Exil in Tansania
Die Lebensumstände in dem ostafrikanischen Land sind in vielfacher Hinsicht härter als in Deutschland, doch das ungleich höhere Maß an Freiheit macht dies allemal wett.
Vor mehr als acht Monaten machte sich der Autor auf nach Tansania mit dem Ziel, auszuwandern. Dieser Bericht zeigt zum einen die persönlichen Eindrücke des Autors aus dem Land und gibt zum anderen Einblicke, welchen Weg sein persönliches Auswanderungsvorhaben genommen hat. In kurzen, ausgewählten Geschichten erzählt er über seine Erlebnisse, Wahrnehmungen sowie das Zusammenleben mit der einheimischen Bevölkerung.
Hinweis vorab: Zum Schutz der Identität wurden die Namen aller in diesem Bericht vorkommenden Beteiligten geändert.
Wie viele andere zog es auch mich im Sommer 2022 aus Deutschland weg nach Tansania, genauer gesagt nach Sansibar. Bis zum finalen Entschluss hatten die Überlegungen mehr als eineinhalb Jahre in mir gearbeitet. Entscheidend dafür, diesen Schritt zu wagen, waren letztlich zwei Punkte: Der Hauptgrund war Corona beziehungsweise der politische und gesellschaftliche Umgang damit. Ich vermutete unter anderem, auch wenn die Einführung der COVID-19-Impfpflicht im Frühjahr 2022 vermeintlich gescheitert war, dass im Herbst ein Wiederaufflammen der Debatte stattfinden würde. Ich traute dem „Frieden“ damals nicht.
Den Zustand innerhalb der Gesellschaft empfand ich auch schon vor 2020 als angespannt, gespalten und mitunter sogar als feindselig. Jedoch hatte mit Pandemiebeginn eine Dynamik eingesetzt, die diese Tendenzen teils bis ins Extrem verstärkt hat. In diesem Zustand kam mir die Gesellschaft am Ende furchtbar zerrüttet vor. Dass sich daran bald etwas ändern würde, sah ich nicht.
Vielmehr hatte ich das Gefühl, dass politische Willkür und Gewalt sowie gesellschaftliche Ausgrenzung und Anfeindung ohne eine konsequente, schonungslose Aufarbeitung wie immer unter den Teppich gekehrt werden würden, wodurch dieses fatale, gesellschaftsfeindliche Verhalten bei jeder neuen „Ausnahmesituation“ jederzeit wieder neu erwachen kann.
Und mit Blick auf zukünftig relevante Themen bekam ich vor einem Leben in Europa und besonders in Deutschland Angst. Die Liste dieser Themen ist lang: die technische und digitale Verschmelzung des Lebens, der vollständige Verlust von Privatsphäre, mögliche Grundrechtseinschränkungen zum Klimaschutz, die offenbar gewollte Zerstörung des Industriestandorts Deutschland und ein daraus resultierendes Herabsenken des Lebensstandards, ein neuer Kalter Krieg und — damals habe ich noch nicht daran geglaubt — die reale Gefahr eines erneuten militärischen Konflikts zwischen NATO und Russland auf europäischem Boden.
Der zweite Grund war eine seit Jahren immense, jedoch nicht greifbare Sehnsucht nach Afrika. Diese beschränkte sich nicht auf ein bestimmtes Land oder eine bestimmte Kultur. Daher passte es, dass John Magufuli, damaliger Präsident Tansanias, im Sommer 2020 die Pandemie im Land für beendet erklärt und sämtliche Maßnahmen aufgehoben hatte. So wurde Tansania für mich zu einer Art Notfallplan. Und da zunehmend Menschen dorthin abwanderten, gab es immer mehr Erfahrungsberichte über die dortige Situation sowie das Leben. Auch Freunde aus der Heimat zog es nach Sansibar, deren Gegenwart mir die letzte Sicherheit gab, um das Abenteuer zu wagen. Mittlerweile dürfte sich auf Sansibar vermutlich eine der größten deutschsprachigen Communitys in ganz Afrika gebildet haben.
