Der Gipfel

130 Millionen Euro und über 20.000 Polizisten wurden aufgeboten, um den G20-Gipfel zu "schützen". Ein politischer Kassensturz.

Der erste Teil der G20-Serie handelte von BILD-gerechten Einheizern. Der zweite Teil suchte eine Antwort auf die Frage: Wer hat angefangen? In diesem dritten und letzten Teil stelle ich die Frage: Was können wir aus den Geschehnissen lernen?

Redaktionelle Vorbemerkung: Den ersten Teil dieses Dreiteilers lesen Sie hier, den zweiten hier.

Mindestens 130 Millionen Euro und über 20.000 Polizisten wurden aufgeboten, um in eineinhalb Tagen zu diesem Ergebnis zu kommen:

Die polizeiliche und strafrechtliche Aufrüstung unter dem Label „Antiterrorkampf“ geht weiter. Die Einigkeit in diesem einen Punkt war bemerkenswert und systemübergreifend. Sie reicht von Diktaturen, Fast-Diktaturen, autokratischen Systemen bis hin zu Demokratien im Ausnahmezustand.
Kein einziger G20-Staat hat sich in Hamburg dafür eingesetzt, seine Kriegsbeteiligung(en) zu beenden, um den eigenen Waffenhandel zu stoppen.
Einig war man sich am Rande, das in Afrika verstärkt zu tun, was man auf anderen Kontinenten längst tut: ausbeuten.

„Die G20-Staaten stellten sich in Hamburg hinter den "Compact mit Afrika", mit dem Berlin sich neuen Einfluss auf dem afrikanischen Kontinent sichern will. Der "Compact" sieht Maßnahmen vor, die es Industrienationen wie Deutschland faktisch ermöglichen, die Investitionsbedingungen in einzelnen Staaten Afrikas weitgehend nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Als Partner dafür hat die Bundesregierung Tunesien, Ghana und Côte d'Ivoire gewählt. Während Tunesien längst als bedeutender Niedriglohnstandort deutscher Unternehmen fungiert, steht Côte d'Ivoire noch unter maßgeblichem Einfluss Frankreichs - ein Zustand, den Berlin mit Hilfe des "Compact mit Afrika" zu brechen hofft. Insgesamt soll der "Compact" vor allem helfen, den deutschen Wirtschaftseinfluss in Afrika nach vielen gescheiterten Versuchen der vergangenen Jahre endlich zu intensivieren. Aus Sicht des deutschen Establishments drängt die Zeit: Mit China ist ein weltpolitischer Rivale mittlerweile zum wohl bedeutendsten Wirtschaftspartner zahlreicher afrikanischer Staaten aufgestiegen.“ (german-foreign-policy.com vom 10.7.2017)

Furchtbar einig ist man sich auch, die Flucht verstärkt zu bekämpfen, also zu verhindern, dass die Ursachen von Flucht und Elend die Ländern erreichen, die vom dortigen Elend am meisten profitieren und wesentlichen Anteil daran haben, dass die Menschen keine andere Überlebenschance mehr sehen, als zu fliehen.
Dafür tut man sich zusammen, mit dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan genau so wie mit para-staatlichen Milizen in Libyen.

Man kann es auch so zusammenfassen: Man setzt die Politik der Ausbeutung, der Verarmung und Zerstörung fort und verstärkt die Maßnahmen, dass die mörderischen Folgen dieser Politik die (meisten) G-20-Staaten nicht erreichen.

Die „kannibalische Weltordnung“ (Jean Ziegler) hat in Hamburg gezeigt, dass sie sich nicht aufhalten läßt – weder durch die 50 Millionen Menschen auf der Flucht, weder durch das tägliche Sterben an Hunger oder im Mittelmeer, noch durch die „Krawalle“ in Hamburg.

