Ganz Mensch werden
Wenn wir die aktuelle Krise überwinden wollen, müssen Meditation und Selbsterkenntnis unsere einseitigen Fixierung auf die Ratio ergänzen.
Machen wir uns nichts vor: Der Homo sapiens ist im Laufe der Evolution offenbar in eine Sackgasse geraten. Und da wir keine Dinosaurier sind, können wir die Katastrophe sogar vorausahnen. Das macht es uns nicht gerade leicht, es erzeugt lähmende Angst. Und so fragen wir uns: Gibt es noch einen Ausweg? Die Antwort mag für viele überraschend klingen. Meditation kann uns Menschen schneller und gesünder als jede erdachte Strategie aus der aktuellen Sackgasse führen. Sie muss jedoch durch Schritte zur Selbsterkenntnis ergänzt werden. Sonst ist auch sie wieder nichts anderes als eine Beruhigungspille, die uns in einer verkehrten Welt besser funktionieren lässt.
In sehr deutlichen und allgemeinverständlichen Worten versuchen Autoren und Wissenschaftler an vielen Orten der Welt, den überlebenswichtigen, gesellschaftlichen Wandel in unseren Gesellschaften voranzutreiben und mitzugestalten. Ihre Worte klingen wissenschaftlich, informativ, überzeugend und eindringlich warnend. Sie übermitteln dabei unterschwellig jenes Gefühl, von dem wir ohnehin bereits mehr als genug haben in unserer Gesellschaft: Angst. Was also tun?
Wenn wir uns der Angst nicht entziehen können, flüchten wir in der Regel. Wenn möglich im Außen, notfalls im Innern. Im Innern äußert sich dies in Verdrängungstechniken. Das ist verständlich, weil menschlich. Denn neben der Grundangst um unsere Existenz müssen wir uns nun auch noch eine noch größere Angst aufladen: Die Angst um das Fortbestehen unserer Spezies. Dies scheint zu viel zu sein für das einzelne Gehirn und die einzelne Psyche.
Auch die zweite Möglichkeit, auf Angst zu reagieren, ist nicht gesund und macht nicht glücklich. Es ist die Möglichkeit des äußeren Angriffs. Diese wählen jene, die wissenschaftliche Fakten und Aufrufe von den besorgten Mutigen infrage stellen, ignorieren, vielfältig denunzieren oder mit anderen Methoden angreifen.
Was tun also mit dieser Angst? Wie mit ihr umgehen, um nicht aggressiv, depressiv, wahnsinnig oder körperlich krank zu werden und damit handlungsunfähig?
Ja, verändern wollen wir eine Menge — müssen wir wohl — und inzwischen eher schnell als langsam, wenn wir überleben wollen. Wir können auch nicht mehr warten, bis unsere Kinder erwachsen sind und das tun, was wir, während wir im Hamsterrad unseres Lebens stecken, grundlegend verschlafen.
Ach ja, wir schlafen ja nicht immer! Ab und zu, vielleicht am Frühstückstisch oder bei der Fahrt von der existenz-notwendigen Erwerbstätigkeit nach Hause, fragen wir uns gelegentlich und immer häufiger:
Was kann ich tun? Und wo anfangen? Warum überhaupt ich? Können nicht erst die anderen…? Andererseits … Vielleicht mal den Fernseher ausschalten? Freitags mit den Kindern demonstrieren gehen? Zivilen Ungehorsam in unserer Funktionsgesellschaft wagen? Sozial anecken? Ausgegrenzt werden? Den sinnlosen Job wechseln? Und dann …?
So weit so gut. Über den äußeren Weg scheinen wir derzeit noch nicht ganz einig, oder? Er erscheint uns zu komplex, und auch er ist angstbesetzt. Die Hemmschwelle in jedem Einzelnen von uns, in dieser Minute den Schalter im Handeln umzulegen und sichtbar zu werden, ist enorm.
Die eigentliche Ursache unseres Dilemmas
Nur wenige Menschen in unserem Kulturkreis wissen, dass die Unfähigkeit, langfristig lebenserhaltend zu handeln, etwas mit unserem derzeitigen Bewusstseinszustand zu tun hat. Wir befinden uns nun einmal — irgendwie sind wir versehentlich da hineingeraten — in einer bestimmten Ebene der Evolution, in einer dieser vielen Runden in diesem unglaublichen, gigantischen Lebensspiel.
