Fruchtbonbons mit russischer Schrift
Eine Frau erinnert sich an ihre ehemalige Brieffreundin aus der Sowjetunion — wie wird es ihr jetzt, im neuen Kalten Krieg, gehen?
„Woher jemand kommt, zählt nicht — wichtig ist doch nur, was für ein Mensch er ist.“ So wurde es den meisten von uns, die wir in einem freiheitlich-humanistischen Umfeld groß geworden sind, jedenfalls beigebracht. Doch wie viel ist davon übrig geblieben, wenn der Krieg sein Zepter schwingt? Und gilt das, was für alle Menschen gilt, auch für „die Russen“? Unsere Autorin, aufgewachsen im damaligen Jugoslawien, hatte eine Brieffreundin aus der Sowjetunion. Das war nicht immer leicht gewesen. Denn es zählte nicht nur, dass dieses Mädchen liebenswert war und Tiere mochte, auch die Herkunft brachte manchmal Schwierigkeiten mit sich. Nun war besagtes Mädchen aus der Sowjetunion auch noch Ukrainerin. Das brachte die Autorin dazu, sich nach Jahren der Funkstille an sie zu erinnern. Ist sie vielleicht der ukrainischen Kriegspropaganda erlegen? Oder der russischen? Fühlt sie sich zerrissen, zwischen den Welten? Und gelang es ihr, ihre Menschlichkeit zu bewahren, über alle nationalen und weltanschaulichen Grenzen hinweg?
Auf dem in meinem alten Tagebuch aufbewahrten Kuvert klebt eine Sondermarke, die anlässlich des 70-jährigen Jubiläums der Oktoberrevolution in Farbe gedruckt wurde und Lenin bei einer seiner großen Reden zeigt, entwertet mit dem Stempel der Post der UdSSR. Darunter steht im Vordruck „Куда“ (Wohin), und die Zeile ist mit geschwungener Erwachsenen-Handschrift mit dem russischen Wort „Югославия“ (Jugoslawien) ausgefüllt. Offensichtlich hatte die Mutter oder der Vater die Adresszeilen geschrieben. Darunter steht die Adresse meiner Schule in Zrenjanin, der verschlafenen Kleinstadt, in der ich geboren wurde und die sich im Norden Serbiens und nicht mehr in Jugoslawien befindet, weil der gemeinsame südslawische Staat inzwischen durch sechs verschiedene und trotzdem sehr ähnliche, mehr oder weniger funktionierende Kleinstaaten ersetzt wurde.
Die Angst vor dem, was in den Absenderzeilen darunter stehen könnte, schnürt mir die Kehle zu. War meine Brieffreundin nicht aus der Ukraine? Hatte sie nicht geschrieben, dass sie auch ukrainisch spricht? Ich erinnere mich nicht mehr. Mein Herz pulsiert in meinem Hals hoch, ich muss mich überwinden, weiterzulesen, als ob von diesen Zeilen ein Leben abhinge. Eine lange, sechsstellige Postleitzahl, UdSSR, Rostowskaja Oblast, gorod Gukowo — Centr. Rostow sagt mir etwas, aber die Stadt Gukowo, in welchem heutigen Land befindet sie sich denn? Ein Blick in die allwissende Online-Weltkarte zeigt ein Städtchen direkt an der russisch-ukrainischen Grenze, aber noch zu Russland in seinen von der UNO anerkannten Grenzen gehörend. Kurze Erleichterung. Wahrscheinlich geht es ihr gut, der Natascha.
Ihr richtiger Name war — ist — Natalia, aber sie unterschrieb ihre Briefe immer mit „Deine Freundin aus der Sowjetunion, Natascha“. An den Nachnamen kann ich mich nicht erinnern, ich muss ihn von der letzten Absenderzeile am Kuvert ablesen. Seltsam, Nataschas Familienname hat keine typisch russische weibliche Form, die mit einem „a“ endet, wie Sacharowa oder Dugina. Er endet mit „ko“, wie Klitschko oder Poroschenko. Sie war mir damals nicht aufgefallen, diese Endung, dieser kleine Unterschied, der war völlig unwichtig, aber nun grüble ich fieberhaft nach, einfach und kompliziert zugleich, wie die menschliche Angst gestrickt ist, ob meine Natascha ethnische Russin oder Ukrainerin war — ist?
Meine Güte, wie ich mich wegen des Gedankens schäme! „Was spielt das denn für eine Rolle!“, brüllt mir eine wütende, sarkastische Stimme direkt aus dem Herzen entgegen. „Natürlich ist das wichtig!“, kontert eine ruhigere, der Lebenserfahrung entstammende Stimme. „In einem Konflikt ist immer wichtig, wer du bist und auf welcher Seite du stehst, das weißt du doch, du mit deinem nicht serbischen Familiennamen und deiner serbischen Muttersprache.“
Wenn Natascha Ukrainerin ist und noch in Gukowo, Russland, lebt, was bedeutet das für ihren Alltag? Wird sie wegen ihrer Herkunft oder Überzeugung angefeindet? Wurde ihr unter einem Vorwand gekündigt, und steht sie jetzt ohne Einkommen da?
