Freiheit für alle!

Wirkliche Gerechtigkeit würde bedeuten, auch Tiere nicht länger Gewalt und Herrschaft zu unterwerfen.

Wie wäre wohl ein Leben fernab von Vorgesetzten, die Arbeit auf die Untergebenen abwälzen, fernab von überforderten Lehrern und einer Gesellschaft, die am liebsten jeden Schritt verfolgen und aufzeichnen würde? Ist ein Leben in einer Gesellschaft ohne Machtstrukturen denkbar? Ohne Versicherungspflicht, Schulpflicht und alle anderen Pflichten, die als Symbol der Freiheit und des sozialpolitischen Reichtums gelten? Und wie ist zu begründen, dass Vorstellungen von Freiheit, Gleichheit und Moral an der Grenze zwischen Mensch und nicht-menschlichem Tier halt machen? Kann sich der Mensch aus der Enklave gesellschaftlicher Repression „befreien“, ohne sein Verhältnis zum Tier zu überdenken?

von Sasha Stern

Gemäß vieler Theorien der Anarchie ist der Mensch von seiner wahren Freiheit gar nicht weit entfernt. Dabei hat Freiheit im anarchischen Sinne wenig mit der liberalen Freiheit gemeinsam, die in den gegenwärtigen Demokratien häufig gelobt wird. ‚Frei sein‘ bedeutet im Anarchismus die Gleichheit aller. Ein hohes Maß an Selbstbewusstsein, Achtsamkeit und gegenseitiger Fairness sind geeignete Zielvorgaben für eine idealisierte Gesellschaft. Dazu zählt die freie Verfügung über das eigene Leben in der Art und Weise, dass Entscheidungen, die mein Leben beeinflussen, auch von mir selber getroffen werden sollen.

Doch was hat es mit der Hierarchielosigkeit auf sich? Worin ist die Ablehnung geordneter und hierarchisierter Systeme begründet? Schließlich wird dadurch ein hohes Maß an Freiraum, Sicherheit und Schutz für jeden Bürger eines Staates gewährleistet.

Grundlagen des Anarchismus

Wie bei vielen theoretischen Begriffen, gibt es auch beim Anarchismus keine Basisform, auf die wir uns im politikphilosophischen Kontext zurückbesinnen könnten. Stattdessen ist die Tradition des Anarchismus durch eine sehr lebendige Theorievielfalt gekennzeichnet. Als Ergebnis einer solchen Theorie wird niemals ein fertig ausgearbeitetes Konstrukt stehen. Selbst wer einen handfesten Plan mit gesicherten Zwischenstufen erwartet, muss sich auf ein Denken ohne Grenzen und auf schwerwiegende Kritik am Kernideal der Staatlichkeit unserer Zeit einstellen.

Um die Idealkonzeptionen des Anarchismus besser einordnen zu können, ist es hilfreich, zunächst deren zentrale Kritikpunkte darzustellen. Nimmt man beispielsweise Max Stirners Der Einzige und sein Eigentum (1) zur Hand, wird schnell deutlich, dass der Autor das Prinzip der Staatlichkeit besonders stark kritisiert. Das ist aus heutiger Sicht nicht ohne weiteres schlüssig, da im Bereich der Politischen Theorie und der Politischen Systeme das Prinzip der Staatlichkeit hohe Anerkennung genießt. Als hierarchisches Verwaltungsprinzip ist es für viele Gesellschaften der Welt eine offenbar geeignete Lösung für Fragen der Ordnung, der Sicherheit und des Schutzes der Menschen.