Sehr wenige Autoren und Wissenschaftler wagen sich derzeit auf einen anderen Weg. Sie kombinieren ihre wissenschaftlichen Kenntnisse mit spirituellen Erfahrungen und Erkenntnissen. Sie suchen und entdecken ausgehend von ihrem persönlichen Blickwinkel Ursachen in uns Menschen für den Zustand der Welt, den wir ja selbst bewusst mitgestaltet haben. Sie erforschen die Korrespondenz zwischen Innen und Außen.
Aus ganz unterschiedlichen Fachbereichen machen sie sich auf, unseren Geist zu betrachten. Dabei sind sie keine Psychologen. Sie sind sozusagen Quereinsteiger. Sie „kompensieren die Inkompetenz im wissenschaftlichen Fachbereich Psychologie“, würde Richard David Precht vielleicht sagen. An dieser Stelle möchte ich ihm aus meiner Rolle als Sprachwissenschaftlerin mal für die Aktivierung des von Odo Marquard stammenden Begriffes "Inkompetenzkompensationskompetenz" danken. Sie machen sich auf, die Grenzen unseres kognitiven Denkens zu sprengen.
Je vernetzter ein Mensch heute zu denken in der Lage ist, desto komplexer erfasst er tatsächlich die Ursachen des menschlichen Handelns und deren Auswirkungen auf die Gestaltung seines Lebensraumes. Wenige Wissenschaftler und Autoren haben auf diesem Erkenntnisweg bereits unser „duales Denken“ als wesentliche Ursache für unsere globale Notsituation erkannt. Alles, was wir wahrnehmen, spalten wir auf. Wir brauchen das für unsere Orientierung in der Welt … scheinbar.
Um es für ein besseres Verständnis vorweg zu nehmen:
Kennzeichnend für das duale Denken ist eine stark eingeschränkte Fähigkeit, die Welt und unser Leben wahrzunehmen. Vom Ursprung des dualen Denkens und seinen Folgen erzählt übrigens ein uns Europäern sehr bekanntes Buch: die Bibel. Die „Geschichte der Erkenntnis“ schildert dieses Ereignis. So war es der Genuss des Apfels vom Baum der Erkenntnis, der Adam und Eva das duale Denken bescherte und damit die Geburt der getrennten Wahrnehmung von weiblich und männlich, von gut und böse, von dunkel und hell, von Freude und Leid… Was in der Geschichte folgte, wissen wir: Es folgte die Vertreibung aus dem Paradies. In China symbolisieren das Yin und Yang übrigens diese Aufspaltung der menschlichen Wahrnehmung.
Das derzeitige ständige Hin und Her zwischen Denken, Forschen, Wissen und der Wiederentdeckung der Gefühle bietet tatsächlich gute Voraussetzungen für die Bereitschaft der Menschen, diese Fragmentierung ihres Lebens aufzuheben und ihr Gehirn besser zu vernetzen.
Seit der Aufklärung haben wir die Arbeit unserer linken Gehirnhälfte fein säuberlich von der Arbeit der rechten Gehirnhälfte getrennt. Wir unterscheiden Glaube und Wissen, Gut und Böse, Gefühl und Rationalität. Damit sind wir weit gekommen. Leider laufen wir auf diese Weise einäugig durch die Welt. Und genau dies ist unser Problem. Spirituelle Meister, überall auf der Welt, versuchen uns seit Hunderten von Jahren zu vermitteln, dass wir mehr sind als Gefühl und Verstand.
Der historische Kontext
Einäugig sehen bedeutet zweidimensional sehen. Diesen Vergleich hat Platon einst für sein „Höhlengleichnis“ verwendet. Den Menschen in der Höhle fehlt sogar die Farbwahrnehmung. Ich verwende bewusst lieber diese Umschreibung, weil sie emotional und religiös neutraler ist als die Beschreibungen der Bibel. Die Inhalte überschneiden sich jedoch.
