Freiheit als Verpflichtung
Wer unser Ökosystem um der individuellen Freiheit willen opfert, wird beides verlieren.
Sind wir wirklich so frei, wie wir uns fühlen? Woher kommt unsere Freiheit? Worin besteht sie? Worauf richtet sie sich? Könnte es sein, dass uns die neoliberale Freiheit abhängig und unfrei macht? Der alte Begriff der Freiheit muss im Zeitalter der Umweltzerstörung neu gedacht und gedeutet werden.
Es gibt Begriffe, die Grundbedingungen des Menschseins bezeichnen und deshalb im Machtkampf von Menschen missbraucht, vergewaltigt, pervertiert werden. Begriffe, die im Lauf der Zeit ihre ursprüngliche Bedeutung verlieren. Sie verkommen zu wertlosen, sinnentleerten Schlagworten, zu Hüllen für beliebige und vor allem zweckdienliche Inhalte. Ein solcher Begriff ist die „Freiheit“.
Dennoch glaube ich an die aufbauende Untersuchung und Erweiterung von Begriffen. Sich zu beschränken auf einmal festgelegte Bedeutungen, hieße geistiger Stillstand. Untersuchungen und Erweiterungen bedürfen aber der Aufrichtigkeit.
Im Fluss der Geschichte
Im Altertum bedeutete Freiheit frei zu sein von Behinderung durch Zwang, Kausalität, Schicksal. Freiheit als Unterwerfung der vernunftfeindlichen Triebe und Leidenschaften durch den Geist. Freiheit von politischer Gewaltherrschaft. Freiheit von den Übeln des Daseins.
Im Mittelalter bedeutete sie, frei zu sein von Sünde und Verdammnis durch die Kirche. Freiheit als gesellschaftliche Stellung.
In Renaissance und Folgezeit wandelte sich der Begriff zur Freiheit als ungehindert allseitige Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit.
In der Französischen Revolution bezog sich Freiheit auf die politische Identität, gewährleistet durch die Menschen- und Bürgerrechte.
Der Marxismus versteht Freiheit als Fiktion. Der Mensch denkt und handelt trieb- und milieubedingt, wobei in seinem Milieu die wirtschaftlichen Verhältnisse und die Klassenkampflage die Hauptrolle spielen. Freiheit wird es erst geben in einer klassen- und herrschaftslosen Gesellschaft.
Im Existentialismus gilt Freiheit als Grundstimmung des Daseins. Sie ist nicht eine Eigenschaft des Menschen, sondern seine Substanz. Der Mensch ist immer auf der Höhe dessen, was ihm zustößt. Es gibt für ihn keine Entschuldigungsgründe.
Der Neoliberalismus versteht Freiheit als Entfremdung durch Abhängigkeit. Der Mensch wird kommerzialisiert. Freiheit als digitale Unfreiheit.
Im Spiegel der Gegenwart
Hier sind Möglichkeit und Wirklichkeit zu unterscheiden. Möglich wäre Freiheit im kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Bereich aufgrund sozialer Gleichheit. Freiheit als Würde des Menschen.
In der Wirklichkeit bedeutet Freiheit den Abschluss menschlichen Strebens und geschichtlicher Entwicklung. Freiheit als Flucht vor der Freiheit, als ein Ausweichen vor der freien Willensentscheidung in die Unmündigkeit des Konsumzwangs einer Zivilisation, die sich mittels Umweltzerstörung selbst vernichtet.
Wie Freiheit zu Unfreiheit wird
Die meisten politischen Systeme, einschließlich Kommunismus und Kapitalismus, sind überholt, da ihre Wirtschaftsordnungen dem Wachstumsdenken verpflichtet sind. Wirtschaftliches Wachstum heute ist angewiesen auf den massiven Einsatz von Technologie, die sich letztlich als lebensfeindlich erweist. Die überbordende Herstellung von Produktions-, Wirtschafts- und Konsumgütern stört den Haushalt der Natur. Die Befriedigung wachsender Bedürfnisse geht auf Kosten der Materie. Der neoliberale Kapitalismus bewahrt den Menschen kurzfristig vor dem Mangel an Gütern, begünstigt aber den ökologischen Kollaps.
Wir bestellen den Acker des Lebens und säen den Tod.
Menschliche Freiheit umfasst eine innere und eine äußere Dimension. Die subjektive Freiheit — ein innerer, geistiger Wert — bildet zusammen mit der äußeren, objektiven Freiheit ein Ganzes. Die subjektive Freiheit objektiviert sich in der Materie, das heißt: die Vorstellung verwirklicht sich im Gegenstand. Die subjektive Freiheit bedient sich des Willens, der seinem Wesen nach stets freier Wille ist, um die Vorstellung in reales Sein umzusetzen. Wir sind angewiesen auf die Materie, sie ist eine wesentliche Grundlage der Freiheit.
