Freiheit und Sozialismus
Der Vorwurf, die Linke hätte ein Problem mit der Freiheit, greift zu kurz — die fehlende Gleichheit im Kapitalismus zerstört auch die Wahlfreiheit der Lohnabhängigen.
Wer sich für die politische Linke engagiert, wird von GegnerInnen immer wieder mit der Kritik konfrontiert, er/sie setze sich für eine Ideologie ein, die zwar das Gute will, die aber letztlich zur Unfreiheit einer Diktatur führt, die die Menschen zu ihrem Glück zwingen will. Die Behauptung, linke Ideen wären zwar gut gemeint, der Mensch sei nur leider nicht für sozialistische Gleichmacherei geschaffen, ist eine weit verbreitete Vorstufe zu antisozialistischen und antikommunistischen Bewertungen. Etwa „Alle Experimente kommunistischer Herrschaft führten früher oder später in die Diktatur“ (1). Andere Argumente aus einer eher systemkritischen Position heraus werfen Linken vor, sich mit der Macht zu verbinden und so ihre Ideale zu verraten. Auch gibt es die Position, die Linke hätte immer schon ein spannungsreiches Verhältnis zur Freiheit an den Tag gelegt. Um zu klären, was es damit auf sich hat, bedarf es eines tieferen Blickes in die turbulente Geschichte des Meinungsstreits über das Verhältnis der Linken zur Demokratie. Es bedarf einer Betrachtung, die über die Geschichte der Stalin-Ära und ihrer Repression hinausreicht — und zwar in das Spannungsverhältnis von Gleichheit und Freiheit.
Ein Höhepunkt des Antikommunismus mit einer deutlichen Nachwirkung bis in die heutige Zeit ist sicherlich das Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) von 1955. Zehn Jahre nach der Befreiung vieler überlebender KommunistInnen aus den Konzentrationslagern des SS-Staates erklärte das Bundesverfassungsgericht:
„Es geht der KPD (...) darum, den Parteimitgliedern Material zur Urteilsbildung in politischen Tagesfragen an die Hand zu geben, (...) die die Gesamtpersönlichkeit des Mitglieds (...) zum bewussten Kämpfer für eine politische Weltanschauung erziehen will, die den Anschauungen einer freiheitlichen Demokratie erklärtermaßen feindlich gegenübersteht“ (2).
Die KPD habe eine „Kampfhaltung“ und wolle „die freiheitliche demokratische Grundordnung (...) unterminieren“ (3).
Auch die Berufsverbote gegen so genannte Extremisten oder Radikale in der sozialliberalen Brandt-Ära der 1970er Jahre folgten einem ähnlichen Argumentationsmuster: Bei Zweifeln daran, ob jemand „jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten wird“, sei ein Berufsverbot für viele Berufsfelder auszusprechen (4). Die Mitgliedschaft in einer Organisation wie der KPD galt hier als entscheidender Indikator, der über die Ablehnung eines Bewerbers für Berufe wie den des Lehrers oder Postboten entschied (5). Die Praxis des sogenannten „Radikalenerlasses“ stand in der Tradition der Bismarckschen Sozialistengesetze (6) und des Gesetzes „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ aus der Zeit der Nazi-Diktatur seit 1933 (7).
Auch die antikommunistischen Prozesse der McCarthy-Ära in den USA, die sich unter anderem auch gegen Bertold Brecht und Thomas Mann richteten, stehen in Verbindung mit dieser Strategie der Macht. Thomas Mann reagierte auf den McCarthyismus mit dem berühmten Zitat:
„Der Antikommunismus ist die Grundtorheit dieser Epoche“ (8).
In der Zeit des McCarthyismus beschuldigten US-Institutionen „unzählige Menschen ohne Beweise“ wegen „angeblicher kommunistischer Subversion“, wodurch viele nicht nur beruflich ruiniert wurden (9).
Die Argumentationsmuster antisozialistischer Verfolgung und Propaganda findet Entsprechungen in Kampagnen vor allem konservativ reaktionärer, aber auch liberaler Kräfte und Parteien. Kampagnen der Unionsparteien CDU und CSU in den 1970er und 1980er Jahren machen diesen Zusammenhang besonders deutlich: Damals bestritten diese Parteien Kampagnen zu Landtags- und Bundestagswahlen mit den Parolen „Freiheit oder Sozialismus“ und „Freiheit statt Sozialismus“ (10).