Dagegen sieht Max Stirner, der vor allem als Verfechter einer auf Egoismus zentrierten Anarchieform gilt, im Staat ein „Gewebe und Geflecht von Abhängigkeit und Anhänglichkeit“ (2). Der Staat ist nach Stirner ein Konstrukt, das den Menschen in seiner Freiheit einschränkt. Seine Kritik richtet sich dabei nicht gegen eine aktuelle Regierungsform, den Parlamentarismus oder ein Parteienprogramm, sondern gegen die Grundfeste von Staatlichkeit überhaupt. Jede Anordnung und Struktur des Staates sei durch Repression und Unterdrückung geprägt. Im Gesellschaftsvertrag einer politischen Theorie manifestiert sich das Momentum von Herrschaft und Knechtschaft, ohne die ein Staat nicht denkbar ist. In einem Staat sei es nicht möglich, einen eigenen Willen auszuprägen, so Stirner.

Demzufolge ist es Stirners vorrangige Intention, sich aus der Repression des Staates zu befreien.

Der durch den Staat „gemachte“ Mensch hat erst ohne den Staat als herrschende Instanz wieder die Möglichkeit, zu einem freien und sich selbst bestimmenden Menschen zu werden.

Die Bevormundung durch den Staat, die sich beispielhaft in Elementen der Fürsorge und des Schutzes durch das Staatlichkeitsprinzip zeigt, ist eine Fremdleitung und Fremdsteuerung durch Macht. Die Macht eines Staates, über Lebensumstände, Vereinigungen, Bildung und Arbeitsverhältnisse zu bestimmen, ist asymmetrisch gegenüber dem Menschen, der sich als geachteter Bürger sieht. Das hegemoniale Ungleichgewicht führt zur Unterminierung des eigenen Willens (3). Anders ausgedrückt: „Jeder [Mensch], der er selbst sein will, ist sein Gegner und ist nichts“ (4).

Michail Bakunin, einer der einflussreichsten anarchistischen Revolutionäre des 19. Jahrhunderts, vertritt ähnliche Ansichten, wenn er behauptet, „jede im Recht liegende und daher offiziell auferlegte Autorität und jeder Einfluß dieser Art wird sofort Unterdrückung und Lüge und würde uns unfehlbar […] Sklaverei und Unsinn aufzwingen“ (5). Mit dieser Aussage vertritt Bakunin die Meinung, dass der Mensch nicht auf einen autoritären und fremden Willen angewiesen ist, „sei er göttlich oder menschlich, kollektiv oder individuell“ (6). Die Parallelen zu Max Stirner sind unverkennbar. Beide Autoren wehren sich gegen ein Leben in Fremdbestimmtheit. Dabei verkörpert der Staat das stärkste Manifest aller Fremdbestimmung der Moderne. Besonders den „unbedingte(n) Glaube(n)“ (7) an Staat und Wissenschaft als form- und normgebende Instanzen lehnen beide vehement ab.

Der im Jahr 2009 verstorbene Anarchist Horst Stowasser schreibt von einer immer weiter verbreiteten „‘negative[n] Identifikation‘ mit dem Staat“ (8). Aus seiner Sicht existiert heutzutage schon gar nicht mehr der positive Glaube an die Wirksamkeit des Staates, sondern viel eher der Gedanke, dass „alles ohne einen Staat noch viel schlimmer sein könnte“ (9). Hier stellt sich die Frage: Nach welchen Zielvorgaben möchten wir Menschen zusammen leben? Soll es nur ein vegetatives Dahinleben sein? Ein Über-Dem-Wasser-Halten in autoritären Systemen hinter dem scheinbaren Mantel der Freiheit?

Der Anarchismus geht diese Fragen in scharfer Manier an, indem er in staatlichen „Institutionen wie Regierung, Parlament, Polizei, Justiz, Zoll [und] Geheimdienste[n]“ (10) die „Manifestationen von Herrschaft“ (11) aufdeckt. Alle diese Instrumente der Staatlichkeit sind nichts anderes als Bestandteile eines repressiven Systems. Dabei soll sich die Kritik nicht an politische Entscheidungsträger wenden, sondern an die Ganzheit und Konzeption des Staates. Besonders an dieser Stelle wird die Unterscheidung zum Marxismus deutlich, der in den Grundzügen eine sehr ähnliche Kritik vertritt , die auch häufig von Anarchisten unterstützt wird, jedoch durch die Diktatur des Proletariats den bloßen Austausch des Hegemons für die Lösung hält.

