Gefährliches Versagen
Der österreichische Gesundheitswissenschaftler Martin Sprenger kritisiert in einem neuen Buch die Politik in der Corona-Krise.
Den Lockdown in Österreich im März dieses Jahres fand Martin Sprenger noch richtig. Seine kritische Haltung wuchs, als die österreichische Politik danach die Lage nicht entspannte, sondern mit Angstmache gezielt eskalierte. Sprenger ist Arzt und Gesundheitswissenschaftler. Seine Beobachtungen während der ersten Monate der Corona-Krise hat er in einem Buch festgehalten. Darin berichtet er ebenso von seinen Erfahrungen als kurzzeitiges Mitglied der „Corona-Taskforce“ des österreichischen Gesundheitsministeriums. Mit der Zeit wuchs seine kritische Haltung gegenüber der Politik. Er wirft ihr vor, mit unverhältnismäßigen Maßnahmen in der Pandemie mehr Schaden anzurichten, als Nutzen zu erreichen. Zugleich kritisiert er den einseitigen Blick auf die Entwicklung um das Virus Sars-Cov-2 und die von ihm laut Weltgesundheitsorganisation WHO ausgelöste Krankheit Covid-19.
„Die Geschwindigkeit, mit der unsere Demokratie sich aufgrund der Pandemie in ein totalitäres System verwandelt hat, ist so verblüffend wie schockierend. Im Eiltempo werden Gesetze beschlossen, die unsere Freiheit massiv einschränken, in manchen Gegenden sogar einen Hausarrest verordnen. Die Polizei rückt aus, um die ‚Volksgesundheit‘ zu beschützen. Verhängt unsinnige Strafen.“
Das hat der österreichische Sozialmediziner Martin Sprenger in seinem Buch „Das Corona-Rätsel“ geschrieben. Es ist im Juni erschienen. Zuvor hat Sprenger unter anderem vier Wochen lang die österreichische Regierung in der Corona-Krise beraten. Frühzeitig merkte er, dass die Politik ihre eigenen Ziele verfolgt. Als er sah, dass es den Regierenden in Österreich weniger um die Gesundheit der Bürger und das Wohl der Gesellschaft geht, ist er ausgestiegen.
Sprenger ist Arzt und Gesundheitswissenschaftler für den Bereich Öffentliche Gesundheit (Public Health). Er leitet den entsprechenden Universitätslehrgang an der Medizinischen Universität Graz und unterrichtet an zahlreichen Fachhochschulen und anderen Universitäten. In seinem Buch beschreibt er die ersten Monate der Corona-Krise in Österreich. Er gibt seine Beobachtungen, Gedanken und Erfahrungen tagebuchartig wieder.
Zu lesen sind nicht nur interessante Einblicke in Sprengers eigenen Erkenntnisprozess. Ebenso macht er die politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse deutlich. Dabei geht sein Blick immer über die Landesgrenzen hinaus. Das geschieht, weil das Virus Sars-Cov 2 und die von ihm laut Weltgesundheitsorganisation WHO ausgelöste Krankheit Covid-19 globale Themen sind.
Gezielte Angstmache
Für den österreichischen Sozialmediziner gibt nicht nur das Virus manches Rätsel auf. Das gilt aus Sprengers Sicht ebenso für eine ganze Reihe der politischen Entscheidungen. Am Ende des im Juni erschienenen Buches schreibt er:
„Das Virus geht in die Sommerpause. Die Ängste sind geblieben und werden noch immer geschürt. Es wird Zeit, dass der Sommer kommt, und der warme Wind für virusfreie Köpfe und Träume sorgt.“
Doch das ist nicht geschehen, wie nun am Ende des Sommers festzustellen ist. In Österreich wurde wie in der Bundesrepublik in den letzten Monaten vor einer „zweiten Welle“ gewarnt. Das geschah mit Hilfe des deutschen Virologen Christian Drosten, was Sprenger erwähnt.
Wie in der Bundesrepublik werden im Nachbarland die Ergebnisse der ausgeweiteten Tests auf das Virus von der etablierten Politik ausgenutzt. Mit ihnen wird begründet, warum die Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens aufrechterhalten und bei Bedarf immer wieder verschärft werden.
