Früher war alles besser
Wir verklären unsere Vergangenheit, weil sie uns Stabilität zu schenken schien — dadurch fiel aber auch einiges unter den Tisch, was jetzt mit Gewalt an die Oberfläche kommt.
Wir kennen es normalerweise nur von sehr alten Menschen: das ewige Jammern, dass „zu ihrer Zeit“ alles besser war. Heute fühlen schon relativ junge Menschen so — und zwar auch mit Blick auf Jahre, die gar nicht so lange zurückliegen. Obwohl in der Nachkriegszeit ein Atomkrieg unmittelbar bevorzustehen schien, war man in vielem dem Anschein nach unbeschwerter — weniger von Regeln und Redetabus umstellt, von ökologischen Gewissensbissen gehemmt, die bewusst geschürt werden. Man hatte mehr Vertrauen in die umgebende Welt und sogar in das grundsätzliche Wohlwollen des politischen Personals. Wenn man tiefer gräbt, stellt man jedoch fest, dass die alte Zeit zwar ruhiger, also ereignisärmer war, jedoch alles andere als eine „heile Welt“. Es ist bei den jetzt anstehenden Weichenstellungen wichtig, nicht Bewährtes als solches zu erkennen und in der Vergangenheit zu belassen. Wenn wir Neues schaffen wollen, müssen wir vorwärts, nicht zurückblicken. Ein philosophischer Essay.
Eigentlich bin ich zu jung für eine echte „Früher-war-alles-besser“-Haltung. Ich bin kurz vor dem „Armagedon“ geboren worden, zumindest vor dem Jahr 1975, in welchem man dieses Ereignis erwartete, sofern man den Zeugen Jehovas angehörte. Das Ende der bekannten Welt war also nahe. Meine Eltern gehörten dieser Glaubensgemeinschaft an. Meine Kindheit und Jugend waren deshalb von einer Überzeugung geprägt, die zwischen Panik und totalem Vertrauen hing.
Der allmächtige Gott würde nämlich in Kürze dafür sorgen, dass alles Böse von der Erde verschwindet. Und natürlich wurde mir immer nachdrücklich klar gemacht, dass so ziemlich alles außerhalb der Glaubensgemeinschaft böse ist, man selbst aber natürlich mit ein bisschen Fleiß und Glück zu den „Guten“ gehörte. So gesehen, lebe ich schon sehr lange mit der Erwartung eines umfassenden gesellschaftlichen Zusammenbruchs. Möglicherweise hat mich das bezüglich übertriebener Panikmache etwas sensibilisiert. Und ich war natürlich auf der Seite der Guten, ein Gefühl, das heutzutage in allen Lagern politischer oder ideologischer Couleur ausgeprägt vorhanden ist.
Im Ausklang der Hippie-Epoche war ein gewisser Pessimismus aber nicht nur das Privileg religiöser Minderheiten. Die Ölkrise stellte zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg eine stabile Grundversorgung infrage, der Terror der Rote Armee Fraktion (RAF) war allgegenwärtig, und ich erinnere mich, wie ich staunend die Poster mit den Gesichtern der Gesuchten betrachtete — oder bewunderte? —, die im Postamt oder im Bahnhof aushingen und mich an die „Wanted“-Images aus den „Lucky Luke“-Heften erinnerten.
Die erste Antiatomkraftbewegung formte sich, verlagerte Angst in den Bereich des Konjunktivs, und Wetterextreme wurden — zumindest seitens meiner Religionsgemeinschaft — ebenfalls in Richtung „finales Ende“ gedeutet. Und natürlich war da die ständige Bedrohung durch einen atomaren Genozid, ausgelöst durch eine leichte Trittunsicherheit der Verantwortlichen im fragilen Gleichgewicht der Kräfte zwischen den Guten und den Bösen. Summa summarum: Die Welt war damals alles andere als in Ordnung, und ich frage mich, wie die Menschheit die Jahrzehnte bis heute überleben konnte.