Wie Said einen Mzungu im Busch fand
In meinen ersten Wochen auf Sansibar erkundete ich die Umgebung häufig zu Fuß. Ich wanderte über die felsigen Korallensteine durch den Busch und hoffte, auf irgendetwas Interessantes wie einen schönen Platz in der Natur oder unbekannte Tiere zu stoßen. Als ich eines Tages das rund zehn Kilometer entfernte Nachbardorf Mtende besuchen wollte, an dessen Küste ein besonders schöner Strand liegen sollte, machte ich mich ebenso zu Fuß auf den Weg. Damals dachte ich noch recht naiv, dass es dorthin schon eine Straße oder zumindest irgendeinen Pfad geben würde. Nach den ersten Kilometern stand ich jedoch mitten im Busch und schaute fragend auf mein Smartphone. Von meinem eigentlichen Ziel war ich noch weit entfernt und hatte obendrein keine Ahnung mehr, wo ich mich befand.
Schließlich hielt ein vorbeikommender Radfahrer an und fragte, wohin ich wollte. Als ich ihm sagte, dass ich nach Mtende wolle, guckte er überrascht und schmunzelte. Mit viel Mühe überzeugte mich Said, wie ich ihn hier nenne, nicht weiterzugehen, da ich durch den Busch niemals ankommen würde. Mtende wäre zu Fuß ohnehin viel zu weit. Er werde mich wieder zurückbringen, sagte er. Was er auch pflichtbewusst tat, aber erst, nachdem er mich rund zwei Stunden umhergeführt hatte. Er zeigte mir seine kleine Farm, sein Zuhause sowie seine gesamte Nachbarschaft, bis wir schließlich an der Hauptstraße waren, von der aus ich meinen Heimweg kannte. Eine Woche später verlief ich mich an fast demselben Ort erneut. Ein Freund Saids, der uns die Woche zuvor zusammen gesehen haben musste, hatte mich erkannt und gebeten, auf Said zu warten. Wie er mir deutlich machte, hatte er ihn bereits informiert. Dass ich mich direkt vor seinem Haus befand, das er mir bei seiner Führung gezeigt hatte, wurde mir erst einige Wochen später klar.
Fünf Minuten später traf Said auch sogleich ein, schaute mich wieder schmunzelnd an und fragte: „Lost again?“ Er beschloss daraufhin kurzerhand, sich von seinen Freunden ein Fahrrad für mich zu leihen, seine jüngste Tochter auf den Gepäckträger zu setzen und mit mir nach Mtende zu radeln. Aus diesen beiden zufälligen Begegnungen sollte sich anschließend eine enge Freundschaft entwickeln.
Das böse, gefährliche Afrika
Die meisten Tansanier wissen über Deutschland im Grunde genauso viel wie die meisten Deutschen über Tansania: wenig. Mehrmals kam es vor, dass, wenn ich sagte, dass ich aus Deutschland komme, meine Gesprächspartner fragten, welche Sprache in Deutschland gesprochen wird. Die meisten glaubten, dass es Englisch sei. Ebenso verwechselten einige auch Deutschland mit Großbritannien.
Ein paar grundlegende Dinge waren mir zwar schon über das Land bekannt, bevor Tansania 2020 das erste Mal in meinen Gedanken aufploppte, nichtsdestotrotz hatte ich meine Vorurteile — gar nicht unbedingt über Tansania, sondern eher über den Kontinent als solchen.
Obwohl mich Afrika seit vielen Jahren faszinierte und anzog, hatte ich mich zuvor nie dorthin gewagt. Zu groß war der Respekt vor dem „bösen und gefährlichen Afrika“. Schreckliche Armut, verhungernde Kinder, tödliche Krankheiten, katastrophale Lebensbedingungen, Militärputsche oder Bürgerkriege — in der Regel wird nicht viel anderes über Afrika berichtet.
Davon, dass nicht jedes Land betroffen ist und es viele Gebiete und Länder gibt, in denen das Leben ruhig und friedlich verläuft, hört man dagegen selten etwas. Schließlich ist Afrika riesengroß und umfasst fast ein Viertel der gesamten Landmasse der Erde.