Wie wir die Welt wahrnehmen, hat etwas mit der Verarbeitung dessen zu tun, was wir sehen, hören, fühlen, mit allem, das durch unsere Sinneskanäle ins Gehirn gelangt. Der Unterschied entsteht in unserem Kopf. Orientieren wir uns an Platons Beispiel, ist es leider so, dass wir entweder mit dem linken oder mit dem rechten Auge sehen, immer nur ein zweidimensionales Bild wahrnehmen und denken: „Ja, so ist die Welt!“ Die Mehrheit der Menschen stolpert zurzeit tatsächlich mit zweidimensionaler, schwarzweißer Wahrnehmung durch eine dreidimensionale, bunte Welt. Es ist also eigentlich kein Wunder, dass wir mit unserer Gestaltungswut diese Welt zerstören.
„Woher weißt du, dass du nicht bereits im Himmel bist und hier nur ein fürchterliches Durcheinander angerichtet hast?“ (Jagadish Vasudev) (1)
Seit Jahrhunderten verschalten wir auf diese Weise unsere Gehirne, und wir fangen bei den Kindern an. Immer früher. Gerald Hüther lehrt uns derzeit, dass wir unser Gehirn noch umbauen können, sogar im hohen Alter.
Beim Sehen mit beiden Augen, welches sich beim Heraustreten aus Platons Höhle einstellt und damit beim stärkeren Vernetzen unseres Gehirns handelt es sich nicht um eine Addition von zwei Bildern! Es kommt ein vollkommen anderes Bild zustande, eine vollkommen veränderte Wahrnehmung, die jedoch erst dann einen Wissenschaftler überzeugen kann, wenn seine eigene Vernetzung weit genug fortgeschritten ist. Vorher ist er blind dafür und wird sich verweigern. Es handelt sich übrigens tatsächlich um jene Blindheit, von der wir schon in einem der ältesten christlichen Bücher lesen können: im Neuen Testament. Mit dieser Blindheit sind die Menschen bis heute geschlagen. Hinter dem „Sehend werden“ verbirgt sich ein angestrebter Entwicklungsprozess in unserem menschlichen Gehirn.
Wenn wir in diesem Jahrhundert bereit sind zu lernen, „mit beiden Augen zu sehen“, kann das Bild also dreidimensional werden. Im Augenblick des Lesens dieses Textes genügt es sich vorzustellen, was dies für einen Unterschied bedeuten kann, bezogen auf alles: Auf jeden Apfel, den ein Mensch in der Hand hält, jeden Baum, den er sieht und berührt, jeden Menschen, mit dem er in Kontakt tritt.
Wir werden die Wissenschaften in ihre Schranken weisen müssen und sie als das entlarven, was sie sind: Nette Spielzeuge für unseren Verstand, die den Menschen jedoch von der Wirklichkeit und von seinem Platz auf diesem Planeten entfernten.
Von den australischen Ureinwohnern hätten wir das einst lernen können. Unsere Vorfahren haben es leider gründlich „vermasselt“. Sie erkannten nicht, dass dem äußerlich nicht geordneten Miteinander eine innere Orientierung auf der Basis eines höheren Bewusstseins dieser Menschen zugrunde lag. (Andreas Weber ) (2) Nun holt uns dieses Versäumnis im 21. Jahrhundert ein!
Doch nun zurück zu unserem gesellschaftlichen Ist-Zustand:
Die derzeitigen Irrtümer und Irrwege
Das Duale Denken geht einher mit einer Orientierung am Außen bei innerer Orientierungslosigkeit, mit Leistungsdenken, mit dem Streben nach einem Selbstwertgefühl und der Sehnsucht nach Anerkennung und Zustimmung. Duales Denken möchte erziehen, von außen steuern. Ein dual denkender Mensch orientiert sich am Haben, identifiziert sich mit Dingen und Geschichten und ist einem ununterbrochenen Gedankenfluss ausgesetzt. Versuchen Sie mal bitte, mehrere Minuten lang an gar nichts zu denken! Daher ist Überlebensangst das ununterbrochene Grundgefühl des dual denkenden Gehirns.
Im 21. Jahrhundert könnte es unsere Rettung zu sein, dieses global zu überwinden, und damit die Spaltungen im Außen aufzuheben, die in jedem Bereich unseres Lebens zu finden sind. Warum? Um zu überleben! Um das Leid zu beenden! Dann also mal los! Doch wie schaffen wir das bloß mit unseren dualen Gehirnen?
