Frankreichs Revolte

Wenige Menschen können viel bewegen!

Am Wochenende des 17. November blockierten 282.710 Menschen in mehr als 2.000 Aktionen Straßenkreuzungen, Kreisel, Supermärkte, Tankstellen und andere strategische Orte, um ihrem Unmut über die erhöhten Dieselkosten Luft zu machen. Acht Personen hatten ausgereicht, um ein ganzes Land in Bewegung zu bringen.

Es war die größte Protestbewegung des Jahres. Im ganzen Land wurden zwei Tage und stellenweise länger strategisch wichtige Orte blockiert. Erkennungszeichen der Aktivisten: die gilets jaunes, die gelben Westen, die seit ein paar Jahren zur obligatorischen Ausstattung jedes Fahrzeugs gehören.

Auslöser war ein im Oktober auf Facebook gepostetes Video, in dem sich eine Autofahrerin über die drastische Erhöhung der Dieselpreise echauffiert. Es wurde mehr als sechs Millionen Mal gesehen. Innerhalb von fünf Tagen unterzeichneten 300.000 Menschen eine entsprechende Petition.

Gegründet wurde die Bewegung, die sich wie ein Buschfeuer ausbreitete, von acht bisher unbekannten Personen. Sie ließen Flyer drucken und riefen über die sozialen Medien zu einem Massenprotest auf. Es sind Menschen jeden Alters und jeder politischen Gesinnung, die sich gegen eine Politik stark machen, die zunehmend die sozial Schwachen benachteiligt und sie die Lasten für den angekündigten ökologischen Wandel tragen lässt.

Rien ne va plus

Protestiert wird aus verschiedenen Motivationen heraus: Man ist gegen steigende Dieselpreise und die sinkende Kaufkraft, gegen die sich zuspitzenden sozialen Ungerechtigkeiten und für mehr Solidarität mit Menschen, die immer stärker in die Armut abrutschen.

Während die Regierung von Emmanuel Macron den wohlhabenden Teil des Landes mit Steuergeschenken überhäuft, verdient die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung weniger als 1.800 Euro im Monat. Nach einem Artikel des Figaro haben heute fünf Millionen Menschen in Frankreich weniger als 855 Euro pro Monat zum Leben. Eine Studie des Secours Populaire besagt, dass eine von fünf Personen im Land der Gastronomie nicht genug zu essen hat.

Viele, die am Wochenende die Straßen blockierten, drücken ein echtes Ras-le-Bol aus, ein Fass, das zum Überlaufen gekommen ist. Immer wieder sind es die „Kleinen“, die die Rechnungen für die „Großen“ bezahlen. Die Bilanz: eine hohe Medienpräsenz, 409 Verletzte auf beiden Seiten, davon 14 schwer, 157 Festnahmen und eine Tote.

Riss durch die Gesellschaft

Neben den gilets jaunes waren an diesem Wochenende auch einige gilets bleus unterwegs: Menschen in blauen Hemden, die gegen die Demonstrationen protestierten. Man ist sich nicht einig in diesem Kampf. Hinter den Auseinandersetzungen steht die Maßnahme der Regierung, durch erhöhte Steuern den Dieselverbrauch zum Schutz der Umwelt zu reduzieren. So wird gesagt. Während die Leute bis vor Kurzem noch dazu angeregt wurden, auf Diesel zu setzen, hat nun eine Kehrtwende stattgefunden, die vor allem die Bevölkerung in den Außenbezirken der Städte und auf dem Land trifft.

Auf der anderen Seite bleiben Maßnahmen wie der Zentralismus, die Konzentration der meisten Aktivitäten auf die Ballungszentren — wie etwa von Schulen, Post, Ärzten oder Geschäften —, die Stilllegung kleinerer Bahnstrecken und die Privatisierung des Bahnverkehrs nicht ohne Folgen: Diejenigen, die sich ein Leben in der Stadt nicht leisten können, geraten immer mehr unter Druck. Die steigende Arbeitslosigkeit hat dazu geführt, dass viele Menschen 100 Kilometer und mehr pro Tag fahren müssen, um arbeiten zu können. Sie sind es, die nun die Kosten für den ökologischen Wandel tragen sollen.

Perverses Spiel

Obwohl die Bewegung viele Menschen vereint, wird an ihr auch deutlich, wie hier Dringlichkeiten gegeneinander ausgespielt und Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufgehetzt werden: Armutsbekämpfung versus Umweltschutz.

Die Gegenüberstellung suggeriert, dass wir uns entscheiden müssen. Entweder das eine oder das andere. Hier wird die Perversion eines Spiels deutlich, in dem zuerst dafür gesorgt wird, einem bedeutenden Teil der Bevölkerung nach und nach die Lebensgrundlage zu entziehen und dann genau diese Menschen als Umweltsünder zu outen.