Dass Menschen, die sich „falsch“ äußern oder die „falsche“ Herkunft haben, von heute auf morgen ihre Jobs verlieren oder, wenn sie bekannt sind, diffamiert oder gecanceled werden, ist in dem „Garten Europa“, wie ein stolzer Politiker in seinem Englisch mit starkem Akzent die EU nannte, eine recht gängige Praxis. Im „Dschungel“, der die restliche Welt sei, sagt uns der stolze Urheber dieser gelinde gesagt befremdenden Weltanschauung, habe man Werte wie Menschenrechte und Demokratie noch nicht erkannt.
Aber wo denke ich denn hin, das sind bestenfalls Luxusprobleme. Natascha ist, so wie ich, Mitte vierzig und hat wahrscheinlich eine Familie. Ihr Sohn ist vielleicht genauso alt wie meine Tochter, die gerade ihr Studium begonnen hat, nur dass er nicht studieren kann, weil er an die Front muss. An die Front? Auf welcher Seite würden sie einen jungen Mann aus der Grenzregion, dessen Name mit „ko“ endet, in den Krieg schicken?
Der Nachbarort von Gukowo heißt Donezk, aber es handelt sich nicht um die gleichnamige Stadt Donezk, die so oft in den Schlagzeilen steht, wo heute Abend, zum unzähligen Male, Zivilisten irgendwelchen Milizen in die Hände gefallen sind, wo bis auf die Zähne mit westlich-demokratischen oder russisch-entnazifizierenden Kriegsgeräten bewaffnete Einheiten abwechselnd für „Ordnung“ sorgen.
Das benachbarte Klein-Donezk ist mit der nächstgrößeren Stadt über eine Autobahn, die M04, direkt verbunden und ist durch die — noch bestehende? — russisch-ukrainische Staatsgrenze von ihr getrennt. Die große Stadt heißt Luhansk, genau dieses hart umkämpfte Luhansk, über welches wir immer wieder in den Zeitungsmeldungen lesen. Ein Blick auf die Entfernungen zeigt weniger als 100 Kilometer von Nataschas Geburtsort Gukowo. Keine sichere Distanz. Wenn sie noch dort ist.
„Das bin ich mit 5 Jahren“ steht auf der Rückseite des schwarz-weißen Fotos, welches ein etwas schüchtern in die Kamera blickendes Mädchen zeigt, das zu diesem Anlass hübschen Haarschmuck und ein Kleid mit breitem, karierten Kragen trägt und einen Fotoapparat der Marke „Zenit“, wie mein Vater ihn damals auch hatte, in den Händen hält. Er hatte dieses Prachtstück der Bildtechnologie auf einer Geschäftsreise in Moskau erstanden und mit Stolz sowie einer strengen Warnung in meine Richtung vor der versammelten Familie präsentiert.
Ich weiß nicht, wo die „Zenit“ heute ist. Hat Natascha ihre aufbewahrt? Ich hoffe inständig, dass sie einen erfolgreichen Geschäftsmann geheiratet hat und in Sicherheit wohnt. Sehr wahrscheinlich ist das allerdings nicht, obwohl sie sicherlich eine schöne Frau geworden ist.
Ihre Briefe zeichnen vor mir das Bild eines wohlerzogenen Mädchens aus einer Familie, die auf Bildung, Philosophie und Literatur viel Wert legt. Jedem Brief ist ein Naturfoto von heimischen Tier- oder Pflanzenarten, ein Bilderbuch oder ein kurzes Kinderlied beigefügt. Der mit 7.11.1989 datierte Brief enthält ein Büchlein mit lustigen und lehrreichen Bildgeschichten, die von Freundschaft und Zusammenarbeit erzählen. Wer überheblich ist, der scheitert, wer Schwächeren hilft, der gewinnt neue Freunde. Auf dem beiliegenden, handbeschriebenen Blatt ist unter der Aufforderung „Schreib mir, ich erwarte deinen Brief!“ die Pfote ihres Hundes Bobby in schwarzer Wasserfarbe aufgedrückt.
Bobby war offenbar ein süßes, kleines Hündchen. Hatte ich ihr einen Pfotenabdruck von meinem Hund Rocky geschickt? Es ist möglich, dass ich den gutmütigen deutschen Schäferhund für solche Aktionen missbraucht hatte. Jedenfalls: Familien wie die von Natascha, die von Bildung und Moral geleitet sind, gehören in der Regel nicht zu den Gewinnern der kapitalistisch-ausbeuterischen Ära, die auf den Zerfall der sozialistischen Gesellschaften gefolgt war und im Politslang als „Transition“ bezeichnet wird. Meine auch nicht.
„Mach dich doch nicht fertig mit dem alten Zeug. Vielleicht wohnt sie schon seit 20 Jahren irgendwo in Deutschland oder England, schließlich bist du auch nicht mehr in Zrenjanin“, meint mein Mann in seiner pragmatischen Art, die mir sofort Tränen in die Augen treibt. Der Grund, warum ich heute in Wien bin, war Krieg.