In Anlehnung an die Unionsparolen hielt die Rheinland-Pfälzische Landtagsabgeordnete der Grünen/Büdnis90, Jutta Blatzheim-Roegler, am 16. Mai 2019 eine Rede unter dem Titel „Soziale Marktwirtschaft statt Sozialismus“ (11). Die erfahrene und etablierte Politikerin wird sich kaum zufällig für eine Wortwahl entschieden haben, die derart deutliche Anleihen an die entsprechenden CDU/CSU-Kampagnen aufweist und sich in einer Gegnerschaft zum Sozialismus zuspitzt. Hier treffen sich liberale und antikommunistische Einstellungen (12).
Dem entspricht eine Aussage des Parteiprogramms der Grünen/Bündnis90 von 2002:
„Eine freiheitsorientierte Wirtschaftsordnung, die auch wirtschaftliche Effektivität ermöglicht, folgt daher dem Ziel, den Einzelnen ein hohes Maß an wirtschaftlicher Eigeninitiative zu ermöglichen“ (14).
An diesem Punkt stellen sich zwei Fragen: In welchem Verhältnis stehen die Forderungen nach Freiheit und gleichen Chancen bei der Ausgestaltung der persönlichen Freiheit? Und: Was ist Freiheit überhaupt?
Von der freiheitlichen Ordnung des Kapitalismus bleibt in der Realität oft wenig mehr übrig als die Freiheit des Eigentums, zumal wenn prekäre Lebensverhältnisse der individuellen Freiheit im Wege stehen.
Selbst wenn die Gesetzeslage persönliche Freiheit proklamiert, kann es dazu kommen, dass viele in der wachsenden Kluft zwischen Reich und Arm schon rein materiell kaum Möglichkeiten finden, ihr Leben in Freiheit zu gestalten (15). Besonders deutlich wird das bei Menschen, die in prekären Lebensumständen, etwa aufgrund des immer weiter ausgedehnten Niedriglohnsektors, weit verbreiteter prekärer Arbeitsverhältnisse mit Teilzeit und mit befristeten Verträgen — hier spricht man von „working poor“ — oder aufgrund von Kinder- oder — am Ende des Lebens — Altersarmut. Die Hartz IV-Gesetze stehen für diese Entwicklung (16).
Der französisch-schweizerische Philosoph Jean-Jacques Rousseau bracht es so auf den Punkt:
„Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit“ (17).
Die Soziologie hat für die strukturelle Diskriminierung von Arbeiterkindern den Begriff Klassismus eingeführt, der sich eng an den des Rassismus anlehnt (18).
Eine Gleichsetzung von Demokratie, Freiheit und Kapitalismus scheitert am Grundwiderspruch von deklarierter Freiheit und realer Ungleichheit.
Wenn wir also die ungleichen Entwicklungs-Chancen der Menschen als faktisch gegeben anerkennen, wird klar: Vielen von Lohn abhängigen Menschen und ihren Familien mangelt es im Kapitalismus an materiellen Bedingungen, in den Genuss individueller Freiheit zu kommen, der für andere wie selbstverständlich erscheint. So gesehen uniformiert der Kapitalismus, indem er den Vielen Entwicklungsmöglichkeiten materiell vorenthält, während privilegierte BürgerInnen den Eindruck haben, in einer freien Gesellschaft zu leben.
Um diese Erkenntnis nicht ins Allgemeingut der Betroffenen einfließen zu lassen, hat die strategische Kommunikation der Macht (19) den Antikommunismus als propagandistisches Mittel und die versteckte oder offene Repression als Instrument der Herrschaftssicherung etabliert.
Eine besonders zynische Variante dieses Machtmissbrauchs ist im Prozess um die von den Berufsverboten betroffene Silvia Gingold zutage getreten. Hier setzte der Verfassungsschutz den Kapitalismus mit der „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ gleich und erklärte die Kommunistin Silvia Gingold damit zur Verfassungsfeindin (20). Dass sich der Verfassungsschutz in seiner Begründung auf den Schwur der Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald bezog, um die Linie von Antikapitalismus und Verfassungsfeindlichkeit zu ziehen, ist ein Skandal erster Güte, der zeigt, wie umkämpft der Begriff der Freiheit ist. Hier die entsprechende Stelle aus dem Schwur von Buchenwald:
„Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel“ (21).