Auch in meinem Bekanntenkreis sind einige bis heute in diesen Vorurteilen gefangen. So sprach ich vor einigen Monaten mit einem guten Freund, der ebenso gerne reist wie ich. Er sagte: „Nach Afrika würde ich mich nie trauen. Das ist eine Nummer zu groß für mich.“ Und ein bekannter Hotelmanager, der sich schon seit Längerem auf Sansibar befindet, verriet mir unter vier Augen: „Vor vielen Jahren unternahm ich eine große Weltreise und bin fast überall gewesen. Nur Afrika habe ich bewusst ausgelassen. Zu groß ist damals meine Voreingenommenheit und Angst gewesen.“
Über den gesamten Kontinent kann ich freilich kein Urteil fällen. Über Tansania lässt sich aber sagen, dass ich in über sieben Monaten immer das Gefühl hatte, hier absolut sicher zu sein. Die Gesellschaft ist überaus tolerant, und die Menschen sind im Wesentlichen sehr friedlich, lebensfroh und offen.
Weder wurde bei mir eingebrochen noch wurde ich überfallen, bedroht oder angegriffen. Sowohl am Tag als auch in der Nacht habe ich mich frei bewegt, mich aber auch im Vorfeld informiert, welche Orte ich zu welcher Zeit meiden sollte; das gehört eben mit dazu.
Na gut, fast immer habe ich mich informiert. Eine Geschichte gibt es dann doch, die ich aber nicht als klassischen Überfall bezeichnen würde, sondern eher als mildere Form der „Schutzgelderpressung“:
Ende letzten Jahres fuhr ich mit einer einheimischen Freundin namens Grace zum Strand „Coco Beach“ in Dar es Salaam. Den Nachmittag verbrachten wir direkt daneben auf einem kleinen Felsplateau, auf dem sich jede Menge Leute befanden. Als gegen 18:30 Uhr die Dämmerung einsetzte, leerte sich das Plateau jedoch schlagartig, sodass nur noch Grace und ich sowie zwei andere Personen übrig waren. Eine halbe Stunde später tauchten plötzlich zwei Polizisten mit gezückten Handschellen aus der Dunkelheit auf und sagten, dass es verboten sei, sich auf diesem Platz im Dunkeln aufzuhalten. Daher müssten sie uns nun in Gewahrsam nehmen — die Nacht sollten wir auf der Polizeistation verbringen.
Ein Schild, das auf dieses Verbot hinwies, gab es natürlich nicht. Es wurde anschließend viel auf Kiswahili hin- und herdiskutiert — einer der Polizisten spielte offenkundig den „guten Cop“, der andere den „bösen“. Mehrfach flehte Grace die Polizisten an, uns gehen zu lassen, da wir beide nicht aus der Stadt wären und das Verbot daher nicht kannten. Als dann jedoch einer der beiden anderen Personen sogar die Handschellen angelegt wurden, bekam auch ich ein ungutes Gefühl und schaltete mich in die Diskussion ein. Tatsächlich sah es aber so aus, dass die Polizisten unnachgiebig bleiben und wir die Nacht auf der Wache verbringen würden. Als ich ein letztes Mal fragte, ob das wirklich nötig sei, sagten sie, dass wir für 30.000 Schilling (umgerechnet etwa 12 Euro) gehen könnten. Ich zahlte und wir verließen das Plateau. Ob es dieses Verbot tatsächlich gab, ist unklar. Jedoch dürfte es nicht unwahrscheinlich sein, dass dieses Vorgehen für die Polizisten einen generellen Zusatzverdienst darstellt.