Im Kern der Anarchie liegt die Fundamentalkritik, dass hegemoniale Machtverhältnisse, nach denen Menschen über Menschen herrschen – wie es in Staaten realisiert ist – zu Chaos, Ausbeutung, Unterdrückung, Reglementierung, Überwachung, Kontrolle und Misshandlung führen. Nichts davon ist wünschenswert, noch liegt das in der Natur des Menschen (12).

Anarchische Ideale

Das Narrativ der modernen Politischen Theorie, wonach der von Natur aus grausame Mensch erst durch den Staat zum wahren Menschen wird, lehnen zahlreiche anarchistische Denker ab. Stattdessen sind sie der Ansicht, dass keine Staatsform rechtfertigt, dass ein Mensch über einen anderen Menschen Macht ausüben und herrschen soll. Allein aus Max Stirners oben genannter Kritik am Staat folgt die Forderung, dass der Mensch selber sein eigenes Leben bestimmen und in die Hand nehmen soll. Seine exzentrische Form des Egoismus, sich vom Staat und aus allen anderen Bindungen herauszulösen, ist Ausdruck einer überaus hohen Selbstanerkennung. Stirner zufolge reichen die natürlichen menschlichen Fähigkeiten für ein selbstbestimmtes Leben aus und bedürfen keiner äußeren Hilfe, beispielsweise durch eine staatliche Macht.

Nach dem konsequenten Egoismus, den Stirner vertritt, soll jeder nur die eigenen Interessen verfolgen, ohne sich anderen Interessen zu unterwerfen. Das soll die Eigenart jedes einzelnen Menschen ausdrücken. Demnach ist es dem Menschen möglich, selbstständig für das eigene Leben zu sorgen und über alle existenziellen Bedürfnisse zu entscheiden. Als notwendige Bedingung gilt hierfür das Loslösen von jeglichen Bindungen, wie sie allerorts in Staaten zu finden sind: Verpflichtungen durch Sozialsysteme, Abhängigkeit von Mitgliedschaften und die Verfügung über Produktionsmittel sind nur einige aktuelle Beispiele.

Ähnlich urteilt auch Michail Bakunin, dass das einzige „Prüfwesen der Wahrheit“ (13) in der Vernunft des Menschen liegt. Er ist der Meinung, dass jeder Mensch selbstständig in der Lage ist, für sich zu entscheiden, was richtig und falsch ist. Dabei steht hier zunächst nicht die moralische Wertigkeit von „richtig“ und „falsch“ im Fokus, sondern die Möglichkeit der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung.

Denn Anarchie bedeutet mehr als der liberalistische Fehlschluss, dass Freiheit des Einzelnen nur soweit gehen dürfte, wo die Freiheit des Anderen anfängt: Freiheit kann „nur unter in gleicher Weise freien Menschen wirklich“ (14) realisiert werden.

Aus diesem Grund ist die Forderung der Anarchisten nach der Freiheit sehr eng mit der Forderung nach Gleichheit verbunden. Freiheit besteht nicht zwangsläufig im Rawlschen Sinne der Chancengleichheit, die letztlich in heutigen Staaten schon allein durch die hierarchische Struktur nicht umsetzbar ist, sondern in der freien Verfügung über das eigene Vorhaben.

Die Philosophie der Freiheit, die im Anarchismus gelebt werden soll, ist durch die Vereinigung von positiver und negativer Freiheit gekennzeichnet. Dass Menschen verschieden sind, soll genutzt werden, um ihren Zusammenschluss zu fördern. Gerade aus der Erkenntnis und dem Bewusstsein der Heterogenität des Menschen erwächst der anarchistische Gedanke, dass jeder für sich selbst entscheiden muss „was für sie (den Menschen, Anm.d.V.) in einer spezifischen Situation am besten ist“ (15). Diese Überlegungen sind umsetzbar, wenn das Verständnis für die Einzigartigkeit jedes Lebewesens existiert.