Wie lange werden wir noch darauf vertrauen, das „duale Denken“ durch wissenschaftliche Beweise, kluge denk-philosophische Vorträge und emotionale, wohl durchdachte Aufrufe und Strategien zu überwinden? All diese Textproduktionen entstammen ja dem dualen Denken. Und noch etwas: Wenn wir einem dual denkenden Redner zuhören oder im dualen Denken verfasste Texte lesen, verbleiben auch wir im dualen Denken. Wir produzieren dieselben Hirnwellenmuster, aktivieren und verknüpfen dieselben Bereiche unseres Gehirns. Wir bleiben handlungsunfähig. Darum wissen wir derzeit noch nicht, wie wir es schaffen, die lähmende und zu Abgrenzung und Aggression führende Angst kollektiv zu überwinden.
Was nun? Weiter überzeugende, informierende Texte veröffentlichen und die Appelle und Proteste ausweiten? Weiter kognitiv Strategien entwerfen und Handlungsanweisungen ausarbeiten … in abertausend Worten … nach denen sich einfach gestrickte Menschen richten können? Kämpfen, kämpfen, kämpfen … immer mit Worten … und dabei Angst haben …
Das alles ist der Weg der linken, isoliert denkenden Gehirnhälfte. Es ist in der Tat der anstrengendere, der Widerstände beinhaltende, der uns bekannte und auch der riskantere Weg. Es entspricht eben jener Art unser Gehirn zu benutzen, die uns ja auch in unsere jetzige Lage geführt hat. Versuchen wir vielleicht wie Baron von Münchhausen, uns selbst an den Haaren aus dem Wasser zu ziehen?
Derzeit preschen wir mal wieder im Außen vor, bevor wir das Innen reguliert haben. Vielleicht sollten wir dieses Mal doch erst die Gehirne umbauen, bevor wir zur Tat schreiten?
Wer aus dem dualen Denken aussteigen möchte, begibt sich automatisch auf einen spirituellen Weg. Keinen religiösen! Keinen esoterischen! Keinen okkulten! Diese Missverständnisse ergeben sich leider aus der Blindheit.
„Der spirituelle Weg genießt bei Wissenschaftlern derzeit noch einen Lächerlichkeitsstatus. Darauf brauchen sich die Intellektuellen nichts einbilden. Weil sie sich mit der wichtigsten Sache im Leben eines Menschen überhaupt nicht befassen.“ (André Heller) (3)
Nicht dual gedacht haben übrigens auch Nelson Mandela und Mahatma Ghandi. Jahrhunderte zuvor auch Buddha und Jesus. Und viele andere historische Figuren der Menschheitsgeschichte. Die Evolution gibt nicht auf ... Woher nahmen sie die Kraft? Was befreite sie von Angst? Was lenkte ihr Handeln?
„Jesus Christus ist der Prototyp. Wir sollen ihm nachfolgen.“ (Sabine Bobert) (4)
Deshalb werde ich jetzt sehr konkret:
Die evolutive Lösung
Das duale Denken überwinden bedeutet: Ich gehe mit meinem Denken, meinem Fühlen und meinem Wahrnehmen als Mensch auf eine Suche, bei der ich nichts ablehne, alles annehme und neugierig in Kauf nehme. Ich nehme damit in Kauf, dass alles, was für mich heute richtig und wichtig ist, meine Gesinnung, meine Umgebung, meine Freunde, sich für mich schon morgen als falsch und austauschbar erweisen kann. Alles, was mir im Außen, in persönlichen Kontakten, beruflich oder privat, in Worten begegnet, versuche ich zu integrieren in das, was ich schon weiß. Denn ich möchte verstehen, was derzeit geschieht und die Wahrheit finden.
Ich lehne weder Donald Trump ab, noch Greta Thunberg, noch den Papst, nicht meinen unfreundlichen Chef und nicht mein tobendes Kind. Ich beobachte und versuche, ihre Beweggründe zu verstehen, denn sie alle haben ihre Geschichte, ihre erworbenen Voreinstellungen, genau wie ich, und ich warte ab, was mein Gehirn mit diesem Chaos anstellt.