Ngoma ya kupungwa — das „traditionelle Tanzen“
„Morgen gibt es in Mtende ein traditionelles Tanzen — ngoma ya kupungwa. Hast du Lust hinzufahren?“, fragte mich Said an einem Samstag im Frühherbst. Häufig mussten wir für unsere Kommunikation auf Translator-Apps zurückgreifen, da sein Englisch und mein Kiswahili sehr begrenzt waren. Dadurch verliefen unsere Gespräche zwar nie vollkommen akkurat, trotzdem verstanden wir uns. Grundsätzlich muss man froh sein, wenn man außerhalb der Tourismusorte und großen Städte auf Menschen trifft, die Englisch sprechen. Denn obwohl Englisch neben Kiswahili Amtssprache ist, ist es nicht selbstverständlich, dass die Sprache auch von jedem ausreichend beherrscht wird.
Der Festplatz, der versteckt im Wald lag, war mit Stöcken und Seilen eingezäunt. Ringsum standen viele Schaulustige jeglichen Alters und beobachteten das bunte Treiben. Es wurde traditionelle Musik gespielt, und die Menschen im eingezäunten Gelände tanzten tatsächlich — einige ruhiger in wiederkehrender Choreografie, andere dagegen ziemlich wild. Ich würde nicht sagen, dass es mich überraschte, jedoch war ich mit meinen Erwartungen vorsichtig, da gewisse Ungenauigkeiten in Saids und meiner Kommunikation nicht ungewöhnlich waren. Die Frauen trugen wie immer farbenprächtige Gewänder und Hijab und viele der Männer lange Jeans und ein Fußballtrikot, unter anderem von Liverpool, Manchester United oder auch Arsenal. Grundsätzlich bilden diese Kombinationen, sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern, die tägliche „Garderobe“, egal ob Hochzeit, Beerdigung, Geburtstag, Trauerfeier oder „traditionelles Tanzen“.
Ein paar der Tanzenden trugen auch Uniformen und Gewehre oder hielten angezündete Zigaretten und leere Bierflaschen in den Händen, was im muslimischen Sansibar eher selten bis nie zu sehen ist. Als ich Said darauf fragte, was das Tanzen und die Symbole bedeuteten, verstand ich schließlich, was ngoma ya kupungwa eigentlich war.
Said erklärte mir, dass die gesamte Veranstaltung normalerweise von einer Familie durchgeführt wird, um jemanden von einer Krankheit zu heilen. Gibt es offiziell keine genaue Diagnose, was nicht selten vorkommt, oder hilft kein Medikament, wird auf traditionelle Medizin und Heilmethoden zurückgegriffen. Das Tanzen soll den Kranken von bösen Geistern und dem Teufel befreien, die ihn krank gemacht haben. Waffen, Zigaretten und Alkohol symbolisieren den Teufel, da dieser all diesen Dingen innewohnen kann. In diesem Sinn würde statt des Begriffs „traditionelles Tanzen“ Exorzismus wohl besser passen. Ich habe jedoch bei dem Geschehen kein Unbehagen empfunden, das der Begriff Exorzismus bei uns ja schnell auslösen kann. Viel eher hatte es den Charakter eines Dorffestes. Kinder liefen laut spielend umher, ein Eisverkäufer drehte seine Runden um das Gelände, und die Erwachsenen beobachteten interessiert das Schauspiel, unterhielten sich miteinander oder tanzten gelegentlich sogar mit.
Insgesamt war ich auf mehreren solcher „Exorzismen“, die kranke Person habe ich aber nie bewusst wahrgenommen. Jedoch stand auf dem abgezäunten Gelände jedes Mal auch ein kleines buntes Zelt, in das ich aber nie hineingucken konnte. Daher konnte ich nur erahnen, wer oder was sich darin verbergen würde. Ich vermutete, dass sich dort entweder der Kranke selbst oder womöglich ein Priester befinden würde. Da ich aber stets vergaß zu fragen, habe ich es bis heute nicht herausgefunden. Gegen Ende der Veranstaltung, die in der Nacht um 24 Uhr begann und am Nachmittag um 15 Uhr endete, setzte jedoch plötzlich eine neue Dynamik ein. Die bis dahin relativ gleichmäßige Musik wurde lauter und schneller, ebenso die Bewegungen der Menschen. Manche Tänzer kamen mir vor, als hätten sie sich in Trance getanzt. Mit geschlossenen Augen schüttelten sich einige wild, andere warfen sich sogar auf den staubigen Boden, rollten umher und brachen obendrein mitunter in Tränen aus. Nachdem die Musik vorbei war und sich nach einiger Zeit die Gemüter beruhigt hatten, wurde der Festplatz prompt wieder abgebaut, woraufhin sich die Menschen in ihrer sansibarischen Gelassenheit gemütlich auf den Heimweg begaben.