Wir bestimmen Form und Qualität der Materie, die ihrerseits durch die Art der Beschaffenheit unseren freiheitlichen Handlungsspielraum einschränkt oder erweitert. Wir gestalten die Dinge, deren Sachzwänge Grenzen setzen oder sprengen. Subjektive und objektive Freiheit bedingen und prägen einander.
Die Wohlstandsgesellschaft hat ihren Preis: das Land wird überdüngt, Schwermetalle und Plastik geraten ins Meer, die Atmosphäre wird verseucht, saurer Regen fällt zur Erde, die Tropenwälder lichten sich, die Tiere werden ausgerottet, die atomaren Fässer lecken, das Klima wird aufgeheizt.
Indem wir einem maßlosen Konsum frönen, zerstören wir die Umwelt. Indem wir derart selbstherrlich über die Materie verfügen, setzen wir eine Entwicklung in Gang, an deren Ende die Bankrotterklärung der Freiheit stehen muss.
Denn die geschaffenen, natürlichen Wirklichkeiten wie Smog-Alltag, Zunahme der Atemwegs-, Krebs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Treibhauseffekt mit Waldbränden, Dürren und Überschwemmungen, Sondermüll-Berge werden drastische Maßnahmen provozieren wie Einschränkungen des Treibstoff- und Lösungsmittelverbrauchs, Benzinrationierung, Stopp des Wirtschaftswachstums und Behinderung der freien Marktwirtschaft durch staatliche Eingriffe.
Subjektive Freiheit ohne Verantwortungsbewusstsein endet in objektiver Unfreiheit.
Freiheit und Umwelt
Freiheit, verstanden als Verwirklichung des Machbaren, behindert sich selbst.
Freiheit, gelebt aus Furcht vor Verantwortung, führt zum hemmenden Sachzwang.
Freiheit, begründet in der Verdrängung ihrer Folgen, ist Flucht vor der Freiheit.
Freiheit um der Freiheit willen gipfelt in der Sklaverei von morgen.
Der Anspruch, frei zu sein und es zu bleiben, verpflichtet zu verantwortlichem Handeln. Es geht nicht darum, zu tun, was machbar, sondern zu lassen, was nicht zu verantworten ist.
Wissen und Gewissen verschmelzen: Die Verantwortung im Jetzt bewahrt die Freiheit vor künftigen Beeinträchtigungen.
Der verantwortungsvolle Mensch ist sich bewusst, dass er nicht milieu- oder situationsbedingt handelt, sondern die Wahl hat, so oder anders zu handeln. Er ist sich bewusst, dass die Folgen seines Tuns ihm nicht nur zugerechnet werden können, sondern müssen. Das Bewusstsein der Freiheit macht seine Würde aus. Der verantwortungsvolle Mensch berücksichtigt die Folgen, Nebenfolgen und nicht vorausbedachten Wirkungen seines Handelns. Die durch Betrachtung gewonnenen Erkenntnisse beeinflussen das weitere Vorgehen. Die Ethik der Freiheit macht sein Engagement aus. Die Freiheit des verantwortungsvollen Menschen setzt eine gesellschaftliche Vision voraus.
Freiheit sich selbst gegenüber ist grenzenlos.
Freiheit dem andern gegenüber hört auf, wo dessen Freiheit verletzt wird.
Freiheit der Umwelt gegenüber beschränkt sich selbst, wo diese zerstört wird.
Im Zeitalter der Umweltzerstörung wird Freiheit zur Verpflichtung zu umweltfreundlichem Handeln. Die Verantwortung ist die angemessene Antwort des Menschen auf das Sein.
Freiheit und Schuld
Die Frage nach der menschlichen Freiheit ist eine Frage jenseits aller ideologischen Färbung. Freiheit hat mit Mündigkeit, Ethik und Engagement zu tun. Sie verpflichtet zu verantwortungsvollen Entscheidungen. Ihre Begleiterin ist nicht die satte Zufriedenheit, sondern das Unbehagen. Freiheit ist die größte menschliche Herausforderung.
Am einfachsten und verlockendsten ist es, den Anderen für den Zustand der Welt verantwortlich zu machen. Eigene Opportunität, innere Korruption, Selbstzensur und vielerlei Möglichkeiten, sich den Forderungen des Gewissens durch Selbstbetrug zu entziehen, werden dadurch vertuscht, dass der Andere lautstark zum Sündenbock gestempelt wird. Die Schuld wird delegiert. Schuld setzt Verantwortungsbewusstsein voraus.