Genau das macht derzeit die österreichische Bundesregierung unter Kanzler Sebastian Kurz. Über das Verhalten von Kurz in der Corona-Krise berichtet Sprenger einiges Aufschlussreiches. Er hatte erwartet, dass Kanzler Kurz die am 16. März verkündeten Lockdown-Maßnahmen zwei Wochen später lockert. Als das nicht geschah, schrieb der Gesundheitsexperte am 30. März:
„Der Bundeskanzler hat die Ebene der Sachpolitik eindeutig verlassen. Meine Vermutung ist, dass er nach der erfolgreichen Abwendung der Bedrohung für das Gesundheitssystem und der Erreichung des Lockdown-Ziels erkannt hat, dass er diese Krise politisch nutzen kann. In den Meinungsumfragen hat er absolute Spitzenwerte erreicht. John F. Kennedy soll einmal gesagt haben, dass sich das Wort Krise im Chinesischen aus zwei Schriftzeichen zusammensetzt. Das eine bedeutet Gefahr und das andere Gelegenheit. ... auf jeden Fall setzt Sebastian Kurz ab sofort auf eine Eskalation der Angst.“
Das ist der Punkt, an dem der Sozialmediziner deutlich an den politisch beschlossenen Maßnahmen zu zweifeln begann. Er hält sie für die erste Zeit für richtig. Doch statt Eskalation sei nach etwa zwei Wochen Entspannung der Lage notwendig gewesen. Das sei aber nicht erfolgt.
Erfolgloser Regierungsberater
Am 8. März war er eingeladen worden, sich am Beraterstab „Corona“, der sogenannten Corona-Taskforce, des österreichischen Gesundheitsministeriums zu beteiligen. Am 7. April verabschiedete sich Sprenger wieder aus dem Gremium. Dort waren aus seiner Sicht zu viele Mediziner und zu wenig Vertreter anderer relevanter gesellschaftlicher Bereiche vertreten.
Er beschreibt in seinem Buch, wie er mehrfach erfolglos versuchte, auf eine umfassendere Strategie hinzuwirken. Die müsste für ihn über die Eindämmung des Virus Sars-Cov 2 hinausgehen. Ebenso enthält das Buch einige seiner Interviews. Darunter das Gespräch mit dem Journalisten Michael Fleischhacker von der Rechercheplattform Addendum, veröffentlicht am 8. April. Darin sagte Sprenger unter anderem:
„Die Politik ist aus meiner Sicht noch immer viel zu eindimensional unterwegs. Intensivversorgung und Beatmungsgeräte, Wirtschaftsinteressen und Wählerstimmen bestimmen den Kurs. Viele Facetten dieser Pandemie werden nicht beachtet oder wurden noch nicht erkannt.“
Sprenger hatte sich frühzeitig für die sogenannte Risikostratifizierung eingesetzt. Dabei geht es nach seinen Worten darum, herauszufinden, „wer wie schwer von COVID-19 betroffen ist. Dann würden wir genau wissen, wer mit welchen Verläufen zu Hause liegt. Wer ist asymptomatisch, berichtet also gar keine Symptome, wer muss zum Arzt, wer kommt ins Krankenhaus, wer verschlechtert sich im Krankenhaus und muss auf die Intensivstation, wer verstirbt.“ Doch diese unterschiedlichen Risiken seien nicht erfasst worden, stellt er in seinem Buch fest.
„Katastrophale Eskalation“
Er forderte, vor allem die sogenannte Hochrisikogruppe vor dem neuen Virus zu schützen. Diese Menschen seien besonders von Covid-19 betroffen, wie Erkenntnisse aus China gezeigt hätten. Diese Gruppe war laut Sprenger schnell zu ermitteln:
„Die 460.000 sehr gut identifizierbaren PflegegeldbezieherInnen sind unsere Höchstrisikogruppe! Nicht nur, was das Sterberisiko betrifft, sondern auch was das Risiko betrifft, unsere Kranken- und Intensivversorgung zu überlasten!“
Die Politik und die österreichische Gesundheitsverwaltung hätten sich gerade um diese Gruppe, einschließlich der rund 53.000 Pflegekräfte, nicht gekümmert. In Österreich wie in der Bundesrepublik und zahlreichen anderen Ländern wurden mehr als die Hälfte der sogenannten Corona-Toten aus Alten- und Pflegeheimen gemeldet. Ebenso gingen Sprengers Vorschläge, die Pandemie und die Maßnahmen durch Forschung zu begleiten, um daraus lernen zu können, ins Leere.