Parallel zu diesem Geschehen verliefen meine Kindheit und Jugend in drastischem Kontrast dazu, besser gesagt: meine subjektive Erfahrung derselben. Genau diese ist es nämlich, welche die Vergangenheit so nachdrücklich aufwertet, etwa die Unbeschwertheit meiner Eltern, beispielsweise die Ernährung betreffend, die sich in der Selbstverständlichkeit gegenüber der Verfügbarkeit aller möglichen Süßigkeiten ausdrückte, als Limonade — damals noch mit Zucker, nicht mit Aspartam gesüßt — mein Alltagsgetränk war, wie auch ihr stoisches Vertrauen in die Schulmedizin, welche mir einen Rundum-Impfschutz sicherte. Mein nachmittäglicher Aufenthaltsort interessierte nicht und wurde natürlich auch mangels verfügbarer Technologie nicht überwacht.
Überhaupt war das Gefahrenbewusstsein der Eltern und der Erwachsenen bei Weitem nicht so feinjustiert, wie man es heute von einer Elternschaft erwartet, die nicht durchgängig vom Jugendamt betreut wird. Zigaretten waren ähnlich verfügbar wie Kekse und mit keinem Stigma behaftet; das verstrickte uns Kinder auch in weniger Widersprüchlichkeiten, was elterlich vermittelte Werte versus elterliche Lebenspraxis anbelangte. Trampen funktionierte allseits angstfrei, und ich weiß nicht mehr genau, ob wir Kinder es als Vertrauen unserer Eltern interpretierten, dass unsere — natürlich helmfreien — halsbrecherischen Fahrradrennen bei ihnen ebenso wenig nennenswerte Beachtung fanden wie unsere Bandenprojekte in verlassenen Ruinen und auf Firmengeländen.
Unsere Vernetzung funktionierte fast metaphysisch, da telepathisch. Ohne mobile Endgeräte schafften wir es, uns zu treffen, Verabredungen wurden vormittags getroffen und am Nachmittag spielerisch in einem — so erkläre ich es mir heute — „mentalen Raum“ aus- und umgestaltet. Spontaneität war eine holistische Erfahrung, die Ortsverlagerungen und Gruppendynamiken einschloss und sich nicht lediglich auf miteinander ausgetauschte Vorschläge im Messenger-Dienst beschränkte.
War es damals realiter besser als heute? Das Leben meiner Jugend war weniger etikettiert, es wurde weniger problematisiert. Das erzeugte einen größeren Spielraum des Möglichen; es existierten weniger Schubladen, weniger Gefahrenkonzepte, weniger Soll-Formate.
Auch gab es einfach weniger sensorischen Lärm. Den medialen Dauerschall, dem wir im Allgemeinen heute dadurch ausgesetzt sind, dass wir das Internet dauerverfügbar bei uns tragen, gab es damals noch nicht. Und wenn es stiller ist, hört man die weniger aufdringlichen Nuancen sowohl innen als auch außen deutlicher. Ist es also auch Teil des besseren „Früher“, weniger breitflächig informiert zu sein?
Vieles meiner „Früher war alles besser“-Erinnerungen lebt sogar noch in meiner jüngeren Vergangenheit: Motorradtouren an Wochenenden, liebgewonnene lokale Festivitäten, ab und zu fällige Neuanschaffungen, der eigene Lebensstil eben, mit all seinen Haltungen und Überzeugungen und Aufregern. Inzwischen hatte ich auch jeden in meinen Augen religiösen Irrglauben hinter mir gelassen und fühlte mich durchschnittlich gut aufgeklärt. Ich empfand sogar die amtierenden Politiker als „staatsmännisch“ — ohne den weiblichen und allen anderen denkbar orientierten Aspekten darin nicht ausreichend Geltung zu verleihen — und als authentische Repräsentation der mehrheitlichen Volksinteressen.