Zuerst war ungewiss, welche Ausmaße die kriegerische Zerstörung und die Feindseligkeiten zwischen den „ethnisch reinen“ und durch wahnsinnigen Nationalismus getriebenen „Helden“ und „Verteidiger“ nehmen würde. Als man mit Gewissheit sagen konnte, dass die Bären, Tiger, Löwen oder Adler, wie sich die Schergenbataillone selbst bezeichneten, die Region, aus der ich stamme, mit ihren „Kriegshandlungen“ verschonen würden, befand ich mich in Österreich mitten in meiner Ausbildung. Das war keine freie Wahl, das war ein Geschenk des Schicksals in einem großen Unglück, und ich wünsche keinem Menschen auf der Welt, seinen Glücksstern auf diese Weise auf die Probe stellen zu müssen. Aber es sind so viele. Auf der Welt.
In den Kriegsjahren ab 1991 brach die Brieffreundschaft ab. Ich lernte Deutsch und Englisch und vergaß Russisch. Nun schreiben wir 2022 in Österreich, ich sitze vor dem großen Bildschirm in meinem schönen Arbeitszimmer, in meinem ergonomischen Stuhl, schäme mich fremd wegen der „europäischen“ Kriegspolitik und -rhetorik und öffne einen Brief von Natascha nach dem anderen. Ich kann sie nur mit Mühe lesen. Als Kind hatte ich mir geschworen, dass ich ganz viele Sprachen der Welt sprechen würde. Ich spreche nur drei, und die von Natascha — ob Russisch oder Ukrainisch — gehört nicht dazu. Unzählige Natalias, Nataschas und Taschas aus Russland und der Ukraine sind in den sozialen Netzwerken zu finden, aber keine davon lebt in Gukowo und hat den mit „ko“ endenden Nachnamen, nach dem ich suche. Das ist auch logisch, Natascha hat sicherlich geheiratet und heißt jetzt anders.
Hat sie einen Ukrainer geheiratet und ist mit ihm nach Kiew gezogen? Viel wahrscheinlicher ist es, dass sie in der Gegend geblieben ist und heute in Luhansk wohnt. Während ich hier überlege, welches Maschinenübersetzungsprogramm am besten funktionieren könnte, ist Natascha vielleicht mit ihrer Familie bei Minusgraden in einer kalten Wohnung ohne Strom und Wasser gefangen und rennt, wie damals meine bosnische Familie in Sarajevo und meine serbische Familie in Belgrad, alle paar Stunden in einen stickigen Schutzkeller hinunter, weil die Sirenen heulen.
Aber was, wenn sie einen Russen geheiratet hat und jetzt mitten im Krieg eine „Mischehe“ führt, wie es in dem von ethnischer Unvermischtheit besessenen Balkan hieß? Mischehe. Hat sie wenigstens das zweifelhafte Glück, dass alle Männer aus ihrer Familie einer Seite angehören, oder stehen sie sich, wie die Männer aus meiner Familie damals, in feindlichen Armeen gegenüber? Werden sich die Überlebenden bei großen Familienfeiern Witze darüber erzählen, wie sie sich gegenseitig durch das Visier beobachten konnten?
Wie viel Schmerz, Angst, Liebe und Hass Nataschas Herz wohl aushalten muss. Hört sie sich die Kriegspropaganda einer Seite oder, wie wir damals, mehrerer Seiten an? Nicht, dass das irgendetwas ändern könnte. Kriegslügen und Kriegswahrheiten bilden gemeinsam einen Reigen, in dem sich Schwarz und Weiß zu unzähligen Grautönen vermischen.
Nichts kann den Schmerz lindern, den sie verursachen. Auch nach Jahren nicht.
Meine Nachbarin ist gebürtige Russin, sie hilft mir, den Brief an Natascha zu verfassen. Ich will wissen, wie es ihr geht und wie ich ihr helfen kann. Was soll ich ihr am besten schicken? Sie hatte mir damals zum Geburtstag — daran kann ich mich noch sehr genau erinnern — ein ganzes Kilo Fruchtbonbons in einem Paket geschickt. Erdbeere, Orange, Banane, Zitrone, Himbeere — sie müssen ihre Familie ein kleines Vermögen gekostet haben.
Ich konnte sie stundenlang nach Geschmacksrichtung und Farbe sortieren und so viele davon verdrücken, bis mein Bauch ganz dick und meine Zunge farbig wurde. Auf dem Spielplatz vor der Schule konnte ich sie 1:1 gegen Murmeln tauschen. Jeder Bonbon war eine nicht abgeschlagene, klare Glasmurmel wert, denn niemand außer mir hatte solche Fruchtbonbons, mit russischer Schrift drauf.
Draußen vor meiner Postfiliale stehen Menschen Schlange, um ihren „Klimabonus“ abzuholen, den unsere Regierung aus unseren Steuergeldern finanziert, damit wir die Energieteuerung weniger stark spüren und dafür zufrieden bleiben.
Nach einer zwanzigminütigen Wartezeit sagt mir eine sichtlich überforderte Mitarbeiterin am Schalter, dass der Brief nicht versendet werden kann. Die Empfängeradresse ist in Russland, und „wir“ haben ja die Sanktionen.