Sprenger nannte als oberstes Ziel „die Minimierung des gesundheitlichen, psychischen, sozialen und ökonomischen Schadens durch die SARS-CoV-2-Pandemie, insbesondere in vulnerablen Gruppen, eine möglichst geringe Anzahl an COVID-19-Sterbefällen, ein möglichst geringer Verlust an gesunden Lebensjahren und die Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Krankenversorgung, Betreuung und Pflege, sowie keine weitere Vergrößerung von bestehenden gesundheitlichen Ungleichheiten.“
Doch von Beginn an wurde in Österreich wie in der Bundesrepublik Angst als Mittel der Kommunikation gegenüber der Bevölkerung benutzt. Das ist Sprengers Berichten über die Taskforce-Beratungen zu entnehmen. Am 30. März stellte er über die „katastrophale Eskalation“ fest:
„Anstatt der Bevölkerung, dem Gesundheitssystem, der Wirtschaft und auch allen anderen Bereichen der Gesellschaft Hoffnung und einen positiven Ausblick zu geben, hat die Regierung Ängste geschürt, die Menschen wochenlang davon abhalten, einen Arzt aufzusuchen. Diese Eskalation der Angst hat aber auch die Psychologie der Märkte negativ beeinflusst und zu einer Emotionalisierung und Polarisierung der Gesellschaft geführt. Ohne Not und ohne Bedrängnis, trotz optimistischer Prognosen gab es plötzlich ein Totschlagargument: 100.000 zusätzliche Tote!“
Dieses Totschlagargument benutzen bis heute die Regierenden nicht nur in Österreich. Damit wird die anhaltende Angstmache begründet. Sie dient dazu, den Corona-Kurs beizubehalten.
Interessante Einblicke
Sprenger schätzt die Entwicklung nicht nur aus rein sozialmedizinischer Sicht ein. Ihn beschäftigen auch die weitreichenden Folgen, von den sogenannten Kollateralschäden im Gesundheitswesen bis zu den Gefahren für die Demokratie, das Grundgerüst der Gesellschaft. Er macht darauf aufmerksam, dass die Pandemie die soziale Ungleichheit verstärkt hat.
Der Sozialmediziner aus Graz hält das Virus Sars-Cov-2 nicht für ungefährlich. Er meint, die ersten Maßnahmen, um es einzuschränken, seien berechtigt gewesen. Aber der Erfolg sei bereits nach kurzer Zeit eingetreten. Deshalb richten aus seiner Sicht die Maßnahmen, so wie sie fortgesetzt werden, mehr Schaden an als das Virus selbst.
Sprengers Buch ist voller interessanter Einblicke in die Hintergründe von politischen Entscheidungen. Er hat versucht, die Perspektive der öffentlichen Gesundheit einzubringen. Was zumindest immer wieder bei österreichischen Medien auf Interesse stieß, wurde von den Politikern zunehmend ignoriert. Das gehört zu dem Erkenntnisprozess des international ausgebildeten Sozialmediziners.
Nervender Drosten
Dazu zählt auch seine veränderte Sicht auf den Virologen Christian Drosten. Am 5. März hielt Sprenger fest: „In der Früh höre ich zum ersten Mal den NDR-Podcast mit dem Virologen der Charité Berlin Christian Drosten und bin begeistert.“ Drosten halte „die aktuelle Anzahl der infizierten Personen für vernachlässigbar und ist optimistisch, dass sich das Infektionsgeschehen eindämmen lässt“, ist zu lesen. Und: „Er spricht sich deutlich gegen verstärkte Maßnahmen, wie einen Lockdown, aus und hat auch sonst einen aus meiner Sicht vernünftigen, pragmatischen Zugang.“
Mehr als einen Monat später, am 24. April, sieht das schon anders aus. Sprenger schreibt an dem Tag zu dem Drosten-Interview in der ORF-Sendung ZIB 2 mit Moderator Armin Wolf. Er bewundere zwar den Virologen weiterhin, aber dessen Pessimismus irritiere ihn. „Er ist der Meinung, dass die aktuellen Lockerungen entsprechende Folgen nach sich ziehen und die Infektionen wieder auf ein ‚nicht mehr erträgliches Maß‘ steigen werden.“ Die Aussagen des Virologen seien „Typisch Drosten. In einem Satz kalt und warm, wie eine Wechseldusche.“
Sprenger findet absurd, dass Drosten in der Sendung bei Aktivitäten im Freien zur Vorsicht mahnt. Als Moderator hätte er gefragt: „Gibt es dafür irgendeinen wissenschaftlichen Nachweis? Wie viele Menschen haben sich in Deutschland, in Europa oder weltweit im Freien angesteckt?“ Während die Frage ausblieb, warnte der Berliner Virologe im Interview vor der „zweiten Welle“ im Winter. Diese könnte sogar heftiger ausfallen als die derzeitige, und ein neuer Lockdown könnte dann drohen.
Der Sozialmediziner zeigt sich inzwischen von Drostens Pessimismus und unterschwelliger Panikmache zusehends genervt.