Daraus ergibt sich ein Bild einer Gesellschaft, die alles andere als starr und unter Kontrolle ist. Das einzig Beständige ist die Unbeständigkeit. Denn Anarchie bedeutet Wandelbarkeit, Lebendigkeit und Differenzierung. Der Wunsch nach Vielfalt verhindert eine dogmatische Zielkonzeption des Anarchismus und führt zu einem andauernden selbstkonstitutiven Gesellschaftsbild. ‚Selbstkonstitutiv‘ meint hier, dass eine Gesellschaft stets von den betroffenen Menschen organisiert wird. Kollektivität und Individualität wirken eng zusammen, wobei sie sich nie gegenseitig aus- oder einschließen dürfen.

Daraus ergibt sich des Weiteren, dass Ökologie einen höheren Stellenwert als Ökonomie einnimmt. Dieses Ideal folgt aus der Ablehnung jeglicher Verhältnisse von Ausbeutung, Verschwendung und Diskriminierung. Im Sinne einer Bedarfswirtschaft soll jeglichem verschwenderischen Konsum vorgebeugt und eine nachhaltige Gesellschaft gefördert werden (16).

Die grüne Revolution – Ansätze einer Naturethik

Anarchie zeichnet sich sowohl durch einen enormen gesellschaftlichen Freiraum als auch durch die Achtung der Einzigartigkeit eines jeden Menschen aus. Überall dort, wo eine bewusste und achtsame Umgangsweise mit Menschen gefordert und umgesetzt wird, liegt der achtsame Umgang mit der Natur nicht fern. Mensch und Natur scheinen zwar zwei voneinander getrennte Entitäten zu sein, doch ist der Mensch auch Teil der Natur.

Anarchie möchte die menschliche und naturgemäße Verbindung zur Umwelt auf eine neue Bewusstseinsstufe heben. Allerdings nicht aus einem übermenschlichen Beschützerinstinkt oder aus Vergöttlichung der Natur, sondern weil sie davon überzeugt ist, dass zwischen der sozialen und der ökologischen Lebensweise einer Gesellschaft eine starke Abhängigkeit besteht.

Der Begründer des Öko-Anarchismus Murray Bookchin behauptet, dass die Entwicklung der Menschen und die Vielfalt der Natur zueinander in Beziehung stehen. ‚Natur‘ beschreibt nicht einfach den Blick aus dem Fenster oder den Bereich einer Landschaft, der gerade auf eine Postkarte passt. Vielmehr versteht Bookchin ‚Natur‘ als etwas Ewiges und Historisches, das darüber Auskunft gibt, wo etwas herkommt und warum es sich wie entwickelt hat.

Nicht nur der Mensch hat eine evolutionäre Vergangenheit; ebenso haben sich Gesellschaften entwickelt und spiegeln so den Ausdruck eines Evolutionsprozesses wider. Bookchin meint weiter, dass soziale Evolution ein Teil der natürlichen Revolution ist, was nicht im Sinne des Marxismus‘ interpretiert werden darf. Bookchin ist davon überzeugt, dass aus dem Miteinander der Menschen Vorgaben und Annahmen entstehen, wie mit der Natur umgegangen wird. Wie wir mit unseren Mitmenschen umgehen, welche Ansichten und Ideale unseren Umgang untereinander prägen, hat nach Bookchin Auswirkungen darauf, wie wir unsere nichtmenschliche Umgebung sehen und behandeln (17).

Ähnliche Ansichten vertritt auch Max Horkheimer, Sozialphilosoph und Mitbegründer der Frankfurter Schule. Er schreibt, dass der „totalitäre Angriff der menschlichen Gattung auf alles, was sie von sich ausschließt […] auf die Beziehung zwischen Menschen, als aus eingeborenen menschlichen Qualitäten“ (18) gründet, und unterstreicht Bookchins Vermutung. Unter diesem Aspekt ist die Natur als „Objekt totaler Ausbeutung“ (19) durch Raubbau, Müll, Erwärmung der Erdoberfläche und weitere Schädigungen nicht nur ein Werkzeug des Menschen, sondern auch ein Abbild seiner misslungenen sozialen Entwicklung.

