Gefährliches Schweigen

Die NATO-Stationierung von Mittelstreckenwaffen in Deutschland müsste einen kollektiven Aufschrei zur Folge haben — Parlamente und etablierte Parteien ducken sich jedoch weg.

Die jüngeren Generationen wissen es allenfalls aus Erzählungen: Die Stationierung von neuen Mittelstreckenraketen in den 1980er-Jahren war Anlass für eine breite Protestbewegung und Großdemonstrationen. 300.000 Demonstranten waren es allein in Bonn! Die Debatte darüber erfasste alle Medien und die gesamte Gesellschaft. Sie veränderte die Parteienlandschaft, indem sie zum Entstehen der Partei Die Grünen beitrug, die damals noch Antimilitarisierungs- und Friedenspartei sein wollte. Und heute? Allenfalls müde Kommentare über die fehlende parlamentarische Debatte sind in den Leitmedien zu finden, aber keine grundsätzliche Kritik und Infragestellung. Die politische Öffentlichkeit erscheint wie sediert. Gerade für linke Parteien, Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sowie Friedensbewegte sollte dieses Thema doch eigentlich Wind unter die Flügel bringen. Aber der breite Protest bleibt bisher aus. Der Artikel geht den Gründen für dieses merkwürdige Phlegma nach.

Was unterscheidet die Lage heute von den 80er-Jahren?

Erstens erleben wir seit 2014 eine erstaunliche Verengung des medialen Meinungsspektrums — besonders bei den Öffentlich-Rechtlichen — in Bezug auf die Risiken der Osterweiterung von NATO und EU und eine Neuauflage des „Kalten Kriegs“, gleichzeitig einen Kurswechsel bei den grünen und linken Parteien in Richtung Unterstützung der NATO, und schließlich haben sich durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine überall diese Fake-Narrative durchgesetzt: Putin wolle für Russland als Reststaat der alten UdSSR sein verlorenes Imperium zurückholen und einen Krieg gegen die demokratischen Werte des Westens führen, die seine Herrschaft bedrohten. Schutz biete dagegen nur eine einige und starke NATO. Diese Angst-Propaganda wird heute in einem wie orchestriert wirkenden Gleichklang von allen führenden Politikern der NATO- beziehungsweise EU-Staaten mantramäßig wiederholt, von den Journalisten der Leitmedien unwidersprochen geteilt und in allen anderen Medien als einzig mögliche Haltung verbreitet. Wie so eine freiwillige „Gleichschaltung“ der Medien funktioniert, darüber gibt zum Beispiel Michael Lüders in seinem Buch „Die scheinheilige Supermacht“ von 2021 ab Seite 150 Auskunft (1).

Außerdem vergeht kaum ein Tag ohne Schlagzeilen über sicherheitspolitische Bedrohungen aus dem Ausland: Hacker-Angriff aus Moskau, chinesische Kampfflugzeuge im Luftraum von Taiwan, iranische Schnellboote im Persischen Golf und Tests von Langstreckenraketen in Nordkorea. Viel Aufmerksamkeit wird auf die Versuche der verdeckten Einflussnahme auf Wahlen und Abstimmungen in den USA und Europa gelenkt, wobei meist Russland am Pranger steht. Die Kritik Macrons am „Hirntod“ der NATO, die militärischen Aggressionen der USA seit dem Zerfall der Sowjetunion in ihrem eigenen „Hinterhof“ Süd- und Mittelamerika, im Irak, in Libyen, in Syrien und Afghanistan — um nur einige hervorzuheben —, all das ist wundersam aus den Medienberichten und Kommentaren verschwunden: Unser Gehirn wurde geflutet!

Zweitens haben sich die Medienlandschaft und die mediale Verbreitung von Informationen komplett gewandelt:

Galt früher noch die Trennung von Berichterstattung und Kommentar als journalistische Leitlinie, so ist heute eine problematische Vermischung aus beidem die Regel.

Gerade wer regelmäßig Spiegel Online liest, wird das bestätigen können: „So manipulieren Moskaus Agenten die deutsche Debatte über den Ukrainekrieg“, 5. Juli 2024. Schon in der Überschrift ist eine klare Meinungsvorgabe und Bewertung der Fakten gegeben, „Framing“ und „Agenda-Setting“ als propagandistische Methoden sind nun Standard (2).

Drittens: Wenn alle Medien und Spitzenpolitiker das Gleiche erzählen über Putins aggressive Absichten und wie wichtig unsere Waffenhilfe ist, dann bekommen Leser und Hörer das Gefühl, es gebe keine ernsthafte Alternative zu der vermittelten Haltung. Kritiker, die sich gegen den Krieg und Waffenlieferungen aussprechen, werden allseits als Lumpenpazifisten oder Putin-Versteher lächerlich gemacht.

Aber woher kommt diese Gleichgerichtetheit?

Wer sich näher mit den institutionellen Strukturen und ideologischen Positionen der NATO beschäftigt, wird auf eine „Waffengattung“ stoßen: „Cognitive warfare“, kognitive Kriegsführung, mit anderen Worten die propagandistische Beeinflussung der öffentlichen Meinungsbildung in allen Fragen der Sicherheitspolitik.