Bei genauerer Betrachtung muss ich aber feststellen, dass ich wohl eher das Gefühl von Gewohnheit mit Stabilität verwechselt habe, dass das Gefühl von Sicherheit und Verlässlichkeit nicht mehr war als der vertraute Ablauf der Dinge, die unser aller Alltagssystem bilden. Wenn man unkritisch davon ausgeht, dass dieses System im Kern vernünftig ist und das beste derzeit Verfügbare, dann war die Welt wohl auch tatsächlich besser.
Mitgedacht ist dabei diejenige Schizophrenie, die das Wissen um die fatalen Mechanismen dieser Systeme miteinschließt. Offenbar kann eine scheinbar gesunde Normalität eine Menge von Widersprüchen vertragen, wenn diese Widersprüche ihrem Wesen nach selbst notwendiger und existenzieller Bestandteil eben dieser Normalität sind. Wirtschaftswachstum steht in direktem Zusammenhang mit dem eigenen Wohlstand, Mobilität in direktem Zusammenhang mit dem eigenen Fernweh und Erholungsbedürfnis und ein Glauben an die Richtigkeit der Dinge in direktem Zusammenhang mit dem eigenen Seelenfrieden.
Sind es also in Wirklichkeit Ignoranz und Ohnmacht, welche die gegenwärtigen Krisen ermöglichen? Dann schätzen wir nun die Realität wohl tatsächlich realistischer ein, als wir es „früher“ getan haben. Dann ist zu erwarten, dass es bald gelingen wird, aus Erfahrung klug zu werden. Es würde bedeuten, dass jede „Heute ist alles besser“-Haltung schnell als Ignoranz und Ohnmacht entlarvt wird. Denn: „Heute“ ist das Produkt von „Gestern“, und was gestern nicht funktioniert hat, wird heute auch nicht zu funktionierenden Ergebnissen führen. „Heute“ ist die Zuspitzung der Fehler von „Gestern“.
„Bessere Zeiten“ zeichnen sich durch eine gefühlt hohe Stabilität aus. Diese Stabilität ist aber nie Kontinuität. Die kulturbildenden Prozesse sind immer dynamisch; Erfahrungen sind notwendige Bausteine eines unablässigen Wandels. Krisen sind Aufforderungen zur besseren Reflexion und Hinweise auf dysfunktionale Systeme und ihre zugrunde liegenden Werte. Sie erschüttern Gewohnheiten und stellen Selbstverständlichkeiten infrage.
Und das ist sehr gut. Jedes „Früher“ war gefüllt mit Prognosen, mit Zielen und Warnungen, mit Forderungen und Plänen. Rückblickend erkennen wir deren Naivität, ihre Einseitigkeit und die zugrunde liegenden psychologischen Kräfte, nämlich meist Ängste.
Ängste können idealerweise ein gesundes Sicherheitsbewusstsein oder einen sensibleren Umgang mit der Umwelt erzeugen. Sie können aber auch ein verzerrtes Bild erschaffen, in dem das Monströse entsteht. Wenn Angst ihre Verhältnismäßigkeit verliert, entstehen — fiktive — Bedrohungen von Ausmaßen, die sehr schnell Gewalt rechtfertigen. Da unsere Gesellschaft aber seit vielen Jahrtausenden die Regeln des Patriarchats verinnerlicht hat, verliert sie immer wieder die Balance. Diese Regeln werden nicht durch ihr weibliches Gegenstück relativiert, welches sich durch Vertrauen, Intuition und Eingebundensein auszeichnet.
Die Gewalt gegen die wirklichen, aber überwiegend hochstilisierten Bedrohungen hat unüberschaubar viele Gesichter: Da ist das Feindbild des sozial anderen, des national anderen, des anderen als Problem, der verantwortlich gemacht wird für den eigenen Mangel. Da ist die Gewalt gegen die Freiheit auf allen Ebenen, Gewalt gegen eine zu beherrschende Natur, Gewalt gegen die freie Entwicklung von Lebensbezügen und damit natürlicher Kulturbildung, Gewalt gegen die gesundheitliche Selbstorganisation des Körpers, Gewalt gegenüber einem als mangelhaft erklärten Geist, der nun optimiert, überwacht und vernetzt werden muss. Im Laufe einer solchen umfassenden und damit unsichtbaren Gewaltausübung wird der Mensch selbst zum Verwertungsobjekt eines verkürzten Angstbewältigungsmechanismus.