Selbstverständlich sind die „Krawalle“ in Hamburg nicht die Antwort auf dieses globale Wissen. Auch die „friedlichen Proteste“ sind es nicht.
Niemand hat diese „kannibalische Weltordnung“ 1: 1 im Kopf, wenn er und sie in Hamburg gegen den G20-Gipfel demonstrieren. Das wäre nicht zum Aushalten! Sie sickert vielmehr durch zahlreiche Filter zu uns durch: Dazu zählen vor allem unsere je verschiedenen Lebensumstände: Ein geduldeter Flüchtling in Hamburg spürt das, was die G-20-Führer sagen, ganz anders, als jemand, der in Deutschland nicht um seinen Status kämpfen muss und mit seinem Lohn leben kann. Und jemand, der Polizeigewalt schon ein- bis vielmal erlebt hat, zieht andere Schlüsse daraus, als jemand, der dieser nie ausgesetzt war. Und wer hier, in Deutschland, am eigenen Leib spürt, was es heißt, für vier oder fünf Euro die Stunde zu schuften, der hat einen anderen Zugang zu dem, was man in Afrika oder im Nahen Osten Überlebenskampf nennt.
Und auch das ist eine globale Weisheit: Nicht immer kämpfen die „Ärmsten“ zuerst, sondern gerade jene, die noch ein bißchen Luft, Kraft und Reserven haben. Das ist in Venezuela nicht anders als in Frankreich.

Wie kämpft man also gegen diese Weltordnung, gegen jene, die sie politisch repräsentieren und jene, die davon prächtig leben?
Man stellt völlig zu recht den „Autonomen“ die Frage: Was hat euer Protest, eure Randale gebracht?
Diese Frage ist wichtig und sie muss beantwortet werden. Aber gilt diese Frage nicht auch für den „friedlichen Protest“? Wer hat im selben Atemzug eine Bilanz für die zahlreichen friedlichen Proteste für eine gerechte Welt(wirtschafts-)ordung gefordert und gezogen?
Auch die Frage: Wem nützt der Protest? wird den „Autonomen“ gestellt. In der Tat werden nach den Ausschreitungen all die Forderungen wieder in die Arena geführt, die schon vor dem G20-Gipfel erhoben wurden: Die Schließung des autonomen Zentrums „Rote Flora“, mehr Polizei, weitere Gesetzesverschärfungen und Überwachungsmaßnahmen (internationale Datei über „Gewaltbereite“).
„Wem nützt der Protest?“ muss aber auch an das „friedliche“ Spektrum gestellt werden. Die Regierenden schmücken sich mit ihm, führen ihn als Beweis dafür an, dass man außerhalb der 36 Quadratkilometer großen Sicherheitszone eine andere Meinung haben kann. Sind die „friedlichen“ Proteste ein Feigenblatt, mit dem die G20-Staaten ihren Durchmarsch dekorieren können?
Wenn man also diese Frage ohne Einseitigkeit stellt, wird man zu aller erst zu dem nüchternen Ergebnis kommen, dass es weder Autonome noch die friedlicher Proteste in der Hand haben, der Instrumentalisierung zu entgehen.
Wenn ein Fliegengewicht mit einem Schwergewicht in den Ring steigt, steht der Ausgang in aller Regel fest. Der Sieger wird die Geschichte schreiben und dem „guten“ Verlierer danken. In dieser Zwickmühle steht jedweder Protest.
Steigt man also trotzdem in den Ring? Verhilft man damit nicht dem Gewinner zu einem billigen Sieg? Ist es trotzdem richtig, in den Ring zu steigen? Selbst wenn die Chancen, ausgezählt zu werden groß sind?

Die Fragen, die sich nach dem G20-Gipfel in Hamburg stellen, sind ziemlich alt. Fast alle „Gipfeltreffen“ in den letzten 30 Jahren hatten eine ähnliche Choreographie:
Es gibt eine militante Demonstration, meist vorneweg, die in Auseinandersetzungen mündet. Und es gibt eine „friedliche Demonstration“ mit einer deutlich größeren TeilnehmerInnenzahl, die man dem reformistischen Spektrum zuordnete. In aller Regel erklärten beide Lager ihr Vorgehen zum Erfolg.