Auf dem Festland
Neben mehreren Besuchen der Metropole Dar es Salaam unternahm ich auch eine rund einmonatige Reise auf das tansanische Festland. Der Start war eine zweitägige Zugfahrt von Dar es Salaam nach Mwanza am Viktoriasee, der zweitgrößten Stadt des Landes. Zwar bin ich in meinem Leben schon deutlich komfortabler gereist, ein einmaliges Erlebnis war es aber dennoch. Die Schlafkabine teilte ich mir mit fünf anderen Fahrgästen, darunter auch ein stuckiger Psychologiestudent namens Joshua, der stets einen dünnen Schal als Modeaccessoire sowie einen Fächer gegen die Hitze trug und ohne den ich mein Zugticket wohl nicht bekommen hätte. Zu chaotisch und zu undurchsichtig war der Verkaufsablauf, der ausschließlich einen Tag vor der Abfahrt für Hunderte von Passagieren gleichzeitig ablief. Joshua hatte für mich übersetzt und den unübersichtlichen Zahlungsvorgang gemanagt.
Während der Zug mit seiner gewaltigen Federung über die Schienen hüpfte, konnte ich sehr viel vom Landesinneren beobachten. Wilde Tiere sah ich leider nicht, jedoch eine Landschaft, die umso karger und trockener wurde, je weiter wir Richtung Nordwesten fuhren. In unserer Kabine unterhielten wir uns neben allgemeinen Themen auch über Politik und Gesellschaft.
Dabei überraschte Joshua plötzlich mit einem unerwarteten Standpunkt: „Wir Tansanier glauben, dass ihr Weißen besser seid als wir. Bei euch funktioniert alles, bei uns nichts. Wir glauben, dass wir es einfach nicht so gut drauf haben wie ihr.“ Von seiner Ehrlichkeit überrumpelt wusste ich erst nicht, was ich darauf sagen sollte.
Nach einer kurzen Pause fragte ich dann, wie er darauf käme. „Es ist einfach so“, antwortete er und lächelte.
In einem Restaurant direkt am Ufer des Viktoriasees traf ich Francis, eine Person, die zu den parteipolitischen Unterstützern während Magufulis Wahlkampagne zählte. Ich hoffte, ein paar Informationen aus erster Hand zu dem beliebten Politiker sowie zu seinen ungeklärten Todesumständen im Frühjahr 2021 zu erhalten. Sagten damals noch anfängliche Gerüchte, er sei an Corona gestorben, lautete schließlich die offizielle Todesursache Herzversagen — ähnlich wie auch bei anderen in der Coronazeit verstorbenen afrikanischen Präsidenten und hochrangigen Politikern (1). Nach Francis‘ Einschätzung sei ein Tod durch Herzversagen aber auszuschließen: „Wir glauben, dass er ermordet wurde. In jedem Land würde es eine riesige Aufklärungskampagne geben, wenn der Staatspräsident plötzlich verstirbt, nachdem er mehrere Wochen lang nicht mehr gesehen wurde. Seine Nachfolgeregierung verweigert dies jedoch.“
Nach einem Zwischenstopp in Arusha südlich des Kilimandscharo, wo ich mich morgens ohne Pullover nicht draußen aufhalten konnte, war meine letzte Station Tanga, ein kleines Städtchen an Tansanias Nordostküste. Die Gelassenheit der Menschen erinnerte mich ein wenig an Sansibar; dazu war auch die religiöse Durchmischung deutlich größer. Allzu viel gab es dort nicht zu sehen. Mein Highlight war der Besuch des Historischen Museums, welches sich in einem während der deutschen Kolonialzeit errichteten Gebäude befand. Wie ich dem Anmeldebuch entnehmen konnte, war ich in den vergangenen drei Tagen der einzige Besucher gewesen. Als alleiniger Gast bekam ich auch eine private Führung, welche ich wohl so schnell nicht vergessen werde. Mein Tourguide besaß nämlich eine außergewöhnliche sprachliche Besonderheit: Zum einen war das Englisch der jungen Frau nicht das allerbeste, hinzu kam ein ausgeprägter Swahilidialekt, ein starkes Lispeln sowie ein L-R-Dreher. Letzteres ist in Tansania nicht ungewöhnlich, für mich in dieser Kombination war es jedoch einzigartig. Ich ließ mir also das Gebäude zeigen und betrachtete die historischen Bilder an den Wänden, ohne jedoch viel von ihren Erklärungen verstanden zu haben.