Sehr wichtig ist dabei: Ich halte es aus, dass das für mein Bewusstsein manchmal verwirrend ist, dass ich zuweilen den roten Faden verliere und manchmal sogar die Orientierung in meinem Leben. In dieser Zeit ist es absolut notwendig, mal den Lärm abzuschalten, die Musik, den Fernseher, den Kinobesuch, die Veranstaltung am Wochenende, die Gespräche… und ihn auf das Notwendigste zu reduzieren.
Keine Sorge! Unser Gehirn kann eine ganze Menge! Es ist tatsächlich in der Lage, aus einem solchen Chaos eine Ordnung herzustellen. Immer und immer wieder. Der Verstand kommt nach, aber er braucht etwas länger, den Input zu sortieren. Dieser Prozess ist vielleicht vergleichbar mit dem Tragen einer „Umkehrbrille“. Am Anfang ist die Sicht Schwindel erregend, jeder Schritt unsicher und Übelkeit überkommt uns. Doch das Gehirn baut sich um. Wer „Speedreading“ praktiziert oder mit der „Birkenbihl-Methode“ (5) eine Fremdsprache erlernt, hat vielleicht bereits Erfahrung mit den erstaunlichen Fähigkeiten unseres Unterbewusstseins.
„Auf dem Weg zum Wissen ist es wichtig, keine Angst zu haben sich zu irren. Die spirituelle Suche besteht aus ständigen Wiederanfängen. Das Einzige, was zählt, ist der Wunsch, weiterzumachen.“ (Paulo Coelho) (6)
Wenn ich das Zulassen im Außen versucht und geübt habe, wende ich mich mir selbst zu. Ich betrachte meine Identität und meine Geschichte aus einer Distanz wie einen Film und stelle mich der Tatsache, dass es tatsächlich nur ein Film ist. Denn: Wäre ich durch eine Verwechslung nach meiner Geburt an einem anderen Ort gelandet, hätte ich einen anderen Namen und eine andere Geschichte. Jetzt tauchen existenzielle Fragen auf: Wenn ich meine Geschichte jetzt lösche … was bleibt dann? Wer oder was bin ich ohne meine Geschichte? Bin ich ein „Nichts“? Was ist mit meiner Identität?
„You see and hear, you touch and feel. That’s everything.“ (Naomi Kawase) (7)
Wer diese Existenzfrage seines Verstandes eine Weile ohne Angstzustände aushält und ihr nicht durch Aktivität im Außen ausweicht, erlebt eine sehr spannende Entwicklung: In dem Augenblick, wenn wir „leer“ werden, berühren wir das Leben unmittelbar und treten mit etwas Phantastischem aber absolut Menschlichen in Kontakt, von dem die meisten Menschen gar nicht ahnen, dass es vorhanden ist. Meditation kann diesen Prozess nun unterstützen und beschleunigen.
Meditation wirkt jedoch erst dann, wenn wir durch Selbsterkenntnis im Außen und Innen schon viele Wahrnehmungsfilter beseitigt haben. Erst dann erhalten wir Zugriff auf den inneren Kompass, vernetzen unser Gehirn und entdecken, dass es deutlich mehr als fünf Sinne gibt.
Ohne Selbsterkenntnis ist Meditation mal wieder eine neue Beruhigungstablette, um Kraft zu sammeln für das blinde Rennen im Hamsterrad.
Erst wenn wir unsere Identität aufs Spiel setzen, kann in unserem Gehirn ein dreidimensionales Bild entstehen. Ich meine mich zu erinnern, dass Yuval Noah Harari (8) diesen Weg als den einzig derzeit begehbaren für einen europäischen Menschen mit Verstandesgehirn, mit Wissenschaftlergehirn beschrieb.
Das „Dao“, das „Qi“, der „Seelengrund“ ist nur für die isolierte linke Gehirnhälfte „Nichts“ und daher Fiktion. In einer Wahrnehmung, die sich bei komplex divergentem Denken ergibt, ist es sehr wohl erfahrbar und begreifbar. Es ist so sehr vorhanden, dass es einem Menschen eine lebenslange Orientierung geben kann, die ihn gesund, resilient und angstfrei leben lässt.