G8-Gipfel in Heiligendamm 2007

Die militanten GipfelgegnerInnen haben das Ziel, den Gipfel wenn möglich zu stören oder gar zu verunmöglichen. Ihr Vorgehen begründen sie damit, dass es nicht ausreicht, den Gipfel-TeilnehmerInnen zu erklären, dass ihre Politik falsch ist. Man muss nach Kräften dafür sorgen, dass ihre Inszenierung zumindest gestört wird, mit dem Kalkül, den (politischen) Preis für deren Durchsetzung hochzuschrauben.
Die friedlichen GipfelgegnerInnen betonen die Wichtigkeit, dass möglichst viele Menschen mit der Demonstration erreicht werden sollen, um sichtbar zu machen, wie viele Menschen gegen die „Gipfel-Politik“ sind.
Militanz bzw. Gewalt würde nicht nur TeilnehmerInnen abschrecken, sie würde auch die Inhalte, die Kritik verschwinden lassen, wenn danach nur noch über Gewalt die Rede ist.

Die Frage an das militante Spektrum wäre also, ob diese Ziele erreicht wurden und wenn nicht, welche politischen Konsequenzen man daraus zieht.
An das „friedliche“ Spektrum richtet sich die Frage, ob ihre Argumente und die große Zahl der TeilnehmerInnen dazu geführt hat, dass sie Einfluss auf die Gipfelpolitik nehmen konnten?
Und alle zusammen müssen die Frage beantworten, ob die (guten) Argumente und die (guten) Vorschläge nicht gehört, nicht angenommen werden, weil sie von der Gewalt verdrängt wurden oder weil sie keine Rolle auf den Gipfeln spielen?

Wenn die Medien, die politische Klasse und Staatenlenker tatsächlich an den Argumenten und Vorschlägen Interesse hätten, wäre es selbst auf der militanten Demonstration „G20- Welcome to hell“ ein Leichtes gewesen, sich dort umzuhören.
Auch wenn viele gerne „Autonome“ nur mit Steinen und Randale in Verbindung wollen, so hätte man sich leicht enttäuschen können: Bevor die Demonstration „G20 - Welcome to hell“ begann, fand eine fast dreistündige Kundgebung statt. Dort wurden keine Steine abgewogen oder Molotowcocktails gefüllt, sondern zahlreiche Beiträge vorgetragen.
Haben die Medien darüber berichtet? Wollten sie wirklich wissen, was deren politische Aussagen sind? Nein. Kein Stein hat sie davon abgehalten, sondern der massive Eigenwille, all dies nicht zur Kenntnis zu nehmen. Dazu zählt übrigens auch der N24-Sender, der bei der Kundgebung bereits vor Ort war, aber keine Sendeminute darauf verwandte, den Argumenten Platz einzuräumen.

Nicht erst der G20-Gipfel in Hamburg böte also die Gelegenheit, endlich einmal kontrovers, zusammen und getrennt, Fragen nachzugehen, die jedes „Lager“ beantworten müßte.
Ich möchte zwei herausgreifen und vielleicht spürt man dann auch, dass kein „Lager“ dabei gut abschneidet. Deshalb richten sich diese Fragen auch an alle politischen Lager.

Die erste und sicherlich ziemlich wichtige Frage ist doch: Treffen sich auf diesen politischen Gipfeln (von G7- G20 plus X) die Verantwortlichen dieser Weltordnung? Sind sie die erste Adresse des Protest?
Jean Ziegler ist alles andere als ein Militanter. Er war von 2000 - 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. 2008 bis 2012 gehörte Ziegler dem Beratenden Ausschuss des Menschenrechtsrats der UN an, im September 2013 wurde er erneut in dieses Gremium gewählt.
Er hat nicht nur exzellente Kenntnisse über die verheerenden Auswirkungen dieser Weltordnung, er hat auch ausgezeichnete Binnenkenntnisse, also über das Zusammenspiel von politischen und wirtschaftlichen Machtfaktoren.
Dazu sagt er:

„Die Staatschefs G20-Gipfel sind lediglich Wasserträger, Gehilfen und Ausführer der Interessen der Konzerne. Die Präsidenten sind Komplizen der Privatunternehmen …“ (ver.di Publik 4/2017)

Jean Ziegler hat diese Position immer wieder bekräftigt und akzentuiert und gehört zu den Wenigen, die es ab und an ins staatliche und private Fernsehen schaffen.
Warum spielt also diese Analyse (mit der er sicherlich nicht alleine ist) in den Vorbereitungen, in der Ausrichtung, in der Durchführung der Proteste keine Rolle?