The Village — das Dorf
Makunduchi ist schon etwas besonders. Fast an der Südspitze Sansibars gelegen, kommt es einem schnell wie das Ende der Welt vor. Am Strand, der rund einen Kilometer vom eigentlichen Dorf entfernt ist, stehen zwar einige wenige Hotels; kein Vergleich jedoch zu Paje und Jambiani, die großen und trubeligen Tourismusorte des Südostens, die rund 15 Kilometer entfernt liegen. Das Schöne und Besondere an Makunduchi ist, dass es noch die Purheit eines echten Sansibar-Dorfes besitzt und es keinen Tourismus gibt: keine Hotels, keine schicken Restaurants und so gut wie keine weißen Ausländer.
Daher war mein erster Spaziergang ins Dorf vom Strandbereich aus, wo ich anfangs lebte, wie das Eintauchen in eine andere Welt. Ich nahm einen der vielen unbekannten Wege durch den Busch und passierte aufgeregt und unsicher, aber auch neugierig die ersten kleinen Häuser, entweder aus rotem Lehm oder aus Stein gebaut. Die Steinhäuser sahen mitunter eher wie Rohbauten aus, jedoch lebten ganze Familien darin. Ich hatte keine Ahnung, wo dieser Weg hinführen und wo ich ankommen würde.
Meine ersten Gedanken waren, dass sich in diesen Teil des Dorfes bestimmt nicht allzu oft ein Tourist verirren würde. Auch die Blicke der Dorfbewohner interpretierte ich so: Einerseits wirkten diese überaus skeptisch, manchmal sogar ablehnend, andererseits aber auch sehr interessiert und freundlich. Die Kinder schrien mir von allen Seiten aus „Jambo“ zu und fragten nach Geld, was ich aber nicht verstand. Denn dass ihr „man“ eigentlich „money“ bedeutet, wusste ich damals noch nicht. Insgesamt war es ein sehr spannender erster Eindruck, und ich hatte zum ersten Mal das Gefühl — allein, mitten in diesem ursprünglichen Sansibar-Dorf —, dass ich nun das „echte Afrika“ gesehen hatte.
Wohnen im Village
Nach meinem ersten Besuch sollten noch viele weitere folgen. Dank der Freundschaft mit meinem Fahrradhelfer Said hatte ich regelmäßig einen Grund, hoch nach Makunduchi zu radeln. Wir verbrachten Zeit auf seiner Farm, mit seiner Familie sowie mit seiner Mannschaft auf dem Fußballplatz. Die Tansanier und Sansibaris sind nämlich nicht weniger fußballverrückt als die Deutschen. Und nachdem ich das erste Mal mitgekickt hatte, wurde ich schnell zu einem festen Bestandteil des Teams.
Dieses ursprüngliche Dorfleben stellte für mich jedes Mal aufs Neue einen gewaltigen Kontrast zu dem Leben mit mehr westlichem Standard in den Touristenorten dar. Mich zog dieser Kontrast zunehmend an, und je vertrauter ich mit dem Dorf und den Menschen wurde, desto größer wurde mein Wunsch, das Leben im Dorf selbst auszuprobieren.
