Gedicht des Widerstands

Rainer Maria Rilke erfand das perfekte Bild für den Zwiespalt jeder Opposition.

Auf der Suche nach unverwüstlichen Kunstwerken, die unseren Weltzugang immer wieder neu erschließen, richtet sich der Blick nicht selten zurück auf kanonische Klassiker. Rainer Maria Rilkes weltberühmtes Gedicht „Der Panther“, erstmals veröffentlicht 1903, gehört zweifellos zu jenen zeitlosen Momenten energetisch vibrierender Genialität, in denen die perfekte Metapher für das existenzielle Dilemma jeder Opposition ihre formvollendete Faszinationskraft entfaltet. Solche Kunstwerke können uns heute — und zu allen Zeiten — daran erinnern, auch in härtesten äußeren Bedrohungslagen niemals unsere psychodynamische Widerstandsspannkraft preiszugeben. In den ausführlichen Anmerkungen finden sich brisante und ausnahmslos analoge Lesetipps für Interessierte.

„Diese Menschen. Ihr borniertes Aufbegehren.
Alles, was sie tun, ist so unbedeutend. Es ist so anstrengend.“

Westworld (vierte Staffel, Episode 6, 2022)

Kein anderes Werk der Weltliteratur hat das existentielle Dilemma jeder Opposition gegen die jeweils herrschende Macht zugleich so anmutig und präzise erfasst wie Rilkes berühmtes Gedicht „Der Panther“. Rufen wir uns zunächst den epochalen Text in Erinnerung (1):

Der Panther

Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf —. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille —
und hört im Herzen auf zu sein.

Eindrücklich: Eine Raubkatze im Käfig, Sinn- und Stimmungsbild für die Unglücksfigur der menschlichen Existenz in ihrer Ausweglosigkeit aus äußeren Machtzwängen, die Körperbewegungen ihrer ursprünglichen Kraft und Bewegungsenergie beraubt.

Der innere Wille gelähmt, das Herz betäubt. Doch trotz dieser äußeren und inneren Gefangenschaft scheint die innere Kraft nicht völlig erloschen, könnte jederzeit wieder hervorbrechen (2), schwebend zwischen Starre und Sprung. Und mehr noch (3):

„Das Kreisen der Katze auf engstem Raum hat etwas von einem rituellen Tanz, mit dem in archaischen Kulturen kosmische Ur-Mächte angerufen und magisch aktiviert werden sollten.“

Stummer Zwang

Die im Text virtuos inszenierte Anrufung jener anrührend lauernden Hilflosigkeit, die unberechenbar in plötzliche Spannkraft umschlagen kann, jene angespannte Stille der Glieder also, kann durchaus als perfekte Metapher für das existentielle Dilemma jeder Opposition gegen den von Marx einst beschworenen stummen Zwang gelesen werden, der zu allen Zeiten in den ökonomischen, sozialen und politischen Machtverhältnissen steckt (4).

Das formvollendete Gedicht fungiert dabei als Erinnerungsreservoir, das uns nicht vergessen lässt, auch unter härtesten äußeren Bedrohungslagen, schwankend in der inneren Stimmungsschwebe zwischen Höllensturz und Hoffnung (5), niemals die innere, psychodynamische Widerstandsspannkraft preiszugeben.

Diese Spannkraft hat jede heutige Opposition bitter nötig, stellt sich doch dreihundert Jahre nach der Geburt von Immanuel Kant mehr denn je die Frage, inwieweit die Selbsterhaltung der Vernunft (6) gegenwärtig überhaupt noch eine Chance auf Verwirklichung hat — wenn auch nur, paradox genug, als Wagnis, in den Abgrund der eigenen Un-Freiheit zu blicken (7).

Wahn der zweiten Schöpfung

Immerhin: Realistische Skepsis mit Blick auf die Selbstimmunisierungskräfte der Vernunft ist unausweichlich (8). Oder in den Worten des Kabarettisten Georg Schramm: Auch Optimismus kann krankhaft sein. Denn folgt man Yanis Varoufakis, ist der Kapitalismus der Gegenwart inzwischen vom Krisenmodus der Macht des globalen Minotaurus zur Überwachungs-Megamaschine des Technofeudalismus mutiert (9) — mit einem langen historischen Vorlauf, der mindestens bis zur Entstehung europäischer Zentralbanken zurückreicht (10).

Im planetarischen Kapital-Digital-Militär-Komplex unserer Zeit lautet demnach das zentrale Zerstörungs- und Enteignungsspiel: Wer wird Milliardär (11)? Dabei scheint der toxische Narzissmus — man könnte auch sagen: der transinhumanistisch-philantropathische Phantaschismus (12) — inzwischen keine moralischen Grenzen zu kennen: Das insgeheime Gravitationszentrum dieses entfesselten Machttypus lautet: Allumfassende Zerstörung des Bestehenden aus dem wahnhaften (Un-)Geist einer zweiten Schöpfung (13).

Gegen-Freiheit

Wie lässt sich angesichts dieser entzivilisierten und jeder demokratischen Einhegung enteilten Über-Macht (14) widerständiges Handeln überhaupt denken? Der Philosoph Dominik Finkelde spricht in diesem Zusammenhang von exzessiver Subjektivität (15): Das politisch handelnde Subjekt verfügt nicht über rein willkürlich gesetzte Autonomie, sondern agiert stets in einem sozialen Feld herrschender Mächte und Normen, die überhaupt erst, paradox genug, spezifische Vorstellungen subjektiver Autonomie hervorrufen.

Finkelde löst diese Paradoxie nicht auf, sondern pointiert sie zeittheoretisch: Exzessive Subjektivität ist gespalten, weil sie sich autonom wähnt, real jedoch heteronom in äußeren Machtverhältnissen agiert, in denen die „Handlungstat“ (16) erst rückblickend sichtbar wird als möglicherweise neue soziale Norm, die einst als Abweichung eines Outlaws gelesen wurde.

Diese komplexe Gedankenfigur illustriert Finkelde am berühmten Beispiel von Rosa Parks: Sie hatte sich 1955, als in den USA noch die Jim-Crow-Gesetze galten (17), in einem Linienbus demonstrativ auf einen Platz gesetzt, der „nur für Weiße reserviert“ war und wurde daraufhin verhaftet. Dies gilt retrospektiv als einer der wichtigsten Auslöser für die damalige Bürgerrechtsbewegung, denn diese Handlungstat machte einmal mehr die brutale Absurdität rassistischer Alltagsnormen sichtbar — Finkelde resümiert:

„Sie sah dadurch etwas, was andere Schwarze und Weiße, die Teil derselben Praxis waren, zuvor über Jahrzehnte eventuell nicht sehen konnten, weil der Akt ihnen fehlte, das heißt das Dezisionsmoment, welches den Blickpunkt als Bedingung moralischer Beurteilung in einer Gesinnungsrevolution erst erschafft“ (18).

Wir sehen also rückblickend: Die eigentümliche Komik der Freiheit besteht darin, dass in einem ersten Schritt erst verloren werden muss, was wir nicht haben, nämlich Freiheit, um in einem zweiten Schritt zu tun, was uns unmöglich scheint — uns von herrschender Macht zu befreien.

Die insgeheime Pointe dieser fatalistischen „Gegen-Freiheit" (19) ist, uns mit dem Abgrund der eigenen Un-Freiheit zu konfrontieren und uns zugleich zu zeigen, dass es nur (un)möglich weitergeht — stets in der Schwebe zwischen Starre und Sprung (20).