreiner Pazifist ist — Europa sollte sich seinen Friedensbemühungen nicht trotzig verweigern.

„Wir stehen fest auf der Seite der Ukraine. Nur ein ukrainischer Sieg wäre eine gerechte Grundlage für einen Frieden. Mit einem wie Putin kann man nicht verhandeln. Jedes Entgegenkommen gegenüber Russland wäre gefährliche Appeasement-Politik, die zur Folge hätte, dass russische Soldaten demnächst in Brandenburg stehen.“ Mit diesen und ähnlichen Narrativen blockieren sich die EU-Länder derzeit selbst. Sie riskieren auf diese Weise aus Sturheit und Uneinsichtigkeit einen Frieden zu verpassen, der vielleicht schon auf dem Weg ist. Mehr europäische Eigenständigkeit — das bedeutet für viele EU-Politiker, immer das genaue Gegenteil dessen zu fordern, was Donald Trump will. Und zwar auch dann, wenn der US-Präsident recht hat. Dabei steht außer Frage, dass man gegen Trump einiges einwenden kann. Sein Umgangston, ebenso wie manche seiner politischen Vorschläge, erscheinen inakzeptabel. Dennoch ist es natürlich ein fataler Fehler, dass Europa nach dem Motto verfährt: Lieber einem sympathischen Politiker in den Krieg folgen als einem unsympathischen in den Frieden.

Bemerkenswerte Sätze: „Ich plädiere für Frieden in der Ukraine, sonst wird man unzählige Menschenleben verlieren, es wird eine unglaubliche Zerstörung mit sich bringen. Hätte es gleich Verhandlungen gegeben, hätte der Krieg nicht so viele Menschenleben gekostet“, sagte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán als EU-Ratspräsident in einem Interview vor einem Jahr. Und US-Präsident Donald Trump während der Pressekonferenz zu Wolodymyr Selenskyj, Ukraine:

„Ich habe die Macht, diesen Krieg zu beenden. Ihr seid seit drei Jahren dabei … Die USA hätten nie erlauben sollen, dass der Krieg beginnt.“

Warum hören wir solche Statements nicht von Deutschlands Chefdiplomatin Annalena Baerbock oder der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen? Welche Irrationalität der Politik, welch eine Perversion des Denkens und Handelns: Die westlichen Politiker, die dem Töten in der Ukraine und der wachsenden Gefahr eines Weltkrieges ein Ende bereiten und durch Verhandlungen dem Frieden unter Beachtung gegenseitiger Sicherheit eine Chance geben wollen, sind Autokraten, gelten als Verräter und Verrückte.

Natürlich ist US-Präsident Trump kein Pazifist, sondern ein rücksichtsloser kapitalistischer Machtpolitiker. Er beansprucht für die geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen der USA die Herrschaft über Grönland, Panama und Kanada — und die Weltherrschaft sowieso.

Aber war das unter den US-Präsidenten Biden, Obama, Bush I und II, Clinton et cetera grundsätzlich anders, wenn man sich etwa an die Pläne der neokonservativen Hardliner unter George W. Bush erinnert, sieben Länder in fünf Jahren — also Irak, Libyen, Syrien, Libanon, Somalia, Sudan und Iran — zu überfallen, was sie auch (fast vollständig) umsetzten?

Natürlich zeugt Trumps Plan, Gaza zu kaufen und zu einer Riviera für Reiche zu machen, ohne jeden Gedanken an dort lebende (und sterbende) Palästinenser, von horrender Anmaßung; aber war das unter Ex-Außenministerin Madeleine Albright anders, die fünfhunderttausend tote irakische Kinder für US-Interessen gern in Kauf nahm? Warum legt man beim Rassismus und Völkermord der israelischen Regierung, die dabei von Deutschland mit Waffen und Unterdrückung jeder Kritik hierzulande unterstützt wird, andere Maßstäbe an?

Natürlich verhöhnt Trump demokratische Prinzipien, wenn er Politik an den Interessen von und im Verbund mit Milliardären der Tech-, Medien- und Finanzkonzerne ausrichtet. Aber hatten etwa Biden, Obama, Berlusconi, Sarkozy, Sebastian Kurz oder Boris Johnson die Bedürfnisse der breiten Bevölkerung als handlungsleitende Maxime? Und qualifiziert einen Friedrich Merz sein Werdegang als BlackRock-Vorsitzender, Aufsichtsrat in Konzernen und Großbanken, transatlantischen und anderen Lobbyverbänden als Bundeskanzler?