Die Freiheit, die die politischen Gefangenen des Faschismus meinten, ist neben der individuellen Gestaltungsmöglichkeit des persönlichen Lebens die Partizipation bei der Gestaltung der gesellschaftlichen Lebensumstände dahingehend, dass „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“, worauf Karl Marx und Friedrich Engels mit ihrem kommunistischen Manifest hinwirkten (22). Dies umfasst die Freiheit des Andersdenkenden, soweit sie die Freiheit des anders Andersdenkenden mitachtet.
In einer Zeit wachsender Zukunftsgefährdungen paart sich diese Freiheit mit der Ehrfurcht vor dem Leben, wie es der Arzt, Philosoph und Pazifist Albert Schweitzer einst formulierte; er meinte damit eine lebensbejahende und -verteidigende Einstellung, die aus Mut und Solidarität mit allen Mitwesen Verantwortung für das eigene und das gesellschaftliche Dasein übernimmt. Dies spitzt sich in dem Satz zu:
„Die Würde des Lebens ist unantastbar“ (23).
So könnte man Engels' und Hegels Erkenntnis verstehen, der zufolge Freiheit auch die Einsicht in die Notwendigkeit einschließt, da jegliche Entscheidungsmöglichkeit nicht im luftleeren Raum erfolgt, sondern dann von Erfolg gekrönt ist, wenn der Mensch von der Liebe aus handelt.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.welt.de/geschichte/article162318990/Kommunisten-wollen-das-dumme-Volk-zum-Glueck-zwingen.html
(2) http://www.berufsverbote.de/tl_files/docs/Brenner_KPD-Verbot2016.pdf
(3) https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Themen/GK_Geschichte/kpd_adler_z106.pdf
(4) https://socialhistoryportal.org/sites/default/files/raf/0019720128_2.pdf
(5) ebenda
(6) https://otto-von-bismarck.net/sozialistengesetz/
(7) http://www.documentarchiv.de/ns/beamtenges.html
(8) Thomas Mann kritisierte zugleich „einem Sozialismus, in dem die Idee der Gleichheit die der Freiheit vollkommen überwiegt“. Quelle: https://www.linke-sh.de/2008/gegen-antikommunismus-fuer-eine-inhaltliche-kritische-und-solidarische-debattenkultur/
(9) https://www.deutschlandfunk.de/geschichte-aktuell-das-ende-der-hexenjagd.724.de.html?dram:article_id=97809
(10) https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag1548.html
(11) https://blatzheim-roegler.de/mainz/reden/expand/718984/nc/1/dn/1/
(12) siehe dazu: https://www.freitag.de/autoren/elisanowak/gruener-kapitalismus
(13) https://www.sueddeutsche.de/politik/gruene-liberalismus-fdp-1.4422755
(14) https://cms.gruene.de/uploads/documents/Grundsatzprogramm-2002.pdf
(15) https://www.pw-portal.de/rezension/4708-liberalismus-als-form-buergerlicher-herrschaft
(16) https://www.hist-chron.com/eu/D/uebers-D-ENGL-datenschutz.html
(17) https://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart-1/linke-freiheit-durch-sozialismus-1463999.html
(18) https://www.deutschlandfunkkultur.de/klassismus-die-uebersehene-diskriminierungsform.1005.de.html?dram:article_id=481290
(19) siehe dazu meinen Artikel : https://www.rubikon.news/artikel/die-gehirnwasche
(20) https://www.deutschlandfunkkultur.de/unter-beobachtung-pdf.media.7c58ae191f540a68fc5bf03292e729be.pdf
(21) https://dasjahr1945.de/der-schwur-von-buchenwald/
(22) http://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/article/1135.kommunismus-ein-falsch-verstandener-begriff.html
(23) https://albert-schweitzer-heute.de/die-wuerde-des-lebens-ist-unantastbar/