In den erfolgreichen, hierarchischen, kapitalistischen Gesellschaften auf dieser Welt zerstören wir diese in den Kindern angelegte Orientierung, zuerst in den Familien, dann in den Kindergärten, Schulen und Universitäten … eigentlich überall. Das zerstörerische Instrument hierfür sind Lob und Tadel als Mittel des Maschinendenkens. Und dann bekämpfen wir den Krebs, in uns und im Außen.
Wenn die Vernetzung im Gehirn bei jedem einzelnen Menschen bis zu einem gewissen Grad vorangeschritten ist, entwickelt sich eine völlig neue Wahrnehmung des Lebens. Irgendwann auf diesem Weg beginnt tatsächlich auch allmählich die Angst, der stärkste kollektive Filter, zu weichen. Sie weicht, während die Orientierung an einem sehr zuverlässigen Sinn zunimmt, der jeden von uns wie ein Steuermann durch die unruhige See führen kann.
„Selbsterkenntnis ist nur der Anfang der Meditation“ (Jiddu Krishnamurti) (9)
Netzwerke wie „Rubikon“ können die Selbsterkenntnis im Außen anstoßen, begleiten und vorantreiben. Sie liefern eine vielfältige Bestandsaufnahme des derzeitigen Zustandes der Welt, die wir auf Basis unserer Fehlwahrnehmung gestaltet haben. Jedoch erst wenn wir den Blick von außen nach innen richten, werden wir wie einst Ghandi die richtigen Handlungsimpulse erhalten. Wir werden dann genau wissen, wann und wo wir was zu tun haben. Es wird wie selbstverständlich und leicht sein.
„Suchende, also spirituelle Menschen haben verstanden, dass die Antwort in uns liegt, Gläubige und Wissenschaftler suchen sie noch im Außen.“ (Jagadish Vasudev) (10)
Dies scheint der evolutive Schritt zu sein, der uns im 21. Jahrhundert kollektiv bevorsteht. Wann wir damit beginnen, bleibt uns überlassen. Wir haben den freien Willen, dies jederzeit zu tun.
Die erforderlichen Impulse
Ein Satz meiner weisen Großmutter begleitete mich durch mein halbes Leben: „Manchmal schaust du in ein lächelndes Gesicht. Doch aus den Augen blickt dich etwas Totes an.“ Ich verstand, was sie damit meinte, erkannte die „grauen Herren“ aus Michael Endes Buch „Momo“ überall in meinem wirklichen Leben. Mit Meditation lernte ich früh, mein eigenes Gedankenkarussell in Schach zu halten.
Heute streift nun mein Blick die Bestsellertitel in den Buchläden, die nach Wahrheit und Lösungen suchenden Artikel und die wenigen freien Nischenmagazine unserer Zeit. Ich lese und höre, dass wir ein Erwachen des „weiblichen Prinzips“ in unserer patriarchalischen, hierarchischen Gesellschaft brauchen, um jene Krankheit auszubremsen, die Hans-Joachim Schellnhuber (11) einmal mit dem Begriff „Vertikalspannung des Menschen“ bezeichnete.
Mir fällt bei meinem Streifzug auf, dass ich nur Männernamen lese. Und hinter diesen Männernamen folgen unglaublich viele kluge Worte. Seltsam, denke ich, einen Ghandi entdecke ich hier nicht. Ob der Impuls der Verschiebung unserer Gesellschaften hin zum Lebendigen, Fließenden, Intuitiven überhaupt aus männlichen, in unserer Gesellschaft geprägten Köpfen kommen kann? Dabei ist ja auch noch zu bedenken, dass die männlichen Gehirne zunehmend auch weibliche Gesichter tragen. Ich habe da so meine Zweifel.
Es hat sie immer gegeben: die andere Seite, das Yin. Sie lebt in den Momos und Malalas jeder Zeit, überall auf der Welt. Sie ist sehr stark, aber nicht so laut und Mann muss ein wenig leise werden, um sie zu hören. Vielleicht muss Mann auch erst aus dem Scheinwerferlicht heraustreten, um sie zu sehen, denn sie befindet sich im Schatten.