Da die Freiheit in der bewussten Wahl und der Verantwortung des Gewählten und seinen Folgen besteht, ist Schuldzuweisung ein Verrat an sich und dem Anderen: sich selbst wird die Freiheit — und somit die Menschenwürde — aberkannt, dem Anderen wird sie aufgebürdet. Dieser vom Einzelmenschen täglich begangene Verrat ist ein Hauptpfeiler der Suizidgesellschaft: das wirtschaftliche Wachstum wird gutgeheißen, der Wohlstand genossen und seine Voraussetzung, die Umweltzerstörung, entweder an Andere oder das anonyme System delegiert.
Natürlich kann man der Meinung sein, dass jene, die für die herrschenden Zustände verantwortlich sind, Namen und Adressen haben. Aber Aufklärung zu betreiben, bedeutet nicht nur, nach Macht, Unterdrückung und Abhängigkeit zu fragen, sondern vor allem, sich zum eigenen Namen, zur eigenen Adresse zu bekennen. Jeder Einzelne ist mitverantwortlich für die herrschenden Zustände; dafür sorgt schon seine Anwesenheit, sein Dasein: jeder Einzelne ist ein Baustein im Fundament der Gesellschaft, in der er lebt.
Existenz an und für sich beinhaltet auch Mitschuld am Bestehenden. Wir haben jedoch die Möglichkeit, diese Hypothek im Verlauf unseres Lebens zu tilgen oder zu vergrößern. Wir werden frei im Akt der Auflehnung gegen die kollektive Unschuld. Das Brecheisen, das die Ketten sprengt, heißt Eigenverantwortung. Wir werden unfrei im Akt der Schuldzuweisung. Resignation vor der Mitschuld macht uns zu Ideologen.
Freiheit und Demokratie
Demokratie kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Volksherrschaft“. In der Demokratie bestimmt das Volk direkt oder indirekt, nach welchen Ordnungs- und Gemeinwohl-Vorstellungen es leben und regiert werden will. Eine Hauptaufgabe der Demokratie ist es, die Entwicklung des Menschen zu mehr Freiheit zu ermöglichen; sie tut dies durch den Schutz der Grundrechte. Die Grundrechte ihrerseits schützen den Menschen vor Übergriffen des Staates und mächtiger Institutionen, Gruppen oder Einzelpersonen. Sie sollen dem Individuum jenen Freiraum garantieren, der notwendig ist, um in freier Entfaltung der Persönlichkeit seine Selbstbestimmung zu verwirklichen. Sie sichern unter anderem das Recht auf Gleichheit, Unversehrtheit, Eigentum, Privat- und Familienleben, frei gewählte Wohnung, freie Bewegung, Meinungs- und Glaubensfreiheit — ja sogar das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung.
Die Verbände- und Parteidemokratie ist angewiesen auf Ideologen, auf der Ebene der Wähler wie auf jener der Repräsentanten. Ideologen sind ängstlich und feige; sie fürchten die Freiheit und verstecken ihr Gesicht hinter dem weltanschaulichen Visier. Sie verweigern sich der Mitschuld am Bestehenden und delegieren sie an Andere.
Schablonen und Feindbilder sind viele zur Hand: Die Anderen sind Freunde oder Fremde, Linke oder Rechte, Unternehmer oder Arbeiter, so oder anders — in jedem Fall aber verantwortlich, also schuldig. Um den Preis der eigenen Verantwortung wird das Unbehagen, das ein freies Leben beschert, überwunden. Ideologen fristen ein behagliches, verantwortungsloses und daher menschenunwürdiges Dasein. Das Ideologische ist der Gegenpol zum Absoluten, Menschlichen.
Die Demokratie, deren politische Praxis im Ideologischen gründet, wird als Schutzpatronin der Grundrechte unglaubwürdig. Freiheit des Individuums im kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich wird zur Farce. In einer solchen Demokratie vom eingelösten Versprechen der menschlichen Selbstbestimmung zu sprechen, ist blanker Zynismus. Die Gesetze, die erlassen werden, können dem demokratischen Anspruch kaum noch genügen und verlieren ihre Verbindlichkeit. Pflichten wie Rechte sind ethisch oft nicht mehr verantwortbar.
Die Demokratie, die Umweltzerstörung weiterhin billigt, statt zu verantworten, führt in die totalitäre Sackgasse. Denn früher oder später wird sie den individuellen Spielraum umweltschädigenden Handelns mit Zwangsmaßnahmen, Verboten und Strafen einschränken müssen. Spätestens dann wird sich die Demokratie in eine Oligarchie verwandeln. Die freiheitliche Verpflichtung des Menschen zu Eigenverantwortung steht weit über der demokratischen Verpflichtung zu Gesetzesgehorsam: die Missachtung eines Gesetzes kann unter Umständen der Gesellschaft langfristig mehr dienen als seine Befolgung. Illegalität wird so zum Grundrecht auf Widerstand gegen die Unmenschlichkeit einer Demokratie im Verfall.