Man schüttelt zwar ungläubig den Kopf angesichts des „Deals“, den die USA mit der Ukraine schließen wollen: Die Rede ist von Bodenschätzen und Profiten in Höhe von 500 Milliarden Dollar als Ausgleich für Waffenlieferungen. Die EU zeigt sich schockiert, als wäre es ihr bei Deals mit Ländern des globalen Südens um Bedürfnisse der Armen gegangen. Und man sollte nicht übersehen:

Die EU ist nicht schockiert, weil Trump etwas Unmoralisches tut, sondern weil sie nicht an der lukrativen Beute in der Ukraine beteiligt werden soll.

Nein, der neue US-Präsident ist kein lupenreiner Demokrat. Sein Gebaren erinnert an den Mafiaboss im Casino von Las Vegas im Film von Martin Scorsese: Hinter der Glanzfassade Deals, Korruption, Gewalt, Ausschalten von Konkurrenten. Trump brüstet sich allerdings auch nicht damit, „aus dem Völkerrecht“ zu kommen oder feministische Außenpolitik zu betreiben, wie es Annalena Baerbock tut. Er vertritt derb und rücksichtslos US-Interessen — nein, die Interessen einer bestimmten Klasse der USA. Den Unterschied zu Macron, Scholz, Habeck, Merz, Stamer oder Meloni macht deren Politik-Performance in Form von zivilisierter Bürgerlichkeit.

Die aufbrechenden Interessensgegensätze zwischen USA und EU beruhen mitnichten auf unterschiedlichen „Werten“. Aber was Letztere moralisch verbrämt tun, macht Trump offen prahlend; er beschönigt seine Politik nicht als wertebasiert oder menschenrechtsorientiert. Mit der rücksichtslosen Durchsetzung eigener Interessen in der Ukraine reißt er die Fassade von Kampf für Demokratie und Freiheit des Wertewestens ein; dahinter wird die brutale Gewalt erkennbar, die über Millionen von Leichen geht. Interessanter Randaspekt im spannungsreichen Trump-Selenskyj-Treffen: Der US-Präsident erwähnt auch die Machenschaften von Politikerinnen und Politikern von Vorgängerregierungen wie Hillary Clinton und Joe und Hunter Biden, die im Vorfeld alle diesen Stellvertreterkrieg in der Ukraine gefördert haben.

Als Folge der beginnenden Friedensverhandlungen erlebt die EU gerade den GAU ihrer Politik: Die transatlantische Abhängigkeit führt zu einem wirtschaftlichen und politischen Fiasko. Die Profite schrumpfen, die sozialen Gegensätze wachsen und müssen repressiv unterdrückt werden. Die EU droht zu implodieren, zumal sie kein eigenes Konzept für die Ukraine hat außer Aufrüstung und Krieg — zu Lasten der eigenen wie auch der Bevölkerung im Kriegsland. Die Schreckensmeldungen kommen im Tagestakt: Regierungsberater und Experten fordern von der nächsten Bundesregierung eine massive Aufstockung des Militärhaushalts, drastische Einschnitte bei den Sozialausgaben und eine energische Indoktrination („Mentalitätswandel“) der Bevölkerung.

Deutschland soll unter Kanzler Merz diplomatisch und militärisch zur europäischen Führungsmacht werden. Dazu müsse man den Militarismus in den Köpfen verankern.

Um im neuen Bundestag die Sperrminorität von Linken und AfD zu umgehen, sollen die Hunderte Milliarden Euro für Aufrüstung und Infrastruktur — Straßen und Brücken, sonst kommen die Panzer nicht nach Moskau — noch rasch vom alten verabschiedet werden. Hinzu kommt der Plan der EU: Er umfasst 800 Milliarden Euro für Aufrüstung. Wer die gigantischen Schulden bezahlen soll, darüber schweigt man lieber. Immerhin meldet die dpa, dass die Aktien des Rüstungskonzerns Rheinmetall zweistellig wachsen. It´s the capitalism, stupid!