Die zweite Frage bezieht sich auf die Perspektive des Protestes. Das militante Lager glaubt nicht an die Veränderbarkeit der Verhältnisse durch Wahlen. Im Gegenteil: die Beteiligung an Wahlen binde vielmehr sehr viele Energien und noch mehr Illusionen.
Wenn Wahlen also kein geeignetes Mittel sind, politische Meinungen abzubilden bzw. Verhältnisse zu ändern, dann müßte man sich schlicht der Frage stellen. Was dann? Wie legitimiert sich militanter Widerstand? Welche anderen Formen der politischen (Selbst-)Beteiligung begrüßt man, wenn Parteien und Wahlen dafür nicht taugen? Diese Frage ist nicht neu und deren Antworten sind heute dünner denn je.

An das „friedliche“ Spektrum richtet sich die Frage: Ist eine „bessere“ Partei tatsächlich ihre politische Perspektive? Glaubt man, über eine starke „linke“ Partei (zur Zeit ist das nur die Partei „DIE LINKE“) im Parlament die politischen Verhältnisse verändern zu können? Oder verändern die parlamentarischen Verhältnisse – früher oder später – (auch) die „linke“ Partei – spätestens dann, wenn sie den Preis für eine Regierungsbeteiligung zahlt.
Spielt dabei das Wissen um den Weg der „Grünen“ keine Rolle, bei der Beurteilung dieser Option?
Aber auch dann, wenn die „LINKE“ nicht den Weg von einer pazifistischen zu einer Kriegspartei geht, stellt sich doch die realistische Frage: Glaubt die LINKE bei ihrem Werben um eine Regierungsbeteiligung (in einer rot-rot-grünen Koalition) im Ernst, dass dies in Deutschland ohne eine Kriegsbeteiligung geht?
Deutschland ist nicht Irland oder Finnland. Aber nehmen wir einmal – völlig unrealistisch – griechische Verhältnisse an. Gibt es wirklich keine Lehre aus dem, was sich in Griechenland zwischen 2015 und 2016 abgespielt hat?

Fast nirgendwo in Europa war der Protest, der Widerstand gegen diese kannibalische Weltordnung so mächtig und vielstimmig wie in Griechenland. Es fanden zahlreiche Generalstreiks statt, die Oligarchie wurden bei den Wahlen 2015 abgewählt, ein neues Parteienbündnis „Syriza“ betrat mutig und aufrecht die politische Bühne, und bildete schließlich die neue Regierung. Auch ein Referendum über die Annahme bzw. Ablehnung des Troika-Diktats bekam über 60 Prozent der Stimmen. Aber …. die Wahlergebnisse spielten keine Rolle, bei dem was anschließend passierte. Die Antwort auf die Wahlen war auf Seiten der Troika die Macht des Kapitalismus, ein finanzpolitisches Waterboarding, bis die gewählte Regierung, im wahrsten Sinne des Wortes, keine Luft mehr bekam und kapitulierte. Was in diesem Land geht bzw. gar nicht geht, wurde nicht an den Wahlurnen entschieden.
Diese Erfahrungen sind bitter und niederschmetternd. Aber noch schlimmer ist es, darüber hinwegzugehen, anstatt offen und gemeinsam darüber zu diskutieren, welche Schlüsse man daraus gezogen hat.
Vielleicht genügen diese Fragen, um zu zeigen, wie sehr sie alle Formen des Protestes und des Widerstands berühren, denn bei diesen Grundfragen stehen alle auf wackligen und morschen Brettern. Sich das einzugestehen und das anzugehen, wäre radikal – ohne einen einzigen Stein zu werfen.