Mit der Hilfe einheimischer Bekannter fand ich schließlich ein passendes Häuschen, in welches ich kurz vor Silvester einzog. Das Haus bestand aus zwei Wohneinheiten, in denen außer mir noch der Sohn der Eigentümer wohnte. Die Wohnungen besaßen jeweils separate Eingänge und waren durch einen offenen Hof voneinander getrennt und zugleich miteinander verbunden.
So ein klassisches Local-Haus ist für gewöhnlich eine karge Angelegenheit und entspricht nicht im Entferntesten deutschem Niveau. Die ganz klassische Bauweise besteht aus einem Holzgerüst, dessen Wände mit roter Lehmerde gefüllt werden, und einem Strohdach aus getrockneten Palmenblättern. Diejenigen, die es sich leisten können, bauen ihre Häuser inzwischen aus Stein und Zement, das Dach besteht aus Wellblech oder Aluminium. Mit gefliestem Boden, auch im Badezimmer, sowie farbigen Wänden in grellem Orange und Violett entsprach mein Bereich sehr gehobenem Standard im Dorf — zuvor hatte ich auch Häuser besichtigt, deren Wände und Böden ausschließlich aus dunkelgrauem Beton bestanden. Geflieste Böden habe ich jedoch so gut wie nie gesehen. Nichtsdestotrotz reduzierte sich mein bisheriger Komfort drastisch. Dass ich von nun an eine Hocktoilette benutzen und mit Eimer und Schöpfkelle duschen musste, störte mich weniger. Viel stärker waren die Beschneidungen in der nicht vorhandenen Küche — ich aß somit immer auswärts oder wurde auch mal von Freunden aus dem Dorf eingeladen —, keiner möglichen Nutzung einer Waschmaschine sowie der eingeschränkten Verfügbarkeit von fließendem Wasser zu spüren.
Da nicht genug Trinkwasser für gesamt Makunduchi vorhanden ist, wird das Wasser jeweils für verschiedene Ortsteile ab- und für andere freigeschaltet: Bei uns gab es in der Regel nur jeden dritten Tag zwischen 5 Uhr morgens und 10 Uhr vormittags fließendes Wasser. Der einzige Wasseranschluss in meiner Wohnung befand sich im Badezimmer. Wenn das Wasser also verfügbar war, war die erste Tagesaufgabe, sämtliche vorhandenen Behälter mit Wasser zu befüllen, um über die nächsten Tage zu kommen. Im offenen Hof befand sich dazu noch ein großes Wasserbecken aus Beton, das ebenso vollgemacht wurde.
Aber auch daran gewöhnte ich mich mit der Zeit. Ich wusste ja zuvor, worauf ich mich eingelassen hatte. Grundsätzlich gewöhnte ich mich recht zeitnah an nahezu alles — nicht nur an das Leben im Dorf, sondern an die komplett neue Realität.
In einem Gespräch mit einer Freundin aus Deutschland bemerkte ich dies zum ersten Mal. Es war absolut normal für mich geworden, auf einer tropischen Insel im Indischen Ozean, über 7.000 Kilometer von Deutschland entfernt sowie in einer mir komplett unbekannten Umgebung mitten in Afrika zu leben. „Die halbe Welt reist nach Sansibar, um dort Urlaub zu machen und du lebst jetzt dort“, brachte sie es einmal in einem Telefonat auf den Punkt. Der normale Alltag wurde irgendwann zur Normalität. Und das Gefühl des Fremdseins, das zu Beginn noch sehr präsent war, reduzierte sich mit den Monaten — wenn auch nicht vollständig.
Integration
So aufregend und interessant das Leben im Dorf auch war, so bekam ich nicht selten das Gefühl, dort isoliert zu sein. Dies lag tatsächlich weniger an den Unterschieden in Religion, Kultur und Mentalität, sondern eher an der großen Sprachbarriere. Zwar hatte ich im Laufe der Zeit etwas Kiswahili gelernt, für eine echte Unterhaltung reichte es aber bei Weitem nicht aus. Zudem haben auch die Dorfbewohner ihren gewohnten Alltag sowie ihre Struktur, Familie und Freunde. Aus diesem Grund ging meine Integration eher schleppend voran und stieß auch an ihre Grenzen.