Die Lösung in der Verbindung

Nun mag man sich fragen, was diese Zeilen in der Mutredaktion zu suchen haben — abgesehen von der Tatsache, dass die Redakteurin seit ein paar Tagen Mühe hat, mit dem Auto in die nächste Stadt zu kommen. Sie gehört zu denen, die auf dem Land leben. Vor meinem Haus stehen gleich zwei alternde Dieselfahrzeuge.

Ich finde es einerseits bemerkenswert, wie eine Handvoll Menschen eine derartige Massenbewegung lostreten können, möchte jedoch auch den Blick darauf schärfen, in welchem Sinne wir uns engagieren. Denn ein Ras-le-Bol, ein „Es-reicht-und-jetzt-wird-mit-der-Faust-auf-den-Tisch-gehauen“ kann gerade der Sache in die Hände spielen, wogegen man sich eigentlich stellt.

Das Problem ist das Trennende. Die Lösung ist das Verbindende. Diesen Leitspruch möchte ich auch auf diese Situation anwenden. Wir müssen uns nicht entscheiden zwischen Umweltschutz und Armutsbekämpfung. Immer wieder wird uns dieses Argument wiedergekäut: Wollt ihr Arbeit und entsprechenden Wohlstand oder wollt ihr Blumenwiesen schützen?

Längst beweisen etliche Aktionen, dass beides sich nicht ausschließt und dass Umweltschutz nicht das Zurückstellen lebensnotwendiger Bedürfnisse, sondern nur einer gewissen Bequemlichkeit bedeutet. Wer sich für seine Umwelt engagiert, der müsste etwa bereit sein, möglichst nichts in Plastik Verpacktes mehr zu kaufen, möglichst kein Fleisch mehr zu essen und möglichst keinen Supermarkt mehr zu betreten.

Er müsste lernen, wieder selber zu kochen, Dinge selber zu machen und mit anderen zu tauschen. Er müsste nicht mehr darauf warten, dass man ihm irgendetwas vorsetzt, um es dann entweder zu konsumieren oder draufzuschlagen, sondern selbst kreativ werden. Er müsste sich mit seinen Nachbarn zusammenschließen und mit ihnen teilen. Er müsste sich mit der Leere und dem Schmerz in sich selbst auseinandersetzen und sich nicht mehr von der Gier leiten lassen — und von der irrigen Annahme, andere hätten das, was er braucht.

Wenn wir bereit sind, das zu tun, dann müssen wir nicht mehr von oben herab auf diejenigen gucken, die weniger haben als wir und nicht mehr die bekämpfen, die mehr haben. Dann stellt sich nicht mehr die Frage der Entscheidung zwischen dem einen oder dem anderen. Wenn wir beginnen zu teilen, zu tauschen, gemeinsam zu essen, zu arbeiten, zu feiern und zu lachen, dann haben wir alles, was wir brauchen.

Bunte Westen

Dann können sich die gilets jaunes und die gilets bleus miteinander verbinden und zu grünen Westen werden. Es gibt sie tatsächlich, die gilets verts. In den sozialen Medien zirkuliert nicht nur die Forderung nach sinkenden Ölpreisen und mehr Kaufkraft, sondern nach einem gemeinsamen Engagement für:

  • die Entwicklung der öffentlichen Transportmittel,
  • die Wiederaufnahme der kleineren Zugstrecken,
  • das Schaffen von Radwegen,
  • die Reduzierung des Ausbaus von Autobahnen, Flug- und Schiffslinien,
  • das Verbieten des weiteren Abbaus fossiler Ressourcen,
  • das Wiederbeleben der Dörfer und
  • die Nutzung der in den Steuerparadiesen angelegten Milliarden für den Umweltschutz.

Im Land der großen Revolution mangelt es nicht an Ideen. Seit dem 15. November kann man sich mit bisher 100.000 anderen Menschen einer gezielten einmonatigen Aktion für das Klima anschließen: https://onestpret.fr. Einer anderen Bewegung, in der sich über 40 Initiativen zusammengeschlossen haben, kann man jederzeit beitreten und ganz konkrete Maßnahmen für den Schutz der Umwelt ergreifen: https://ilestencoretemps.fr.

Am 23. November gibt es mit dem Green Friday, eine Antwort auf den Black Friday, bei dem die großen Geschäfte ihre Waren verschleudern: https://www.greenfriday.fr. Und am 8. Dezember kann man in ganz Frankreich in jeder größeren Stadt an der Marche pour le Climat teilnehmen. Die Initiative wurde nach dem Abgang des Umweltministers Nicolas Hulot von einer einzigen Person ins Leben gerufen.