„Obwohl er seit Wochen von der Wirklichkeit ständig positiv widerlegt wird, bleiben seine Prognosen düster. Er ist und bleibt ein Virologe, der nur das Virus und dessen direkte Auswirkungen sieht, andere akute und chronische Erkrankungen existieren für ihn nicht, ganz zu schweigen von den Auswirkungen der Maßnahmen auf die Determinanten von Gesundheit.“
Vermeidbares Desaster
Die fortgesetzte Panikmache begleitet die anhaltenden Beschränkungen der Gesellschaft. Dabei spielen die Bilder aus der norditalienischen Stadt Bergamo eine wichtige Rolle. Auch dazu ist bei Sprenger Interessantes zu erfahren. So schrieb er am 17. März:
„In der Region Bergamo wird die Situation immer dramatischer. Die Berichte und Bilder zeigen ein Krankenversorgungssystem nahe am Kollaps. Was zu dem Zeitpunkt kaum jemand weiß ist, dass die Gesundheitsbehörden massive Fehlentscheidungen getroffen haben. Anstatt mildere Verläufe zu Hause zu versorgen, werden diese in die nächstgelegenen Krankenhäuser gebracht. Diese waren, wie immer um die Jahreszeit, rasch überfüllt, und viele infizierte hochbetagte Menschen wurden in Pflegeheime weiterverlegt. Schutzausrüstung ist Mangelware. Es infizieren sich unzählige Rettungskräfte, Ärzte, Pflegepersonen, Pflegeheimbewohner und Krankenhauspatienten.“
Anfang April stellt Sprenger fest:
„Das Desaster hätte vermieden werden können, wenn von Anfang an eine wohnortnahe Versorgung erfolgt wäre. Dadurch wurde auch das Sterbegeschehen an einen Ort verlegt, der dafür überhaupt nicht geeignet war. Neben einer Überforderung der Kranken- und Intensivversorgung kam es deshalb auch zu vielen Fällen von einsamem und menschenunwürdigem Sterben.“
Für den Sozialmediziner und Arzt handelt es sich dabei sowohl aus medizin- als auch pflegeethischer Sicht um eine Katastrophe.
In seinem im Buch abgedruckten Beitrag vom 6. Mai auf Addendum geht Sprenger noch einmal ausführlich auf die Ereignisse in Bergamo und deren Ursachen ein. Dabei erwähnt er einen interessanten Aspekt:
„Jedes Heim erhielt pro COVID-19-Patient 150 Euro am Tag. Die Folge war, dass Krankenhäuser und Altersheime zu Hotspots wurden und die Zahl der infizierten Personen aus der Hochrisikogruppe exponentiell stieg.“
Politisches Versagen
Es bleibt ein Versagen der verantwortlichen Politiker — nicht nur in Italien. Diese benutzen aber die Bilder aus Bergamo, New York und anderen „Hotspots“ bis heute, um die Panikmache und damit die Beschränkungen aufrechtzuerhalten. Sprengers Buch liefert für dieses politische Versagen zahlreiche Beispiele aus Österreich, die auf Deutschland übertragbar sind. Über seine Einschätzung, wie gefährlich das Virus Sars-Cov-2 tatsächlich ist, lässt sich sicherlich diskutieren. Wichtig ist, was er zu einer differenzierten Betrachtung des Geschehens beiträgt, die er selbst immer wieder eingefordert hat.
Sprenger zeigt, dass ein umfassender Blick auf das Virus, Covid-19 und die am 11. März von der WHO ausgerufene Pandemie notwendig und möglich ist. Er belegt, dass die gesellschaftlichen Folgen der politisch durchgesetzten Maßnahmen nicht aus dem Blick geraten dürfen. Sein Buch ist ein notwendiger Beitrag für eine überfällige gesellschaftliche Debatte und auch eine politische Umkehr. Doch diese ist bisher nicht nur in Österreich nicht in Sicht, wie der anhaltende Missbrauch der Ergebnisse der ausgeweiteten PCR-Tests als „steigende Infektionszahlen“ zeigt.
Schon am 7. Mai beschrieb Sprenger die Zukunft nach der Pandemie:
„Manche Menschen werden ab jetzt immer Masken tragen, wenn sie das Haus verlassen. Sie werden ihre Angst vor Viren nicht mehr verlieren. Schuld daran ist eine Politik, die nicht erklärt und nicht verhältnismäßig agiert.“
Zum Schluss der Hinweis auf ein weiteres Buch zum Thema aus Österreich, das zu Sprengers Tagebuch passt: In „Corona: Chronologie einer Entgleisung“ zeichnet ein Rechercheteam der Plattform Addendum um Michael Fleischhacker die Ereignisse in Österreich nach. Das belegt, was Sprenger kritisiert, und zeigt Hintergründe der politischen Reaktionen und Entscheidungen im Zusammenhang mit der Pandemie.
Quellen und Anmerkungen:
Martin Sprenger: „Das Corona-Rätsel — Tagebuch einer Pandemie“
Seifert Verlag Wien, 2020. 312 Seiten. ISBN 978-3-904123-34-1. 24,95 Euro
Michael Fleischhacker (Hg.): „Corona: Chronologie einer Entgleisung“
Addendum/Edition QVV, 2020. 200 Seiten. ISBN 978-3-903925-01-4. 19,90 Euro