Die Ursachen für ökologische Probleme und Risiken fußen in den Grundfesten moderner Gesellschaften, die nach Bookchins und Horkheimers Theorie durch ebensolche ausbeuterische Zwischenmenschlichkeit gekennzeichnet ist.

Beide Philosophen zeigen, dass das ökologische Verständnis einer Gesellschaft nicht seinen Ausdruck in einer Umweltpolitik oder in Klimagipfeln findet, sondern aus den innersten Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber der Natur entsteht. Genauso wie die Entwicklung des einzelnen Menschen muss auch eine Gesellschaft begriffen werden.

Tierethische Konsequenzen

Aus der Idee des Anarchismus ergibt sich ein achtsamer und differenzierter Umgang mit der Umwelt. Dazu gehört einerseits, dass Menschen besonders aufgrund ihrer Verschiedenheit ein Höchstmaß an Freiheit ausleben sollen und andererseits das Bewusstsein der Abhängigkeit der mitmenschlichen Verhältnisse gegenüber Natur und Umwelt. Doch weshalb sollte sich der Mensch für das Wohl der Natur einsetzen?

Beispielhaft soll diese Frage anhand des menschlichen Umgangs mit Tieren beleuchtet werden. Tiere kennen wir alle. Täglich begegnen wir Hunden auf der Straße, erleben so manche Katze im Haus von Freunden, beobachten die Vögel vor dem Fenster oder hören Kühe, Ziegen und Schafe auf einer in der Nähe liegenden Weide. Der Mensch teilt Tiere nicht nur in biologische Kategorien wie Säugetiere, Amphibien und Insekten ein, sondern unterscheidet auch juristisch zwischen Nutztier, Haustier und Wildtier. Außerdem gibt es noch das Tier zum Schmusen, zur Dressur, zum Reiten und seit einigen sportlichen Wettkämpfen sogar das Orakeltier.

Diese Kategorien, wenn auch teilweise seltsam anmaßend, entscheiden über unser Auftreten gegenüber Lebewesen anderer Spezies. Schaut man genauer auf die menschliche Beziehung zu Nutztieren, beispielsweise zu Rindern, Schweinen, Hühnern, Puten und Fischen, fällt auf, wie wenig wir eigentlich über sie wissen. Fest steht: Der Mensch braucht für sein Überleben Nahrungsmittel, und Fleisch zählt gegenwärtig zu seinen Basislebensmitteln. Daraus hat sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine Form der Massentierhaltung etabliert, die derzeit jährlich 140 Milliarden Euro umsetzt und etwa 450 Milliarden Landtiere ‚produziert‘.

Bei Massentierhaltung „handelt es sich (…) um ein System der intensiven und industriellen Landwirtschaft, in dem Tiere – oft zu Zehn- oder Hunderttausenden –, genetisch optimiert, in ihren Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt werden und unnatürliches Futter (mit Antibiotikazusätzen) erhalten“ (20). Sie ist die groteske Methode, ein Lebewesen nur als ‚Nutzeinheit‘ zu betrachten und mit minimalen Kosten möglichst nah am Tod zu halten, sodass es noch als „Rohstofflieferant“ genutzt werden kann, bevor es nach 2 bis 42 Prozent (21) seiner natürlichen Lebenserwartung geschlachtet wird.