Wer betreibt das? Eine Studie im Auftrag der Partei Die Linke zur neuen NATO-Strategie sagt dazu:

„Ein Netzwerk von NATO-Thinktanks (Denkfabriken) bildet eine Infrastruktur zur Beeinflussung von Öffentlichkeit und politischen Entscheidungsprozessen in Europa.“

„Im Jahr 2005 hat das erste dieser NATO-Exzellenzzentren, das Joint Power Competence Centre (JAPCC), im nordrhein-westfälischen Kalkar seine Arbeit aufgenommen. Mittlerweile gibt es in Deutschland drei NATO-Thinktanks, aber Deutschland beteiligt sich darüber hinaus auch personell und finanziell an weiteren fünfzehn Zentren. Im Jahr 2020 wurden 996.702 Euro finanzielle Unterstützung aufgewendet. (…) Der 2014 gegründete lettische Thinktank StratCom ist wiederum eine Komponente des intensivierten Programms der hybriden Kriegsführung der NATO. Der Schwerpunkt dieses Exzellenzzentrums ist die strategische Kommunikation und Koordination von diplomatischen Beziehungen und Öffentlichkeitsarbeit sowie Operationen auf psychologischer Ebene und im Informationsbereich. Mit anderen Worten: (Gegen-)Propaganda.“

Wer regelmäßig Talkshows mit Illner oder Lanz guckt, wird mit Sicherheit sogenannte Militär- oder Sicherheitsexperten aus dieser Propagandaschule erlebt haben. Sie werden immer wieder eingeladen (3).

„Die aktive Nutzung von Desinformation wird ebenso offen in Erwägung gezogen wie der Einsatz der Sozialen Medien zur Verbreitung einfacher Narrative, um die Herzen und Köpfe der breiten Bevölkerung zu gewinnen.“

„Auch außerhalb des Netzwerks der CoEs agieren in Europa von der NATO mitfinanzierte Denkfabriken im Sinne des Militärbündnisses, etwa der 2005 in Bratislava, Slowakei, gegründete Thinktank GLOBSEC. Dieser spricht insbesondere die Zivilgesellschaft und politische Akteurinnen und Akteure in Mittel- und Osteuropa an, agiert aber gleichzeitig als Lobbyorganisation in Brüssel, um die Außen- und Sicherheitspolitik der EU zu beeinflussen. Neben der NATO wird die Arbeit von GLOBSEC unter anderem von der Europäischen Kommission, dem Thinktank National Endowment for Democracy in Washington und zahlreichen Unternehmen finanziert“ (4).

Die Elitenetzwerke der Transatlantiker

Viertens sind heute die Netzwerke der Transatlantiker — Atlantik-Brücke, Aspen-Institute, TPN, DAG und viele andere mehr — effektiver und besser mit führenden Politikern fast aller Parteien und Alpha-Journalisten verbunden und sorgen für einen intensiven Meinungsaustausch und Karriereförderung. Sie vertreten eine offensive Außen- und Sicherheitspolitik, bestrebt, keine Differenz zwischen deutscher Regierungspolitik und der geopolitischen Agenda der USA zuzulassen. In der Atlantik-Brücke beispielsweise sind Spitzenpolitiker der etablierten Parteien — Sigmar Gabriel, SPD, Norbert Röttgen, CDU, Omid Nouripur, B.90/Die Grünen, Christian Lindner, FDP, und andere — vertreten, führende Journalisten großer Verlage und Medienkonzerne, zum Beispiel Kai Diekmann, BILD, Angelika Gifford von Facebook, Claus Kleber, ZDF, Stefan Kornelius, Süddeutsche Zeitung, Jan Fleischhauer und andere, sowie Vertreter von Wirtschaftsunternehmen und Banken. Mitglied kann man nicht werden, man wird „eingeladen“, kooptiert! Demokratie und Transparenz bleiben draußen!

Kein Wunder also, dass es zwischen den dort vertretenen Parteien und Leitmedien — mit Ausnahme eines Vertreters der Linken, die man dort gerne „einbinden“ beziehungsweise dem „transatlantischen Dialog“ näherbringen möchte — keinen fundamentalen Dissens zur NATO und US-Außenpolitik gibt.

Stellen Sie sich vor, Sie wären ein solcher kritischer Journalist einer linken Zeitung und dort Mitglied: Würden Sie sich dauerhaft dort als Eckensteher und linker Prügelknabe wohlfühlen? Keine Sorge, man würde Sie gar nicht einladen! Aber vielleicht verstehen wir hier besser, wie sich PolitikerInnen der einstigen Grünen, die sich noch in den 1990er-Jahren als basisdemokratisch, gewaltfrei, antimilitaristisch und Friedenspartei verstanden, nun zu Bellizisten mutieren konnten: Auf Dauer korrumpieren Ministerämter, das Gefühl, zur Machtelite zu gehören, und solche Einbindungen in Netzwerke den Verstand — aber ebenso die Moral!

Umso wichtiger ist es, in dieser Zeit der Meinungsüberflutung durch die herrschenden Transatlantiker Zeichen des Widerstands und Protestes entgegenzusetzen, zum Beispiel bei den jetzt angekündigten Demos.