Fassen wir zusammen: Statt Friedensverhandlungen bevorzugt Deutschland einen Schuldenberg von fast einer Billion Euro auf Kosten der Bevölkerung, Aufrüstung und Militarisierung der Gesellschaft, um den Krieg weiterführen zu können, auch ohne die USA — wer liefert die Toten? Wollen das die Menschen in Deutschland und in der Ukraine? Wer profitiert von diesem Wahnsinn, der politisch immer mehr zur Umgehung demokratischer Regeln, zu einem autoritären Staat führt?

Jetzt verhandelt Trump mit Russlands Präsident Wladimir Putin über einen Friedensplan. Die EU und Deutschland mit Führungsambitionen können sich nicht einklinken. Sie haben sich in der selbst gestellten Falle verfangen. Zu einheitlich und zu umfassend hatte man der Bevölkerung Narrative und Lügen der Kriegstreiber eingebläut: Unprovozierter Krieg Putins, mit ihm kann man nicht verhandeln, nur ein militärischer Sieg kann verhindern, dass er morgen vor Berlin steht. Nur damit ließen sich Kriegswirtschaft, gigantische Schulden für Waffen im neuen Militarismus, Kriegsmentalität und Kriegskultur, Züchtung von Feindbildern, Indoktrination durch konzertierte Berichterstattung in Leitmedien, Repression und Canceln jeder kritischen Meinung begründen. Jetzt soll man verkünden, Trump hat recht, der Krieg hätte vermieden werden können und müssen? Unmöglich. Da ist kein Platz für Friedensverhandlungen.

Die floskelhaften Verlautbarungen der Politiker — und -innen — spiegeln die Verlogenheit der Ziele: „Wir stehen felsenfest an der Seite der souveränen und freien Ukraine. Die Ukraine ist Teil des freien und demokratischen Europas (…) dann wird Europa zeigen, was es im Kern ausmacht: ein starkes Friedensprojekt, Frieden und Freiheit für seine Millionen Bürgerinnen und Bürger; ein Friedensprojekt, das in die Welt ausstrahlt. Slawa Ukraini, es lebe Europa.“ Frau Baerbock beruft sich auf Werte und Moral — und fördert Kriegsverbrechen und Völkermord. Bisher segelte Deutschland ganz gut im Windschatten des US-Imperialismus.

Jetzt ist es Zeit für eigene, von den USA unabhängige imperiale Ambitionen. Die Menschen sind dieser Politik egal, in der Ukraine, in Palästina, in all den Gebieten, wo Krieg und Klimakatastrophe den Menschen keine Überlebenschancen bieten.

Welche Zukunft hält dieser militarisierte Wertewesten für die Menschen bereit — mit seiner wahnwitzigen Kriegswirtschaft, mit wachsender Repression, Russlandhass und faschistischen Parolen statt Vernunft und Menschlichkeit? Jetzt, wenn Selenskyj kaum noch junge Männer für den Krieg findet, möchte man den Soldaten zurufen: Etwas Besseres als den Tod findest du überall!

Jetzt, wenn sogar die USA bekennen, dieser Krieg hätte nie begonnen werden dürfen, wenn endlich Verhandlungen zwischen den Hauptakteuren abzusehen sind, fällt Deutschland und der EU nichts Besseres ein, als das Morden weiter zu forcieren, auf einen Krieg hinzuarbeiten, statt Konzepte zu entwickeln, wie man in Zukunft solche Konflikte vermeiden kann, wie man statt imperialistischen Wirtschaftskriegen — auch gegen China! — Kooperation entwickeln und auf gemeinsame Sicherheit hinarbeiten kann.

Das zerstört Vertrauen in die Demokratie, zerstört jede positive Perspektive und Hoffnung auf ein gutes Leben. Es ist diese Missachtung der Bedürfnisse der Menschen und die Verlogenheit der angeblichen Werte, die in der ganzen westlichen Welt Faschisten stärken, Hass erzeugen und irrationale Ausbrüche fördern. Hier wäre es die Aufgabe einer vereinigten Linken, die Kriegslogik zu durchbrechen und den Menschen eine bessere Perspektive aufzuzeigen.