In Deutschland werden etwa 98 Prozent aller Nutztiere in Massentierhaltung zusammengepfercht. So schreibt Johann Safran Foer, dass die menschliche Einstellung zur Tiernutzung von einer Wertevorstellung bestimmt ist, die sich durch ein Minimum an Produktionskosten ausdrückt. Dass dafür Umweltzerstörung und ein Anstieg von Krankheiten gefördert werden, wird beim jährlichen Fleischverzehr von rund 59 Kilogramm pro Kopf (in Deutschland) offenbar arglos übersehen (22). So zeigen Autoren wie Jonathan Safran Foer, Andreas Grabolle und Dirk C. Fleck, dass sich der Mensch vieler Ressourcen der Erde in einer Art und Weise bedient, die ethisch unreflektiert erscheint.

Das Prinzip der Gleichheit

Welche Antwort gibt nun der Anarchismus auf den Missbrauch von Tieren bei der Massentierhaltung? Ganz offenkundig handelt es sich bei der Massentierhaltung um Ausbeutung und Misshandlung. Das sind Herrschaftsmechanismen, die Anarchisten wie Bakunin, Rocker, Proudhon, Stirner und Bookchin überwinden möchten. Denkt man an die Idealvorstellungen von Anarchie und führt sich den Gleichheitsansatz Bakunins vor Augen, erscheint ein Gedankenexperiment als sinnvoll. Wie eingangs gezeigt, war Michail Bakunin der Ansicht, dass nur die Gleichheit aller die Freiheit des Menschen durchsetzen könne. Mit dieser Aussage bezog er sich nur auf Menschen. Doch womöglich lag er falsch, da er, bewusst oder unbewusst, Tiere aus seinen Überlegungen ausschloss.

Wie ist es schließlich zu rechtfertigen, dass Gleichheit nur für den Menschen und nicht für Tiere gilt, mit denen wir täglichen Umgang pflegen?

Der Tierethiker und Philosoph Peter Singer beruft sich auf das Grundprinzip der Freiheit beim Versuch, dieses Prinzip auf Tiere auszuweiten. Sein Vorschlag lautet, dass aus der Forderung der Gleichheit das Prinzip der Interessenberücksichtigung folgt. Anders ausgedrückt sollen nach dem Gleichheitsgedanken die eigenen Interessen nicht höherwertiger sein als die Interessen eines Anderen. Diese „adäquate Basis für den Menschen“ (23) stelle außerdem eine „vernünftige moralische Basis für unsere Beziehungen zu denen außerhalb unserer Gattung“ (24) dar.

Tiere sollen nicht aufgrund ihrer andersartigen Rassenzugehörigkeit aus dem Prinzip der Interessenberücksichtigung ausgeschlossen werden. Denn aus diesem Prinzip folgert Singer ebenso, dass Sein und Fähigkeiten keine Auswirkungen auf die Rücksichtnahme der Interessen haben dürfen. Schließlich berechtigt uns auch die unterschiedliche Rassenangehörigkeit von Menschen nicht dazu, gegenseitige Vormachtrechte und Verfügungsrechte zu beanspruchen.

Für Peter Singer ist die „Fähigkeit zu leiden [...] [die] Grundvoraussetzung dafür, überhaupt Interessen haben zu können“ (25). Dass Tiere zu Leid fähig sind, beweisen nicht nur die Ähnlichkeit der Schmerzrezeptoren, sondern auch die qualvollen Schreie in jedem Schlachthof. Auch wenn die ‚Grenze der Empfindsamkeit‘, wie es bei Singer heißt, schwer zu definieren ist, so ergibt sich dennoch daraus, dass Konzepte wie Massentierhaltung dem Prinzip der Gleichheit widersprechen. Nach Singer ist es reine Willkür, wenn der Mensch die Unterscheidung zu Tieren in Phänomenen wie Rationalität oder Intelligenz sucht.

Ein ähnliches Ziel verfolgt Tom Regan mit einem Rechte-Ansatz, wonach jeder Mensch einen ‚inhärenten Wert‘ erhält. Dieser ‚inhärente Wert‘ orientiert sich weder an der Nützlichkeit, noch an einem anderen Kriterium, sondern steht allein dafür, dass jedes Lebewesen an sich wertvoll ist, so wie es ist. Weder geschlechts- oder rassenspezifische Unterschiede, noch intellektuelle oder materielle Eigenschaften haben Einfluss auf diesen Wert. Daraus ergibt sich die Unmöglichkeit jeglicher Form der Diskriminierung.