Der Impuls zur Umkehr, vielleicht wird er bald aus einer ganz anderen Richtung kommen, als sich dies Richard David Precht, Harald Lesch, Graeme Maxton, Yuval Noah Harari, Gerald Hüther und viele andere derzeit vorstellen, deren Bücher ich als wissenschaftlich gebildeter, passionierter „Speedreader“ gerne gelesen habe. Ihnen allen sei getrost gesagt:
„Wenn man ein Ziel hat,
heißt das nicht,
dass der Weg, der uns dahinführt, auch der ist,
den wir uns vorstellen.“ (Paulo Coelho) (12)
Vielleicht werden es diesmal — zum ersten Mal in der Geschichte — die ur-weiblichen Gehirne sein, die den Impuls setzen, wenn alle klugen Stimmen verhallen und verstummen. Auf eine sehr wirkungsvolle und doch andere Art, überall auf der Welt:
„Keep your children home in love and be silent.“
Dies ist meine gegenwärtige Sicht auf all diese Dinge. Vielleicht ist sie schon morgen wieder eine andere. Denn auch ich bin nur auf der Reise.
Quellen und Hinweise:
(1) Jagadish Vasudev, auch „Sadhguru“, ist ein indischer Yogi, Mystiker und Initiator der „Isha Foundation“, die — inzwischen auch für die westliche Welt — einen Weg anbietet, das duale Denken zu überwinden.
(2) Andreas Weber, Schriftsteller, Journalist und Hochschuldozent schildert in seinem Buch „Indigenialität“ sehr verständlich die geistige Überlegenheit der indigenen Völker und unsere jahrhundertelangen Irrtümer diesbezüglich.
(3) André Heller ist ein österreichischer Allroundkünstler. Sein aktuelles Projekt ist der Garten „Anima“ südlich von Marrakesch.
(4) Sabine Bobert ist Professorin für Theologie und außerdem christliche Mystikerin. Mit ihrem Projekt „Mystic und Coaching“ vermittelt sie im deutschsprachigen Raum einen Weg zum Ausstieg aus dem dualen Denken. Sie vermittelt dabei spirituelle Erfahrungen in wissenschaftlicher Sprache.
(5) Vera F. Birkenbihl war Managementtrainerin und entwickelte eine Methode zum gehirngerechten Fremdsprachenlernen, die den mühsamen, schulischen Fremdsprachenerwerb noch in diesem Jahrhundert ablösen könnte. Die Ignoranz gegenüber dieser Methode von Seiten der Sprachwissenschaften und der Fachdidaktik erklärt sich aus der Tatsache, dass sie den herkömmlichen Sprachunterricht an den Schulen sowie die Wissenschaften selbst in ihrer Bedeutung infrage stellen würde. Vera F. Birkenbihl praktizierte „Speed-reading“, welches das Lesen von Texten weit über der Geschwindigkeit des bewussten Denkens beschreibt. Diese Methode wurde im anglikanischen Raum im letzten Jahrhundert zu militärischen Trainingszwecken verwendet. Menschen mit sehr hoher Sprach und Lesekompetenz können sie als natürlichen Prozess erwerben.
(6) Paulo Coelho ist ein brasilianischer Schriftsteller, der heute in der Schweiz lebt.
(7) Naomi Kawase ist eine japanische Regisseurin, die im deutschsprachigen Raum mit ihrem Film „Kirschblüten und Rote Bohnen“ bekannt wurde. Das Zitat stammt allerdings aus ihrem Film „Die Blüte des Einklangs“, welcher vom wahren Kreislauf unserer Existenz erzählt.
(8) Yuval Noah Harari ist ein israelischer Historiker, der durch seine Werke „Eine kurze Geschichte der Menschheit“, „Homo deus“ und „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ im deutschsprachigen Raum bekannt wurde.
(9) Jiddu Krishnamurti war ein indischer spiritueller Lehrer im 20. Jahrhundert, der seine spirituelle Suche ebenso wie Rudolf Steiner (Waldorf-Pädagogik) in der „Theosophie“ begann.
(10) siehe unter 1
(11) Hans-Joachim Schellnhuber ist der derzeit bekannteste deutsche Klimaforscher.
(12) siehe unter 6
Anmerkung:
An dieser Stelle möchte ich Sabine Bobert und Gerald Hüther für ihre persönlichen Impulse auf meiner Reise danken.
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