„Früher“ — da konnte ich noch bestimmen, ich konnte entscheiden, welche medizinische Versorgung ich für mich selbst wähle oder welche Meinung ich zu bestimmten politischen Praktiken habe, ohne mein Verhältnis zu Freunden und Familie zu gefährden. Die Probleme, die jenseits meines Einflusshorizontes lagen, ließen mich in Ruhe, wenn ich den Fernseher ausließ. Damals, als beim Autohändler die Angabe der PS zuoberst auf den Verkaufsschildern der Pkw stand und mein Gewissen nicht in direktem Zusammenhang mit dem CO2-Gehalt in der Atmosphäre reagierte, damals fühlte ich mich etwas leichter.
Das Gewissen: Schon immer wurde es von Machtinhabern missbraucht und für ihre Zwecke subtil deformiert und kollektiviert. „Wenn alle schuld sind, ist es keiner“, sagte Hannah Arendt. Schon immer wurde von diesen Instanzen mit unserer Billigung festgelegt, was „richtig“ ist und was zur Bedrohung der allgemeinen Wohlfahrt gehört. Das Ausmaß, in welchem das in der gegenwärtigen Zeit geschieht, ist außergewöhnlich groß und bleibt überraschend unbemerkt. Politisch korrekte Haltung beruht auf keiner echten Empirie, aber ihre „Richtigkeit“ wird von der Mehrheit angenommen. Das ist unter anderem so, weil man gerne die „alte Normalität“ zurück hätte.
Da, früher, war es einfach besser — oder, wie festgestellt — nur gewohnter.
Daher ist die gegenwärtige Mainstreambewegung in Wirklichkeit nicht nach vorne, sondern rückwärtsgewandt. Sie hat keine wirkliche Vision, sie jongliert mit Krisen, die einem angstgeprägten und überholten Weltbild entstammen. Sie beruht auf Werten des Patriarchats, wie Machthierarchien, der Verdinglichung des Menschen und der logozentrischen Verabsolutierung, also der verstandeslastigen „Ver-Eindeutigung“ der Welt. Im Rahmen dieser Werte können Zukunftsoffenheit, Autonomie oder Selbstgestaltung naturgemäß keinen exponierten Platz haben.
Die Gegenwart erfährt ihre Bewertung immer erst im Abgleich mit der Vergangenheit. Diese war aber als Referenzgröße selten wirklich dazu geeignet, da subjektiv aufgeladen. War es früher also nur deshalb besser, weil wir den Kopf tiefer im Sand hatten? Möglicherweise.
Warum also nicht eine Zukunft gestalten, indem wir unser wichtigstes Organ hoch erhoben tragen? Das dient nicht nur einer deutlicheren Rückschau, sondern vor allem auch einer besseren Fernsicht.
Dazu muss die Gegenwart geklärt werden: Denn nur jetzt kann ich agieren, nur im Jetzt kann ich meine Illusionen erkennen und formulieren, wie ich wirklich leben möchte.
Wenn wir den Fehler machen zu glauben, damit warten zu müssen, bis die Welt endlich wieder halbwegs stabil ist, überlassen wir Veränderungen anderen beziehungsweise der unheilvollen Eigendynamik der Systeme. Diese Systeme sind auf Dauer nicht zukunftstauglich. Diese Erkenntnis macht in gewisser Hinsicht frei; sie befreit mich von der Vorstellung, dieses System verändern zu können oder von ihm, von meinen eigenen Problemen und Ängsten erlöst zu werden.
Wir gewinnen die Freiheit zurück, Entscheidungen nach den Maßgaben unserer eigenen Überzeugungen und Ziele zu treffen. Dann war nicht früher alles besser, sondern dann ist heute alles gut!
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