Der ‚inhärente Wert‘ wäre schließlich auch auf Tiere anwendbar, da es laut Peter Singer keine Kategorie der Unterscheidung mehr gibt. Sowohl Mensch als auch Tier sind „empfindbare Subjekte“. Demnach plädiert auch Regan dafür, dass Vorrechte des Menschen, die auf Autonomie oder Intelligenz gründen, nicht zulässig sind. Gemäß Singer gilt dies auch für Kleinkinder, kranke und alte Menschen. Also gilt das Prinzip der Gleichheit unabhängig von der Nützlichkeit der eigenen Existenz und sowohl für Tiere als auch für Menschen gleichermaßen.

Konsequenzen für den Umgang mit Tieren

Die Anarchie gründet auf einem anspruchsvollen Freiheits- und Gemeinschaftsbegriff. Die Ansprüche, die an den Einzelnen gestellt werden, wirken oftmals wie Privilegien einer hoch vertrauensvollen und achtsamen Gesellschaft. Anarchisten stimmen größtenteils in ihren antistaatlichen und antikapitalistischen Überzeugungen überein. Das zeigt sich nicht nur an ihren föderativen und individuellen Konstruktionen, sondern durchdringt auch Murray Bookchins Evolutionskritik. Bezeichnend für alle anarchistischen Konzepte ist der hohe Grad an Machtaufspaltung, der den ethischen Umgang mit Tieren nahelegt.

Bakunins, Singers und Regans Theorien zeigen, dass aus dem anarchistischen Prinzip der Gleichheit derselbe Gleichheitsanspruch für Tiere folgen muss, wenn der Anspruch auf Herrschaftslosigkeit auf alle Bereiche menschlicher Tätigkeiten ausgeweitet werden soll.

Eine weitere Konsequenz dieser Überlegung ist, dass es ganz im Sinne anarchistischer Bewegungen sein müsste, nicht nur für die Befreiung der Menschen aus der Herrschaft von Menschen einzutreten, sondern ebenso für die Befreiung von Tieren aus der Herrschaft von Menschen. Denn wie Bookchin und Horkheimer gezeigt haben, beeinflusst der Umgang mit Tieren den Umgang mit unseren Mitmenschen. Je schonungsloser und abschätziger Menschen mit der Umwelt, sprich der Natur, umgehen, desto eher führt dieses Verhalten zum selben verächtlichen Umgang mit ihren Mitmenschen. Wer gegenseitige Rücksichtnahme und Interessenaustausch nicht als wertvoll ansieht, schafft Raum für Hierarchie und unterdrückende Strukturen.

Bisher ist es nicht möglich, die Frage schlüssig zu beantworten, worin sich Mensch und Tier im Detail unterscheiden und warum der Missbrauch und die Ausbeutung von Tieren gerechtfertigt sein sollte. Im Gegenzug ist es möglich, mit Hilfe der Idealvorstellungen von Anarchisten und Tierethikern eine gemeinsame Wertevorstellung zu konzipieren, die ein Prinzip der Gleichheit für Menschen und Tiere schlüssig begründet.

Die Grenzen der Überlegungen liegen im Bereich der wissenschaftlichen Erforschung zur Empfindsamkeit von Tieren. Der bisherige Begriff von subjektiver Empfindsamkeit und Leiden ist sehr vage, doch für grundlegende theoretische Überlegungen zu dieser Thematik sehr wohl geeignet. Des Weiteren geht aus der bisherigen Fragestellung nicht hervor, welche Konsequenzen sich daraus für die Ernährung und Tierhaltung ergeben. Ob aus dem Prinzip der Interessenberücksichtigung nur folgt, dass wir Tiere nicht halten und domestizieren dürfen oder auch ein Tötungsverbot einführen sollten, ist weiterhin offen.