Den Aufwand und die Mühsamkeit, eine komplett neue Sprache zu lernen, hatte ich ziemlich unter- und mich selbst obendrein wohl auch überschätzt. Ich dachte, dass der Lernprozess automatischer vonstattengehen würde, doch dieses passive Lernen funktionierte letztlich nicht so gut. Daher weiß ich nun: Will man eine neue Sprache lernen, heißt es „pauken, pauken, pauken“. In diesem Sinne habe ich zum ersten Mal am eigenen Leib erfahren, dass Integration vorrangig über die Sprache läuft.
Es geht weiter
Wie bereits erwähnt, hat die Entscheidung, Deutschland zu verlassen und nach Tansania auszuwandern, mehr als eineinhalb Jahre in mir gearbeitet. Als der Entschluss dann jedoch feststand und die inneren Blockaden überwunden waren, war das Gehen letzten Endes leicht. Die Wohnung wurde aufgelöst, für besondere Habseligkeiten musste eine geeignete Lagerstätte gefunden werden, und der Rest wurde verkauft oder verschenkt.
Das tatsächliche Auswandern, also das offizielle Einwandern nach Tansania, gestaltete sich aber als schwierig. Zwar hatte ich im Vorfeld davon gehört, dass Tansanias Einwanderungspolitik überaus streng wäre, jedoch dachte ich, dass ich schon zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, sich für mich irgendeine Tür öffnen oder mir ein Geistesblitz für eine passende Geschäftsidee kommen würde.
Um es kurz zu machen: Meine naiven Wunschvorstellungen wurden bald mit der Realität konfrontiert, sodass nichts davon eintrat. Eine passende Geschäftsidee, die ich mit meinen finanziellen Möglichkeiten hätte umsetzen können, kam mir nicht, in Hotels wollte ich nicht arbeiten und eine hochspezialisierte Qualifikation besaß ich auch nicht. Somit gab es, wie für viele andere Auswanderungswillige, die nach Sansibar und Tansania kommen, auch für mich keine nachhaltige Perspektive. Aus diesem Grund habe ich meine Zelte mittlerweile wieder abgebrochen, Sansibar verlassen und bin innerhalb Afrikas weitergezogen. Dass der ursprüngliche Plan des Einwanderns nicht funktioniert hat, sehe ich heute nicht so tragisch.
Ich hatte am Ende auch das Gefühl, dass es Zeit war, zu gehen. Schließlich gab es auch Dinge, mit denen ich nicht so richtig warm geworden war. Dazu zählen unter anderem die recht einseitige einheimische Küche, das unattraktive Erscheinungsbild der Städte sowie die wenig anziehende Natur, die ich häufig als zu karg, trocken und abwechslungslos empfunden habe. Manchmal sehnte ich mich sehr nach dem deutschen Wald zurück.
Nichtsdestotrotz habe ich es als wertvoll und notwendig empfunden, das System Deutschland verlassen zu haben, um die Schwere der vorangegangenen zweieinhalb Jahre abzuschütteln und mich davon frei zu machen. „Frei“ ist in Bezug auf Afrika sowieso eines der passendsten Worte:
Das Gefühl von Freiheit empfand ich in Tansania um ein Vielfaches stärker als in Deutschland. Auch wenn die Lebensumstände für viele Menschen unglaublich hart und anstrengend sind, scheinen sie trotzdem mit einer größeren Leichtigkeit zu leben.
Die vorhandenen Probleme werden von den Leuten anders angenommen und nicht noch durch zusätzliches Drama weiter verstärkt. Diese Leichtigkeit der Tansanier und Sansibaris ist mir in meiner Zeit zum Vorbild geworden — schon allein dafür hat sich die Reise gelohnt!
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Artikel erschien zuerst unter dem Titel „Fazit Tansania — ein Erlebnisbericht“ auf apolut.net.
Quellen und Anmerkungen: