Europa rüstet auf
Trotz der Kriegsrhetorik von Spitzenpolitikern hat Europa ein Problem: Mit der Kampfbereitschaft der Bevölkerung hapert es noch arg.
Die NATO-Europäer fürchten Russland und Donald Trump. Gegen Russland soll die Aufrüstung helfen. Aber das Geld ist knapp. Zudem ist die europäische Rüstungsindustrie im Gegensatz zur russischen teuer und zersplittert. Wie will Europa kriegstüchtig werden?
Kriegsentscheidend
Kriege werden gewonnen durch überlegene Waffen oder durch hohe Opferbereitschaft einer der beiden kämpfenden Parteien. Während des Zweiten Weltkriegs war die Sowjetunion den faschistischen Invasoren waffentechnisch weit unterlegen. Dasselbe galt für den Vietcong im Vietnamkrieg. Beide machten diese technologische Unterlegenheit wett durch eine große Opferbereitschaft ihrer Völker, denn diese wussten, was für sie auf dem Spiel stand. Dementsprechend hoch waren die Opfer an Menschenleben.
Die Sowjetunion verlor über 20 Millionen Bürger, Vietnam hatte mehr als 2 Millionen Tote zu beklagen. Dennoch trugen beide den Sieg davon über einen wirtschaftlich und technisch überlegenen Gegner. Gestützt durch den politischen Westen konnte Israel trotz seiner verhältnismäßig geringen Bevölkerung, aber aufgrund seiner wirtschaftlichen und technischen Überlegenheit die arabische Welt in Schach halten. Doch im aktuellen Konflikt mit der palästinensischen Bevölkerung reicht diese technische Überlegenheit nicht mehr aus. Seit fast einem Jahr gelingt es Israel nicht, den Widerstand in den Palästinensergebieten zu brechen.
Im Krieg in der Ukraine ist Russland im Vorteil wegen seines hohen technischen Niveaus. Die Opferbereitschaft auf beiden Seiten der Front unterschied sich zu Beginn des Krieges kaum. Sie schwand in der Ukraine erst seit der inzwischen gescheiterten Gegenoffensive.
Dagegen sieht sich der politische Westen aufgrund der mangelnden Kampfbereitschaft seiner Völker nicht in der Lage, einen konventionellen Krieg gegen Russland zu führen. Ausgerechnet Militärs warnen vor einem solchen Abenteuer.
Diese kritisieren einen erheblichen Mangel an Ausrüstung und Kapazitäten der Waffenproduktion in Europa. Die europäischen Waffenhersteller verfügen kaum über kriegsentscheidende Größen. Das liegt zum einen am Mangel an finanziellen Mitteln für eine Aufrüstung im gewünschten Maße, die auch nicht zu deutlich spürbar zulasten der sozialen Verpflichtungen gehen darf. Zum anderen ist die europäische Waffenherstellung immer noch sehr stark national zerteilt und vor allem im Gegensatz zu China und Russland weitestgehend in privaten Händen.
Das bedeutet, dass sich die Herstellung von Waffen und die Investition in neue Produktionskapazitäten für die Eigentümer der Waffenschmieden rechnen muss, sonst produzieren und investieren sie nicht. Vaterlandsliebe ist für sie keine Entscheidungsgrundlage. Es sind die Soldaten, denen man den Fleischwolf des Krieges schmackhaft machen will mit dem Kampf für Höheres. Sie sollen ihr Leben riskieren für Vaterland und Werte. Die Waffenschmieden hingegen ziehen Dollar und Euro als Werte vor.
Rendite, Rendite, Rendite
Damit Rüstungsunternehmen mehr produzieren und in zusätzliche Produktionsstätten investieren, erwarten sie vom Staat Abnahmegarantien beziehungsweise Subventionen für die Entwicklung neuer Waffensysteme. Vorher läuft da nichts. Die weitgehend nationalstaatlich organisierte Rüstungsproduktion in Europa ermöglichte bisher nur kleine Produktionsmengen, weil jeder Staat bei der Ausstattung der eigenen Armee die Produkte der eigenen Rüstungsschmieden bevorzugte.
Bei Ausbruch des Ukrainekrieges zeigte diese national beschränkte Rüstungspolitik in Europa ihre Schwächen, als sich der Bedarf an militärischer Ausrüstung erhöhte.
„Weil europäische Kapazitäten begrenzt sind, deckten viele Mitgliedsstaaten ihren unmittelbaren Bedarf in den Vereinigten Staaten, Südkorea und anderen Staaten“ (1).
Immer wieder waren Versuche, europäische Rüstungsunternehmen zusammenzuschließen, am Gerangel über die Aufteilung eines umfangreicheren Rüstungsprojekte unter den beteiligten Unternehmen und Staaten gescheitert. Aus diesem Grund war unlängst der geplante Zusammenschluss zwischen dem Leopard-Hersteller KNDS, einer Fusion zwischen der deutschen Kraus-Maffei-Wegmann (KMW) und dem französischen Waffenhersteller Nexter, mit der italienischen Leonardo-Gruppe geplatzt. Trotz der Vermittlungsversuche der nationalen Regierungen misslang die Einigung über die Aufteilung der Produktion.
Die Italiener forderten einen höheren Anteil am Produktionswert, was nichts anderes bedeutet als mehr Gewinn. An den Renditeerwartungen findet jedes staatliche Rüstungsprogramm seine Grenzen. Das ist der Nachteil einer privatwirtschaftlichen Rüstungsindustrie. Wenn die Rendite nicht stimmt, sind westliche Werte, der Schutz des Vaterlandes und selbst die russische Bedrohung bedeutungslos. An oberster Stelle steht für Besitzer und Aktionäre der Ertrag des Unternehmens, alles andere kommt erst danach. Das ist der entscheidende Nachteil der westlichen Rüstungsproduktion gegenüber russischer und chinesischer.
Diese sind nicht auf Rendite ausgerichtet, was bedeutet, dass nicht die finanziellen Interessen von Besitzern und Kapitalgebern in der Preisfindung für die Waffen bedient werden müssen. Deshalb ist deren Produktion günstiger und vor allem ergiebiger. Für 200.000 Granaten im NATO-Standard-Kaliber 155 Millimeter musste die Bundesrepublik zuletzt über 6.500 Euro pro Stück zahlen, zuzüglich weiterer Kosten, bis die Geschosse einsatzfähig sind.
„Im Vergleich dazu betragen die Durchschnittskosten für eine russische 152-mm-Granate etwa 1.000 US-Dollar (2).
Das bedeutet, dass zu vergleichbaren Kosten Russland mindestens siebenmal so viele Granaten herstellen kann. Dieser Vorteil kann selbst durch eventuell fortschrittlichere westliche Produktionsanlagen nicht so schnell wettgemacht werden. Und besonders im Ukrainekrieg hat sich der strategische Vorteil der Artillerie erneut gezeigt.
Europäische Lösungsversuche
Auf diesen strategisch bedeutsamen Produktions- und Kostennachteil reagieren die Europäer mit dem Versuch, die europäische Rüstungsindustrie gesamteuropäischer aufzustellen. Die Kleinstaaterei im Bereich der Waffenproduktion soll aufgelöst werden durch Schaffung großer übernationaler Rüstungsprojekte. Man will „der Zersplitterung des Marktes und der Vielzahl von Systemen entgegenwirken“ (3). Neustes Projekt ist der Aufbau eines europäischen Luftverteidigungsschilds, denn man benötigt „gemeinsame Projekte, um die Fragmentierung der europäischen Rüstungsindustrie zu überwinden“ (4).
Aber auch diesem politischen Interesse besonders der europäischen NATO-Staaten stehen die privaten Interessen der Rüstungsunternehmen gegenüber. Viele nationale Waffenhersteller, wie zum Beispiel die Panzerproduzenten KNDS und Rheinmetall, sind im europäischen Rahmen und auf dem Weltmarkt Konkurrenten.
Wenn es um Zusammenschlüsse geht, wollen sie sich nicht von anderen Herstellern in die Karten schauen lassen, was Produktionsverfahren, technische Lösungen und sonstige Konkurrenzvorteile angeht.
„Das Panzervorhaben ist eines von etlichen lahmenden deutsch-französischen Rüstungsprojekten“ (5), das Opfer der Eigeninteressen des privaten Unternehmertums und seiner Renditeerwartungen wurde. Das hatte sich sogar auf das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich übertragen. In Paris war man darüber verstimmt, „dass Deutschland Milliarden-Einkäufe für seine Streitkräfte in den Vereinigten Staaten tätigt“ (6). Dabei handelt es sich um die Anschaffung amerikanischer F-35-Kampfflugzeuge in Höhe von etwa 10 Milliarden Euro. Diese Summe hätte Frankreich lieber in französische Rafale investiert gesehen.
Um solchen nationalen Empfindlichkeiten ein Ende zu machen, hatte sich noch vor der Europawahl Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für eine europäische Verteidigungsunion unter Leitung eines allein für Rüstungsfragen zuständigen Kommissars stark gemacht. Denn „Standardisierung, gemeinsame Fertigung und Beschaffung sind Aufgaben, die in der EU gemeinsam besser gelöst werden können als einzeln in den Mitgliedsstaaten“ (7).
Doch auch hier ist wieder das Privatinteresse der Hersteller die große Hürde, die übersprungen werden muss. Um den Waffenschmieden eine gemeinsame Produktion im Sinne einer gesamteuropäischen Politik schmackhaft zu machen, sollen ihnen lukrative Angebote gemacht werden. Dazu soll ein neuer europäischer Rechtsrahmen geschaffen werden, das sogenannte Europäische Rüstungsprogramm.
Mehr Europa
Ziel dieses Vorhabens ist, mindestens drei EU-Staaten in gemeinsame Rüstungsprojekte einzubinden. Dazu sollen die Vorschriften für die Auftragsvergabe vereinfacht und die Regelungen für Waffenexporte erleichtert werden. Denn mehr Waffenexporte erhöhen die Produktionsziele der Unternehmen und damit deren Gewinnaussichten. Unter diesen Bedingungen erzielbare niedrigere Stückpreise verbessern die Stellung europäischer Waffenhersteller auf dem Weltmarkt.
Darüber hinaus winken europäische Fördermittel und eine Senkung der Mehrwertsteuer für die an gemeinsamen Projekten beteiligten Unternehmen. Die EU-Kommission will zudem den Umbau der Lieferketten unterstützen, womit vermutlich die Ausgliederung chinesischer Produkte gemeint sein dürfte. Auch eine Vorzugsregelung für die militärische Produktion soll eingeführt werden. Das bezieht sich vermutlich auf die Förderung solcher Vorhaben durch die Europäische Investitionsbank (EIB), die bisher nur zivile Investitionen fördern durfte oder in Ausnahmefällen solche mit militärisch-ziviler Nutzung (dual-use).
Der französische Kommissar für Wirtschaftsförderung in der EU, Thierry Breton, der bisher noch zuständig ist für Waffengeschäfte im Rahmen des europäischen Friedensfonds, hat für den Aufbau einer gesamteuropäischen Rüstungsindustrie bereits eine Zahl ins Spiel gebracht. Er wünscht sich einen „mit 100 Milliarden Euro ausgestatteten Fond, mit dem die Staaten in großem Stil in Europa Waffen kaufen könnten“ (8), europäische Waffen statt EU-fremder.
Aber selbst wenn es den Europäern gelingt, eine leistungs- und damit konkurrenzfähigere Rüstungsindustrie aufzubauen, ist das Kernproblem gegenüber den strategischen Gegnern Russland und China damit nicht gelöst: Das ist die Kampfbereitschaft der eigenen Bevölkerung.
Die Mehrheit der Europäer will keinen Krieg mit Russland, und es ist ihnen vermutlich schwer verständlich zu machen, inwiefern sie im Baltikum oder in der Ukraine durch Russland bedroht sein sollen.
Auch wenn die westlichen Meinungsmacher nicht müde werden, die russische Bedrohung an die Wand zu malen, so ist doch vielen Menschen im politischen Westen bewusst, dass sich Russland bis 2022 keinen Millimeter nach Westen bewegt hatte. Dagegen hatte sich die NATO in mehreren Erweiterungsrunden immer näher an die russischen Grenzen herangeschoben. Noch schwieriger dürfte es sein, sowohl Europäern als auch Amerikanern zu erklären, inwiefern sie Tausende Kilometer entfernt im südchinesischen Meer bedroht sein sollen.