Auf jeden Fall steht jedoch fest: Der Umgang mit anderen Lebewesen hat Auswirkungen auf unseren Umgang miteinander. Der Anspruch, der sich aus dieser Aussage ableitet, wirkt zwar äußerst hoch, wenn nicht sogar unerreichbar. Doch geht es vielleicht gar nicht darum, allen Anforderungen in vollem Maße gerecht zu werden.

Vielmehr erscheint die Botschaft hinter dem Sichtbaren: Dass der Mensch nicht frei ist, solange auch nur ein Tier in Gefangenschaft lebt.

Das soll uns allerdings nicht in einen verzweifelten Befreiungskampf treiben, sondern sensibilisieren, achtsam zu werden und darauf hinzuweisen, dass jeder noch so flüchtige Kontakt mit Leben und ‚fremder‘ Existenz wegweisend ist für eine Welt, wie wir sie uns wünschen.


Quellen und Anmerkungen:

(1) STIRNER, Max (2005): Der Einzige und sein Eigentum (Auszüge). Erfstadt: area
(2) ebenda, S. 236
(3) KARIN KRAMER VERLAG (Hrsg.) (1997): Was ist eigentlich Anarchie? Einführung in die Theorie und Geschichte des Anarchismus. Berlin: Karin Kramer Verlag
(4) ebenda (1), S. 241
(5) BAKUNIN, Michail (1968a): Gott und der Staat. In: Rainer BEER (Hrsg.): Philosophie der Tat. Köln, S. 136
(6) ebenda, S. 128
(7) ebenda, S. 131
(8) STOWASSER, Horst (2009): Anarchie! Idee - Geschichte - Perspektiven. Hamburg: Nautilus, S. 35
(9) ebenda, S. 35
(10) ebenda, S. 36
(11) ebenda, S. 36
(12) Vgl. BARCLAY, Harold (1985): Völker ohne Regierung: Eine Anthropologie der Anarchie. Berlin: Libertad Verlag, S. 23
(13) BAKUNIN, Michail (1968b): Sozialrevolutionäres Programm (Katechismus der revolutionären Gesellschaft). In: Rainer BEER (Hrsg.): Philosophie der Tat. Köln, S. 516f
(14) ebenda, S. 517
(15) MILSTEIN, Cindy (2013): Der Anarchismus und seine Ideale. Münster: UNRAST-Verlag, S.61
(16) Vgl. ebenda (8), S. 29; Vgl. ebenda (15), S. 36ff, 62, 68
(17) Vgl. BOOKCHIN, Murray (1971): Post-Scarcity : Anarchism. Berkeley: Ramparts Press, S. 81; Vgl. BOOKCHIN, Murray (1990): Remaking Society : Pathways to a Green Future. Boston: South End Press, S. 30, 38
(18) HORKHEIMER, Max (1991): Gesammelte Schriften: „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“ und „Notizen 1949-1969“. (Alfred SCHMIDT, Gunzelin Schmid NOERR, Hrsg.). Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 119
(19) ebenda, S. 119
(20) FOER, Jonathan Safran (2010): Tiere essen. (Isabel BOGDAN, Übers.). Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 40
(21) GRABOLLE, Andreas (2012): Kein Fleisch macht glücklich: Mit gutem Gefühl essen und genießen. München: Wilhelm Goldmann, S. 16f; Prozentsatz des biologisch möglichen Lebensalters
(22) BUNDESVERBAND DER DEUTSCHEN FLEISCHINDUSTRIE E.V. (2019): https://www.bvdf.de/in_zahlen/tab_05; Vgl. ebenda (20), S. 5, 38, 40f
(23) SINGER, Peter (2008): Rassismus und Speziesismus. In: Ursula WOLF (Hrsg.): Texte zur Tierethik (S. 25–32). Stuttgart: Reclam, S. 28
(24) ebenda, S. 28
(25) ebenda, S. 31